ER LÄNDER. VEREINIGT
ICH I
LENIN
WERKE
25
HERAUSGEGEBEN AUF BESCHLUSS
DES IX. PARTEITAGES DER KPR(B) UND DES
II. SOWJETKONGRESSES DER UdSSR
DIE DEUTSCHE AUSGABE ERSCHEINT
AUF BESCHLUSS DES ZENTRALKOMITEES
DER SOZIALISTISCHEN EINHEITSPARTEI
DEUTSCHLANDS
INSTITUT FÜR MARXISMUS-LENINISMUS BEIM ZK DER KPdSU
WI.LENIN
WERKE
INS DEUTSCHE ÜBERTRAGEN
NACH DER VIERTEN RUSSISCHEN AUSGABE
DIE DEUTSCHE AUSGABE
WIRD VOM INSTITUT FÜR MARXISMUS-LENINISMUS
BEIM ZENTRALKOMITEE DER SED BESORGT
(ff
DIETZ VERLAG BERLIN
1974
WI.LENIN
BAND 25
JUNI-SEPTEMBER 1917
(ff
DIETZ VERLAG BERLIN
1974
VORWORT
Der Band 25 enthält die Arbeiten, die W. I. Lenin von Juni bis Septem-
ber. 1917, in der Periode der Vorbereitung der Großen Sozialistischen
Oktoberrevolution, geschrieben bat.
Der Band beginnt mit den Reden W. I. Lenins auf dem I. Gesamtrus-
sischen Kongreß der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten. In
diesen Reden wie auch in den Artikeln „In Verwirrung und Angst ge-
raten“, „Eine widerspruchsvolle Position“, „Der achtzehnte Juni", „Die
Revolution, die Offensive und unsere Partei“, „Wohin haben die Sozial-
revolutionäre und die Menschewiki die Revolution gebracht?“ und „Die
Klassenverschiebung“ entlarvt Lenin die konterrevolutionäre Politik der
Provisorischen Regierung und das Paktierertum der Menschewiki und So-
zialrevolutionäre, begründet er das bolschewistische Kampfprogramm zur
Lösung der Grundfragen der Revolution und weist nach, daß nur die
Sowjetmacht das Land aus dem Krieg und der Zerrüttung herausführen,
den Frieden erlangen und den Bauern Land geben kann.
In einer Reihe von Artikeln: „Die politische Lage“, „Zu den Losun-
gen“, „Über Verfassungsillusionen“ und „Die Lehren der Revolution“
umreißt Lenin die neue Taktik der bolschewistischen Partei im Hinblick
auf die nach den Ereignissen vom 3. bis 5. Juli jäh veränderte politische
Lage im Lande.
In der Arbeit „Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen
soll“ legt Lenin die ökonomische Plattform der bolschewistischen Partei
dar und schlußfolgert, daß das einzige Mittel zur Rettung des Landes
vor der herannahenden Katastrophe die proletarische Revolution ist.
Der Band enthält die bekannte Arbeit „Staat und Revolution“, in der
VIII
Vorwort
Lenin die marxistische Theorie vom Staat entwickelte und sie gegen die
Entstellung und Vulgarisierung durch die Opportunisten verteidigte.
In den Band wurden sieben Artikel, die bisher in den Werken W. I.
Lenins nicht enthalten waren, aufgenommen. In den Artikeln „Ein Bünd-
nis, um die Revolution aufzuhalten“, „Die Außenpolitik der russischen
Revolution“ und „Herrschende und verantwortliche Parteien“ erläutert
Lenin, daß in Gestalt der Provisorischen Regierung die Kapitalisten mit
den Menschewiki und Sozialrevolutionären ein Bündnis zur Liquidierung
der Revolution eingegangen sind, daß die regierenden paktiererischen
Parteien an der konterrevolutionären Außen- und Innenpolitik und an
der das Land bedrohenden Katastrophe schuld sind. In dem Artikel „Wie
sich Rodsjanko rechtfertigt“ weist Lenin nach, daß der ehemalige Vor-
sitzende der IV. Reichsduma, Rodsjanko, den Lockspitzel Malinowski ge-
deckt hat. In den Artikeln „Eine neue Dreyfus-Affäre?“ und „Wofür wir
dem Fürsten G. J. Lwow dankbar sind“ entlarvt Lenin die provokatori-
schen Methoden der Regierung Kerenski im Kampf gegen die Bolsche-
wiki. In dem Artikel „Alle Macht den Sowjets 1“ begründet Lenin die
Losung der bolschewistischen Partei vom Übergang der gesamten Staats-
macht in die Hände der Sowjets.
Alle Arbeiten dieses Bandes aus der Periode nach den Julitagen 1917
wurden von Lenin in der Illegalität geschrieben, als er sich vor den Ver-
folgungen der Provisorischen Regierung verbergen mußte.
I. GESAMTRUSSISCHER KONGRESS
DER SOWJETS DER ARBEITER- UND
SOLDATENDEPUTIERTEN 1
3.-24. Juni (16. Juni-7. Juli) 1917
REDE OBER DIE STELLUNG
ZUR PROVISORISCHEN REGIERUNG
4. (17.) JUNI
Genossen, in der mir eingeräumten beschränkten Redezeit werde ich -
und idi denke, daß das am zweckmäßigsten ist - nur auf die wesentlichen
grundsätzlichen Fragen eingehen können, die der Referent des Exekutiv-
komitees und die Redner nach ihm aufgeworfen haben.
Die erste und grundlegende Frage, vor der wir stehen, ist die Frage:
Wo befinden wir uns, was sind diese Sowjets, die jetzt zum Gesamt-
russischen Kongreß zusammengetreten sind, was ist diese revolutionäre
Demokratie, von der man hier so maßlos viel spricht, um zu vertuschen,
daß man sie überhaupt nicht, begreift, daß man sie restlos preisgibt. Denn
vor dem Gesamtrussischen Kongreß der Sowjets von revolutionärer De-
mokratie zu sprechen und das Wesen dieser Körperschaft, ihre klassen-
mäßige Zusammensetzung und ihre Bedeutung in der Revolution zu ver-
tuschen, kein Sterbenswörtchen davon zu sagen, gleichzeitig aber auf die
Bezeichnung Demokrat Anspruch zu erheben, das ist sonderbar. Man
entwirft uns das Programm einer bürgerlichen parlamentarischen Repu-
blik, wie sie seit jeher in ganz Westeuropa anzutreffen ist, man malt uns
ein Programm von Reformen aus, die jetzt von allen bürgerlichen Regie-
rungen, auch von unserer, anerkannt werden, und gleichzeitig redet man
von revolutionärer Demokratie. Wem wird das gesagt? Den Sowjets. Nun
aber frage ich Sie, gibt es in Europa ein Land, ein bürgerliches, demo-
kratisches, republikanisches Land, in dem etwas vorhanden wäre, was
diesen Sowjets gleicht? Sie werden darauf mit Nein antworten müs-
sen. Nirgends existiert, nirgends kann eine derartige Körperschaft existie-
ren, denn eins von beiden : entweder eine bürgerliche Regierung mit
jenen Reform„plänen“, die man uns entwirft und die dutzendemal in
allen Ländern vorgeschlagen wurden und auf dem Papier geblieben sind.
W. I. Lenin
o der jene Körperschaft, an die man jetzt appelliert, jene „Regierung“
neuen Typs, die von der Revolution geschaffen wurde und für die es in
der Geschichte nur zu Zeiten des größten Aufschwungs der Revolutionen
Beispiele gibt, wie 1792 und 1871 in Frankreich und 1905 in Rußland.
Die Sowjets sind eine Körperschaft, wie sie in keinem der üblichen bür-
gerlich-parlamentarischen Staaten besteht und neben einer bürgerlichen
Regierung auch nicht bestehen kann. Sie sind jener neue, demokratischere
Staatstyp, den wir in unseren Parteiresolutionen als bäuerlich-proleta-
rische demokratische Republik bezeichnet haben, in der die Macht allein
den Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten gehören wird. Zu
Unrecht glaubt man, das sei eine theoretische. Frage, zu Unrecht versucht
man, die Sache so darzustellen, als könne diese Frage umgangen werden,
zu Unrecht wird eingewendet, daß jetzt Institutionen der einen oder
anderen Art neben den Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten
bestehen. Jawohl, sie bestehen nebeneinander. Aber gerade das erzeugt
eine Unmenge von Mißverständnissen, Konflikten und Reibungen. Gerade
das bewirkt den Übergang der russischen Revolution von ihrem ersten
Aufschwung, ihrem ersten Vorstoß zum Stillstand und zu den Schritten
rückwärts, die wir jetzt unsere Koalitionsregierung machen sehen: in der
gesamten Innen- und Außenpolitik und im Zusammenhang mit der in
Vorbereitung befindlichen imperialistischen Offensive.
Eins von beiden : entweder eine übliche bürgerliche Regierung, und dann
braucht man keine Bauern-, Arbeiter-, Soldaten- und sonstigen Sowjets,
dann werden sie entweder von den Generälen, den konterrevolutionären
Generalen, auseinandergejagt, die die Armee in der Hand haben und
den Redekünsten des Ministers Kerenski nicht die geringste Beachtung
schenken, oder sie sterben eines rühmlosen Todes. Einen anderen Weg
gibt es für diese Körperschaften nicht; sie dürfen weder rückwärts-
gehen noch stehenbleiben und können nur existieren, wenn sie vorwärts-
schreiten. Das ist der Staatstyp, der nicht von den Russen erdacht, son-
dern von der Revolution hervorgebracht wurde," denn anders kann die
Revolution nicht siegen. Innerhalb des Gesamtrussischen Sowjets sind
Reibungen, ist der Kampf der Parteien um die Macht unvermeidlich.
Doch das wird die Überwindung möglicher Fehler und Illusionen durch
die eigene politische Erfahrung der Massen bedeuten (L ä r m), nicht aber
durch die Reden der Minister, die sich darauf berufen, was sie gestern
gesagt haben, morgen schreiben und übermorgen versprechen werden.
Das ist lachhaft. Genossen, vom Standpunkt der Körperschaft, die von
der russischen Revolution geschaffen wurde und die jetzt vor der Frage
steht: Sein oder Nichtsein. So wie jetzt können die Sowjets nicht weiter-
bestehen. Erwachsene Menschen, Arbeiter und Bauern, sollen Zusammen-
kommen, Resolutionen annehmen und Berichte anhören, die in keiner
Weise an Hand von Dokumenten nachgeprüft werden können! Körper-
schaften solcher Art bedeuten den Übergang zu jener Republik, die nicht
in Worten, sondern in der Praxis eine feste Macht schaffen wird, ohne
Polizei und ohne stehendes Heer, eine Macht, wie sie in Westeuropa
noch nicht existieren kann, eine Macht, ohne die es keinen Sieg der russi-
schen Revolution im Sinne des Sieges über die Gutsbesitzer, im Sinne des
Sieges über den Imperialismus geben kann.
Ohne diese Macht kann auch keine Rede davon sein, daß wir selbst
einen solchen Sieg erringen, und je mehr wir einerseits über das uns hier
empfohlene Programm und anderseits über die Tatsachen, vor denen wir
stehen,- nachdenken, um so krasser tritt der grundlegende Widerspruch
hervor. Man sagt uns, wie der Referent und andere Redner,, daß die erste
Provisorische Regierung eben schlecht gewesen ist! Damals aber, als die
Bolschewiki, die unseligen Bolschewiki, erklärten: „Dieser Regierung kei-
nerlei Unterstützung, keinerlei Vertrauen“, wie wurden wir da mit Be-
schuldigungen überhäuft, das sei „Anarchismus“! Jetzt sagen alle, daß die
vorige Regierung schlecht gewesen ist, aber sehen wir uns doch die Ko-
alitionsregierung mit den beinah-sozialistischen Ministem an, worin
unterscheidet sie sich von der vorhergehenden? Ist nicht schon genug von
Programmen, von Entwürfen geredet worden, ist. es nicht wirklich genug,
ist es nicht an der Zeit, zu Taten überzugehen? Ein Monat ist bereits
seit dem 6. Mai, an dem die Koalitionsregierung gebildet wurde, ver-
gangen. Sehen Sie sich an. was vorgeht, sehen Sie sich die Zerrüttung in
Rußland und in allen Ländern ari, die in den imperialistischen Krieg hin-
eingezogen worden, sind. Woraus erklärt sich die Zerrüttung? Aus der
Raubpolitik der Kapitalisten. Da herrscht wirkliche Anarchie. Das sage ich
nach Eingeständnissen, die nicht etwa von unserer Zeitung veröffentlicht
wurden, nicht von einer bolschewistischen Zeitung, Gott bewahre, son-
dern von der ministeriellen „Rabotschaja Gaseta“ 2 : Die Industriepreise
für Kohlenlieferungen sind von der „revolutionären“ Regierung her-
W. I. Lenin
aufgesetzt worden ! ! Die Koalitionsregierung aber hat in dieser Hin-
sicht nichts geändert. Man sagt uns, kann man denn in Rußland den Sozia-
lismus einführen, kann man überhaupt mit einem Schlag grundlegende
Umgestaltungen vornehmen - das alles sind leere Ausflüchte, Genossen.
Marx und Engels haben von ihrer Lehre immer gesagt. „Unsere Lehre
ist kein Dogma, sondern eine Anleitung zum Handeln.“ 3 Einen reinen
Kapitalismus, der in einen reinen Sozialismus übergeht, gibt es nirgends
in der Welt und kann es auch während des Krieges nicht geben, aber es
gibt etwas Mittleres, Neues, noch nie Dagewesenes, weil Hunderte Mil-
lionen Menschen zugrunde gehen, dje in den verbrecherischen Krieg zwi-
schen den Kapitalisten hineingerissen worden sind. Es kommt nicht auf
Reformversprechüngen an, das sind leere Worte, es kommt darauf an,
den Schritt zu tun, der jetzt notwendig ist.
Wenn Sie sich auf die , revolutionäre “ Demokratie berufen
wollen, so machen Sie bitte einen Unterschied zwischen diesem Begriff und
dem detr efortnis tischen Demokratie unter einer kapitalistischen
Regierung, denn es ist endlich an der Zeit, von bloßen Redensarten über
„revolutionäre Demokratie“, von gegenseitigen Beglückwünschungen zur
„revolutionären Demokratie“, zu der Charakterisierung ihres Klassen-
inhalts überzugehen, wie es uns der Marxismus, ja überhaupt der wissen-
schaftliche Sozialismus gelehrt hat. Was man uns vorschlägt, ist der Über-
gang zur reformistischen Demokratie unter einer kapitalistischen Regie-
rung. Das ist vielleicht großartig vom Standpunkt der üblichen westeuro-
päischen Vorbilder. Doch jetzt steht eine ganze Reihe von Ländern vor
dem Untergang, und die praktischen Maßnahmen, die so kompliziert sein
sollen, daß es schwer sei, sie durchzuführen, daß sie besonders ausge-
arbeitet werden müßten, wie mein Vorredner, der Bürger Minister für
Post- und Telegrafenwesen, gesagt hat, diese Maßnahmen sind durchaus
klar. Er sagte, es gäbe in Rußland keine politische Partei, die sich bereit
erklären wurde, die gesamte Macht zu übernehmen. Ich antworte: Doch!
Keine einzige Partei kann das ablehnen, und unsere Partei lehnt das nicht
ab: sie ist jeden Augenblick bereit, die gesamte Macht zu übernehmen.
(Beifall, H e i t e r k e i t) Sie können lachen, soviel Sie wollen, falls
aber der Bürger Minister neben der Partei der Rechten auch uns diese
Frage stellte, würde er die entsprechende Antwort erhalten. Keine einzige
Partei kann das ablehnen. Zu einer Zeit, wo einstweilen noch Freiheit
1. Gesamtrussischer Somjetkongreß 7
herrscht, wo vorläufig die Drohungen mit Verhaftung und Verschik-
kung nach Sibirien, die Drohungen der Konterrevolutionäre, mit denen
unsere beinah-sozialistischen Minister in einem Kabinett sitzen, nur Dro-
hungen bleiben, zu solch einer Zeit sagt jede Partei: Erweist uns Ver-
trauen, und wir legen euch unser Programm vor.
Am 29. April hat unsere Konferenz dieses Programm dargelegt. 4 Lei-
der wird es nicht berücksichtigt und nicht zur Richtschnur genommen.
Offenbar muß es gemeinverständlich erläutert werden. Ich werde mich
bemühen, dem Bürger Minister für Post- und Telegrafenwesen eine ge-
meinverständliche Erläuterung unserer Resolution, unseres Programms
zu geben. Unser Programm besteht in bezug auf die Wirtschaftskrise dar-
in, daß wir unverzüglich - dazu ist keinerlei Aufschub nötig - die Ver-
öffentlichung all der unglaublichen Profite fordern, die 500-800 Prozent
erreichen und die die Kapitalisten nicht als Kapitalisten auf dem freien
Markt, im „reinen“ Kapitalismus, sondern durch Kriegslieferungen ein-
streichen. Das ist in der Tat ein Gebiet, wo die Arbeiterkontrolle not-
wendig und möglich ist. Das ist eine Maßnahme, die Sie, wenn Sie sich
als „revolutionäre“ Demokratie bezeichnen, im Namen des Sowjets durch-
führen müssen und die von heute auf morgen verwirklicht werden kann.
Das ist nicht Sozialismus. Das bedeutet nur, dem Volke die Augen zu
öffnen über die tatsächliche Anarchie und das tatsächliche Spiel mit dem
Imperialismus, über das Spiel mit dem Eigentum des Volkes, mit Hun-
derttausenden von Menschenleben, die morgen zugrunde gehen werden,
weil wir fortfahren, Griechenland die Kehle zuzuschnüren. Geben Sie die
Profite der Herren Kapitalisten bekannt, verhaften Sie 50 oder 100 der
reichsten Millionäre. Es genügt, sie einige Wochen in Haft zu halten -
und sei es auch mit ebensolchen Vergünstigungen, wie sie Nikolaus
Romanow genießt -, einfach um sie so zu zwingen, ihre Verbindungen,
ihre betrügerischen Machenschaften, ihre schmutzigen Geschäfte und ihre
Profite aufzudecken, was auch unter der neuen Regierung unserem Lande
täglich Tausende, ja Millionen kostet. Hier liegt die Hauptursache der
Anarchie und Zerrüttung, und deshalb sagen wir: Bei uns ist alles beim
alten geblieben, die Koalitionsregierung hat nichts geändert, sie hat nur
einen Haufen Deklarationen, hochtrabende Erklärungen hinzugefügt.
Wie aufrichtig man auch sein, wie aufrichtig man auch das Wohl der
Werktätigen wünschen möge, an der Sache hat sich nichts geändert -
W.I. Lettin
dieselbe Klasse ist an der Macht geblieben. Die Politik, die man
betreibt, ist keine demokratische Politik.
Man redet von der „Demokratisierung der zentralen und örtlichen
Machtorgane“. Wissen Sie denn wirklich nicht, daß diese Worte nur für
Rußland etwas Neues sind, daß in anderen Ländern schon Dutzende
beinah-sozialistischer Minister ihren Ländern derartige Versprechungen
machten? Welchen Sinn haben diese Versprechungen, wenn wir im prak-
tischen Leben vor folgender konkreten Tatsache stehen : die örtliche Be-
völkerung wählt ihre Machtorgane, doch durch den Anspruch der Zen-
tralgewalt, die örtlichen Machtorgane einzusetzen oder zu bestätigen,
wird das Abc der Demokratie verletzt. Die Plünderung des Volksver-
mögens durch die Kapitalisten geht weiter. Der imperialistische Krieg
wird fortgesetzt. Uns aber verspricht man Reformen, Reformen und
Reformen, die in diesem Rahmen überhaupt nicht verwirklicht werden
können, weil der Krieg alles erdrückt, alles bestimmt. Warum sind Sie
nicht mit denen einverstanden, die sagen, der Krieg werde nicht um
der Profite der Kapitalisten willen geführt? Worin besteht das Krite-
rium? Vor allen Dingen darin, welche Klasse an der Macht ist, welche
Klasse fortfährt, die Herrschaft auszuüben, welche Klasse fortfährt,
Hunderte Milliarden aus Bank- und Finanzoperationen einzuheimsen. Es
ist immer noch dieselbe kapitalistische Klasse, und deshalb ist der Krieg
nach wie vor ein imperialistischer Krieg. Sowohl die erste Provisorische
Regierung als auch die Regierung mit den beinah-sozialistischen Ministem
hat daran nichts geändert: die Geheimverträge bleiben geheim, Rußland
kämpft um die Meerengen, dämm, die Ljachowsche Politik in Persien 5
fortsetzen zu können, usw.
Ich weiß, daß Sie das nicht wollen, daß die Mehrheit von Ihnen das
nicht will und daß die Minister das nicht wollen, weil man das nicht wol-
len kann, denn das bedeutet, Hunderte Millionen von Menschen hinzu-
morden. Nehmen Sie aber die Offensive, von der die Miljukow und
Maklakow. jetzt so viel reden. Diese verstehen sehr gut, worum es sich
handelt; sie wissen, daß das mit der Frage der Macht, mit der Frage der
Revolution zusammenhängt. Man sagt uns, man müsse zwischen politi-
schen und strategischen Fragen unterscheiden. Es ist lachhaft, eine solche
Frage auch nur zu stellen. Die Kadetten verstehen. ausgezeichnet, daß es
um eine politische Frage geht.
Daß der revolutionäre Kampf um den Frieden von unten, der begon-
nen hat, zu einem Separatfrieden führen könnte, ist eine Verleumdung.
Wenn wir die Macht hätten, wäre unser erster Schritt, die reichsten
Kapitalisten zu verhaften und das ganze Netz ihrer Intrigen zu zerreißen.
Ohne diesen Schritt sind alle Redensarten von einem Frieden ohne An-
nexionen und Kontributionen leere Worte. Unser zweiter Schritt wäre,
den Völkern, getrennt von den Regierungen, zu erklären, daß wir alle
Kapitalisten für Räuber halten, auch Teresditsdienko, der um kein Haar
besser ist als Miljukow, nur ist dieser etwas dümmer, auch die franzö-
sischen und die englischen und alle anderen Kapitalisten.
In Ihrer eigenen Zeitung, den „Iswestija“ 6 , hat man sich verrannt und
schlägt statt eines Friedens ohne Annexionen und Kontributionen vor, es
beim Status quo* zu belassen. Nein, so fassen wir den Frieden „ohne
Annexionen“ nicht auf. Sogar der Bauernkongreß 7 kommt hier der Wahr-
heit näher, da er von einer „föderativen“ Republik spricht und so den
Gedanken zum Ausdruck bringt, daß die russische'Republik kein einziges
Volk unterdrücken will, weder auf neue noch auf alte Art, daß sie mit
keinem Volk auf der Grundlage der Gewalt Zusammenleben will, weder
mit Finnland noch mit der Ukraine, denen der Kriegsminister so zusetzt,
mit denen ungehörige und unzulässige Konflikte vom Zaun gebrochen wer-
den. Wir wollen eine einheitliche und unteilbare Republik Rußland mit
einer starken Staatsmacht, aber eine starke Staatsmacht kann nur durch
freiwillige Übereinkunft der Völker geschaffen werden. „Revolutionäre
Demokratie" - das sind große Worte, sie werden aber für eine Regierung
gebraucht, welche durch kleinliche Schikanen die Frage der Ukraine
und Finnlands kompliziert, die sich gar nicht lostrennen wollen, son-
dern nur sagen: Schiebt doch die Anwendung der elementarsten
Grundsätze der Demokratie nicht bis zur Konstituierenden Versamm-
lung auf!
Ein Frieden ohne Annexionen und Kontributionen kann nicht geschlos-
sen werden, solange Sie nicht auf Ihre eigenen Annexionen verzichten.
Das ist doch lächerlich, das sind Possen, darüber lacht in Europa jeder
Arbeiter; er sagt: Sie führen schöne Worte im Munde, sie rufen die
Völker auf, die Bankiers zu stürzen, aber selbst schicken sie ihre ein-
heimischen Bankiers in die Regierung. Verhaften Sie die Bankiers, decken
* Der bestehende Zustand, hier der Vorkriegszustand. Die Red.
10
W. I. Lenin
Sie ihre Machenschaften auf, enthüllen Sie ihre Verbindungen - das aber
tun Sie nicht, obwohl Sie machtvolle Organisationen haben, gegen die
ein Widerstand unmöglich ist. Sie haben die Jahre 1905 und 1917 er-
lebt, Sie wissen, daß Revolutionen nicht auf Bestellung gemacht werden,
daß die Revolutionen in anderen Ländern auf dem schweren, blutigen
Weg von Aufständen vollzogen wurden; aber in Rußland gibt es keine
Gruppe, keine Klasse, die sich der Macht der Sowjets widersetzen könnte.
In Rußland ist diese Revolution ausnahmsweise als friedliche Revolution
möglich. Wenn diese Revolution heute oder morgen unter Voraussetzung
des Bruches mit allen Kapitalistenklassen allen Völkern den Frieden an-
böte, so würden innerhalb kürzester Frist die Völker sowohl Frankreichs
als auch Deutschlands ihre Zustimmung geben, weil diese Länder zu-
grunde gehen, weil die Lage Deutschlands hoffnungslos ist, weil es keine
Rettung.für Deutschland gibt und weil Frankreich . . .
(Vorsitzender: „Ihre Redezeit ist abgelaufen.“)
Ich schließe in einer halben Minute — (Lärm, Zurufe: „Wei-
tersprechen“, Widerspruch, Beifall.)
(Vorsitzender: „Ich teile dem Kongreß mit, daß das Präsidium
vorschlägt, die Redezeit des Redners zu verlängern. Werden Einwände
dagegen erhoben? Die Mehrheit ist für die Verlängerung der Rede-
zeit.“)
Ich war dabei stehengeblieben, daß die revolutionäre Demokratie in
Rußland, wenn sie eine Demokratie nicht in Worten, sondern in der Tat
wäre, dazu überginge, die Revolution vorwärtszutreiben, statt mit den
Kapitalisten gemeinsame Sache zu machen, daß sie, statt vom Frieden
ohne Annexionen und Kontributionen zu reden, dazu überginge, die
Annexionen Rußlands aufzuheben und unumwunden zu erklären, daß
sie jede Annexion für ein Verbrechen und einen Raub hält. Dann wäre
es möglich, die imperialistische Offensive zu vermeiden, die um der Auf-
teilung Persiens und des Balkans willen Tausende und Millionen von
Menschen mit dem Untergang bedroht. Dann wäre der Weg zum Frie-
den offen, kein einfacher Weg - das behaupten wir nicht -, es ist ein
Weg, der einen wirklich revolutionären Krieg nicht ausschließt.
Wir stellen diese Frage nicht so, wie sie Basarow heute in der „Nowaja
Shisn“ 8 stellt; wir sagen nur, Rußland befindet sich in einer Situation,
die es mit sich bringt, daß seine Aufgaben am Ende des imperialistischen
I. Gesamtrussischer Somjetkongreß
Krieges leichter sind, als es scheinen könnte. Die geographische Lage
Rußlands ist derart, daß die Mächte, die es wagen sollten, gestützt auf
das Kapital und seine räuberischen Interessen, gegen die russische Ar-
beiterklasse und das sich ihr anschließende Halbproletariat, d. h. die
arme Bauernschaft, vorzugehen, daß diese Mächte, wenn sie sich darauf
einließen, vor einer äußerst schwierigen Aufgabe stünden. Deutschland
steht am Rande der Katastrophe, und nach dem Eingreifen Amerikas,
das sich Mexiko einverleiben will und das morgen wahrscheinlich gegen
Japan den Kampf aufnehmen wird, nach diesem Eingreifen Amerikas
ist Deutschlands Lage hoffnungslos, man wird es vernichten. Frankreichs
geographische Lage ist so, daß es von allen Völkern das meiste auszu-
stehen hat und jetzt, bis zum äußersten erschöpft ist; es hungert we-
niger als Deutschland, hat aber unermeßlich viel mehr Menschen ver-
loren als Deutschland. Wenn Sie also von Anfang an damit begonnen
hätten, die Profite der russischen Kapitalisten zu beschneiden, ihnen
jede Möglichkeit genommen hätten, Hundertmillionengewinne einzu-
heimsen, wenn Sie allen Völkern den Frieden gegen die Kapitalisten
aller Länder angeboten und dabei offen erklärt hätten, daß Sie mit
den deutschen Kapitalisten und mit denen, die sie direkt oder indirekt
ermuntern oder sich mit ihnen einlassen, in keine Verhandlungen ein-
treten und keine Beziehungen anknüpfen werden, daß Sie es ablehnen,
mit den französischen und englischen Kapitalisten zu verhandeln - dann
wären Sie als Ankläger der Kapitalisten vor den Arbeitern aufgetreten.
Dann würden Sie es nicht als Sieg betrachten, daß man MacDonald
einen Paß gegeben hat 9 , MacDonald, der nie einen revolutionären Kampf
gegen das Kapital geführt hat und den man reisen läßt, weil er weder
die Ideen noch die Grundsätze, weder die Praxis noch die Lehren des
revolutionären Kampfes gegen die englischen Kapitalisten vertreten hat,
um dessentwillen unser Genosse Maclean und Hunderte anderer eng-
lischer Sozialisten in den Gefängnissen sitzen und weswegen unser Ge-
nosse Liebknecht im Zuchthaus schmachtet, weil er gesagt hat; „Deutsche
Soldaten, kehrt die Waffen gegen euren Kaiser.“
Wäre es nicht richtiger, die imperialistischen Kapitalisten in jenes
gleiche Zuchthaus zu stecken, das die Mehrheit der Mitglieder der Pro-
visorischen Regierung in der eigens dafür wiederhergestellten dritten
Duma - ich weiß übrigens nicht, die wievielte es ist, die dritte oder
12
vierte - uns täglich verheißt und für uns vorbereitet, worüber im Justiz-
ministerium bereits neue Gesetzentwürfe geschrieben werden? Maclean
und Liebknecht - das sind die Namen der Sozialisten, die den Gedanken
des revolutionären Kampfes gegen den Imperialismus in die Tat Um-
setzen. Das muß man allen Regierungen sagen, will man für den Frieden
kämpfen, muß man die Regierungen vor den Völkern anklagen. Dann
werden Sie alle imperialistischen Regierungen in eine schwierige Lage
bringen. Jetzt aber sind Sie in eine schwierige Lage geraten, da Sie sich
an die Völker mit dem Friedensaufruf vom 14. März 10 gewandt haben,
in dem es heißt: „Stürzt eure Zaren, eure Könige und eure Bankiers“,
während wir, die wir über eine an Zahl, an Erfahrung und materieller
Kraft so unerhört reiche Organisation verfügen wie den Sowjet der Ar-
beiter- und Soldatendeputierten, uns mit unseren Bankiers zu einem
Block zusammentun, eine beinah-sozialistische Koalitionsregierung bilden
und Reformentwürfe schreiben, wie sie in Europa Jahrzehnte um Jahr-
zehnte hindurch geschrieben worden sind. Dort, in Europa, lacht man
über einen derartigen Kampf für den Frieden. Dort wird man ihn erst
dann verstehen, wenn die Sowjets die Macht ergreifen und revolutionär
auftreten werden.
Nur ein Land in der Welt kann jetzt im Klassenmaßstab gegen die
Kapitalisten ohne blutige Revolution Schritte zur Beendigung des impe-
rialistischen Krieges unternehmen, nur ein Land, und dieses Land ist Ruß-
land. Dieses Land wird Rußland bleiben, solange der Sowjet der Arbei-
ter- und Soldatendeputierten besteht. Lange wird er neben der Provi-
sorischen Regierung, einer Regierung der üblichen Art, nicht bestehen
können. Er wird in seinem jetzigen Zustand nur so lange weiterbestehen,
solange der Übergang zur Offensive nicht erfolgt. Dieser Übergang zur
Offensive bedeutet eine Wende in der gesamten Politik der russischen
Revolution, d. h. den Übergang von der Hoffnung auf Frieden, von der
Vorbereitung des Friedens durch den revolutionären Aufstand von unten
zur Wiederaufnahme des Krieges. Der Übergang von der Verbrüderung
an einer Front zur Verbrüderung an allen Fronten, von der spontanen
Verbrüderung, bei der die Soldaten mit den hungernden deutschen Prole-
tariern ein Stück Brot gegen ein Federmesser austauschten, wofür man
ihnen mit dem Zuchthaus droht, zur bewußten Verbrüderung - das ist
der Weg, der sich abgezeichnet hat.
I. Gesamtrussischer Sowjetkongreß
13
Wenn wir die Macht in unsere Hände nehmen, werden wir den Kapita-
listen Zügel anlegen, und dann wird es nicht der Krieg sein, der
jetzt geführt wird, denn der Krieg wird dadurch bestimmt, welche Klasse
ihn führt, nicht aber durch das, was auf dem Papier steht. Auf Papier
kann man schreiben, was man will. Solange aber die Kapitalistenklasse in
der Regierung die Mehrheit hat, wird der Krieg, was Sie auch schreiben
mögen, welch schöne Reden auch gehalten werden, was für beinah-sozia-
Iistische Minister auch in der Regierung sein mögen - wird der Krieg ein
imperialistischer Krieg bleiben. Das Wissen und sehen alle. An den Bei-
spielen Albanien, Griechenland und Persien 11 hat sich das so klar und
anschaulich gezeigt, daß ich mich wundere, warum alle unsere schriftliche
Erklärung über die Offensive 12 angreifen und niemand ein Wort über
die konkreten Beispiele sagt! Projekte verheißen ist leicht, aber die kon-
kreten Maßnahmen werden immer wieder aufgeschoben. Eine Deklara-
tion über den Frieden ohne Annexionen zu schreiben ist leicht, aber die
Beispiele Albanien, Griechenland und Persien fallen doch in die Zeit
nach der Bildung der Koalitionsregierung. Hat doch das „Delo Na-
roda“ 13 , keine Zeitung unserer Partei, sondern eine Regierungszeitung,
das Organ der Minister, hierzu geschrieben, es sei eine Verhöhnung der
russischen Demokratie, daß man Griechenland die Kehle zuschnürt. Und
derselbe Miljukow, den Sie als Gott weiß wen hinstellen - er ist ein
einfaches Mitglied seiner Partei, Tereschtschenko unterscheidet sich in
nichts von ihm -, dieser Miljukow schrieb, daß die Ententediplomatie auf
Griechenland einen Druck ausgeübt hat. Der Krieg bleibt ein imperia-
listischer Krieg, und Sie mögen den Frieden noch so sehr wollen. Sie
mögen noch so aufrichtig mit den Werktätigen fühlen. Sie mögen noch so
ehrlich den Frieden herbeiwünschen - ich bin vollkommen davon über-
zeugt, daß der Wunsch nach Frieden bei den Massen nicht unaufrichtig
sein kann -, aber Sie sind machtlos, weil der Krieg nicht anders beendet
werden kann als durch die Weiterentwicklung der Revolution. Als in
Rußland die Revolution begann, da begann auch der revolutionäre Kampf
von unten um den Frieden. Wenn Sie die Macht in Ihre Hände genom-
men hätten, wenn die Macht von den revolutionären Organisationen er-
griffen worden wäre, um den Kampf gegen die russischen Kapitalisten
zu führen, dann hätten die Werktätigen der anderen Länder Ihnen ge-
glaubt, und Sie hätten den Frieden anbieten können. Dann wäre uns der
14
W. I. Lenin
Frieden gesichert, zumindest von zwei Seiten, von seiten zweier Völker,
die verbluten und deren Lage hoffnungslos ist, von seiten Deutschlands
und Frankreichs. Wenn uns dann die Umstände in die Situation eines
revolutionären Krieges versetzen sollten - das kann niemand wissen, und
wir stellen diese Möglichkeit nicht in Abrede -, so würden wir sagen:
„Wir sind keine Pazifisten, wir lehnen den Krieg nicht ab, wenn die revo-
lutionäre Klasse die Macht hat, wenn sie wirklich den Kapitalisten jeg-
lichen Einfluß auf die Führung der Geschäfte und die Möglichkeit ge-
nommen hat, die Zerrüttung zu vergrößern, die ihnen erlaubt, Hunderte
von Millionen einzuheimsen.“ Die revolutionäre Staatsmacht würde allen
Völkern ohne Ausnahme erklären und sagen, daß alle Völker frei sein
müssen, daß ebenso wie das deutsche Volk kein Recht hat, um den Besitz
von Elsaß-Lothringen Krieg zu führen, auch das französische Volk nicht
um seiner Kolonien willen Krieg führen darf. Denn wenn Frankreich
seiner Kolonien wegen Krieg führt, so besitzt Rußland an Chiwa und
Buchara auch eine Art von Kolonien, und dann fängt die Aufteilung der
Kolonien an. Wie aber soll man sie aufteilen, nach welchem Grundsatz?
Nach der Macht. Das Kräfteverhältnis hat sich aber geändert, die Lage der
Kapitalisten ist derart, daß es keinen anderen Ausweg gibt als den Krieg.
Wenn Sie die revolutionäre Macht ergreifen, dann wird Ihnen der revo-
lutionäre Weg zum Frieden offenstehen: Sie werden sich mit einem revo-
lutionären Aufruf an die Völker wenden und ihnen an Ihrem eigenen Bei-
spiel die Taktik erläutern können. Dann wird sich vor Ihnen der Weg
auftun, auf dem der Frieden auf revolutionäre Weise erkämpft wird,
wobei höchstwahrscheinlich der Untergang von Hunderttausenden von
Menschen vermieden werden kann. Dann können Sie überzeugt sein, daß
sich das deutsche und das französische Volk auf Ihre Seite stellen werden.
Selbst wenn die englischen, amerikanischen und japanischen Kapitalisten
den Krieg gegen die revolutionäre Arbeiterklasse wollten - deren Kräfte
sich verzehnfachen werden, sobald die Kapitalisten gezügelt, beiseite ge-
schoben sind und die Arbeiterklasse die Kontrolle übernommen hat -,
selbst wenn also die amerikanischen, englischen und japanischen Kapita-
listen den Krieg wollten, ist mit 99 Prozent Sicherheit anzunehmen, daß
sie außerstande sein werden, ihn zu führen. Es wird genügen, wenn Sie
erklären, daß Sie keine Pazifisten sind, daß Sie Ihre Republik, die Arbei-
terdemokratie, die proletarische Demokratie, gegen die deutschen, fran-
15
zösischen und sonstigen Kapitalisten verteidigen werden; das wird ge-
nügen, den Frieden zu gewährleisten.
Aus diesem Grunde haben wir unserer Erklärung über die Offensive
eine so grundlegende Bedeutung beigemessen. Wir sind an einem Wende-
punkt in der Geschichte der russischen Revolution angelangt. Die rus-
sische Revolution hatte zu Beginn von der imperialistischen Bourgeoisie
Englands Hilfe erhalten, die glaubte, Rußland sei eine Art China oder
Indien. Statt dessen sind neben der Regierung, in der jetzt die Guts-
besitzer und Kapitalisten die Mehrheit haben, die Sowjets entstanden,
eine Vertretungskörperschaft, wie sie die Welt so machtvoll noch nie ge-
sehen, noch nie erlebt hat. die Sie aber durch Ihre Teilnahme an der
Koalitionsregierung der Bourgeoisie zum Tode verurteilen. Statt dessen
hat die russische Revolution bewirkt, daß sich die Sympathien für den
von unten geführten revolutionären Kampf gegen die kapitalistischen
Regierungen überall, in allen Ländern verdreifacht haben. Die Frage steht
so: vorwärts- oder riidcwärtsgehen. Man kann in einer revolutionären
Zeit nicht auf ein und demselben Fleck stehenbleiben. Eben deshalb be-
deutet die Offensive eine Wende in der gesamten russischen Revolution,
nicht durch ihre strategische, sondern durch ihre politische und ökono-
mische Bedeutung. Die Offensive ist heute objektiv - unabhängig von
dem Willen oder den Erkenntnissen dieses oder jenes Ministers - die
Fortsetzung des imperialistischen Völkermordens, der Vernichtung von
Hunderttausenden, von Millionen Menschenleben um der Erdrosselung
Persiens und anderer schwacher Völker willen. Der Übergang der Macht
an das revolutionäre Proletariat, das von der armen Bauernschaft unter-
stützt wird, ist der Übergang zum revolutionären Kampf um den Frieden
in den sichersten und schmerzlosesten Formen, die die Menschheit je ge-
kannt hat, der Übergang dazu, daß die Macht und der Sieg der revolutio-
nären Arbeiter in Rußland und in der ganzen Welt gesichert werden.
(Beifall von einem Teil der Versammlung.)
Pramda " Nr. 82 und 83, Nach dem Text der „ Pramda ", ver-
28. und 29. (15. und 16.) Juni 1917. glichen mit dem von W. I. Lenin
korrigierten Stenogramm.
16
W. I. Lenin
REDE ÜBER DEN KRIEG
9.(22.) JUNI
Genossen, erlauben Sie mir, bei der Behandlung der Frage des Krieges
einleitend an zwei Stellen aus dem Aufruf an alle Völker zu erinnern,
der am 14. März vom Petrograder Sowjet der Arbeiter- und Soldaten-
deputierten veröffentlidit wurde. „Die Zeit ist gekommen“, heißt es in
diesem Aufruf, „den entschiedenen Kampf gegen die Eroberungsbestre-
bungen der Regierungen aller Länder zu beginnen. Es ist an der Zeit,
daß die Völker die Entscheidung über Krieg und Frieden in ihre eigenen
Hände nehmen.“ An einer anderen Stelle des Aufrufs, gerichtet an die
Proletarier der österreidiisch-deutschen Koalition heißt es: „Weigert
euch, als Werkzeug der Eroberung und Vergewaltigung in den Händen
der Könige, Gutsherren und Bankiers zu dienen.“ Das sind die zwei Stel-
len, die in verschiedenen Fassungen in Dutzenden, in Hunderten, ich
glaube sogar in Tausenden von Resolutionen der Arbeiter und Bauern
Rußlands wiederkehren.
Diese beiden Stellen zeigen meiner Ansicht nach am besten die wider-
spruchsvolle, unhaltbar verworrene Lage, in die die revolutionären Arbei-
ter und Bauern durch die gegenwärtige Politik der Menschewiki und
Volkstümler geraten sind. Einerseits sind sie für die Unterstützung des
Krieges, anderseits sind sie Angehörige von Klassen, die an den Erobe-
rungsbestrebungen der Regierungen aller Länder nicht interessiert sind,
und sie können nicht umhin, das auszusprechen. Diese Ideologie, diese
Denkweise, wie unklar sie auch sein mag, ist bei fast allen Arbeitern und
Bauern ungewöhnlich tief verwurzelt. Es ist das die Erkenntnis, daß der
Krieg um der Eroberungsbestrebungen der Regierungen aller Länder wil-
len geführt wird. Außerdem aber erkennt man nur höchst unklar oder
I. Gesamtrussischer Somjetkongreß
17
begreift gar nicht, daß eine Regierung, welche Form sie auch haben mag,
die Interessen bestimmter Klassen zum Ausdruck bringt, und daß des-
halb die Gegenüberstellung von Regierung und Volk, wie im ersten von
mir angeführten Zitat, größte theoretische Verwirrung und außer-
ordentliche politische Hilflosigkeit zeigt, daß sie bedeutet, sich selbst und
seine gesamte Politik im höchsten Grade zu Unsicherheit und Schwan-
kungen zu verurteilen. Genauso verhält es sich mit den Schlußworten des
zweiten Zitats, das ich vorgelesen habe. Es ist eine ausgezeichnete Wen-
dung: „Weigert euch, als Werkzeug der Eroberung und Vergewaltigung
in den Händen der Könige, Gutsherren und Bankiers zu dienen“; das ist
vortrefflich, nur fehlen hier die Worte: „auch der eigenen“. Denn wenn
Sie, im Namen der russischen Arbeiter und Bauern, sich an die Arbeiter
und Bauern Österreichs und Deutschlands wenden, deren Regierungen
und herrschende Klassen einen ebenso räuberischen und annexionisti-
schen Krieg führen wie die russischen, wie die englischen und französi-
schen Kapitalisten und Bankiers, wenn Sie erklären: „Weigert euch, als
Werkzeug in den Händen eurer Bankiers zu dienen“, während Sie gleich-
zeitig Ihre eigenen Bankiers in die Regierung eintreten lassen und sie
neben die sozialistischen Minister setzen, so machen Sie all Ihre eigenen
Aufrufe zunichte, so widerlegen Sie in der Praxis Ihre gesamte Politik.
In Wirklichkeit bleibt von Ihren vortrefflichen Bestrebungen und Wün-
schen nichts übrig, denn Sie tragen dazu bei, daß Rußland denselben im-
perialistischen Krieg, denselben Eroberungskrieg weiterführt. Sie geraten
in Widerspruch zu den Massen, die Sie vertreten, weil sich diese Massen
nie auf den Standpunkt der Kapitalisten stellen werden, den Miljukow,
Maklakow und andere offen zum Ausdruck bringen, die da sagen: „Es
gibt keinen Gedanken, der verbrecherischer wäre als der, daß der Krieg
im Interesse des Kapitals geführt wird.“
Ob dieser Gedanke verbrecherisch ist, weiß ich nicht; ich zweifle nicht
daran, daß er vom Standpunkt derjenigen verbrecherisch ist, die heute
zwar noch halb, aber morgen, vielleicht gar nicht mehr existieren, doch er
ist der einzig richtige Gedanke. Er allein bringt unsere Auffassung die-
ses Krieges zum Ausdruck; er allein spiegelt die Interessen der unter-
drückten Klassen, den Kampf gegen die Unterdrücker wider. Wenn wir
sagen, daß der Krieg ein kapitalistischer, ein Eroberungskrieg ist, so darf
man sich keine Illusionen machen: das besagt auf keinen Fall, daß Ver-
2 Lenin. Werke. Bd. 25
18
W.I. Lettin
brechen einzelner Personen, einzelner Könige einen solchen Krieg hervor-
rufen könnten.
Der Imperialismus ist eine bestimmte Entwicklungsstufe des Welt-
kapitals. Der Kapitalismus ist in jahrzehntelanger Entwicklung schließlich
dahin gelangt, daß eine kleine Gruppe ungeheuer reicher Länder - es
sind nicht mehr als vier: England, Frankreich, Deutschland und Amerika -
einen Reichtum angehäuft hat, der sich auf Hunderte von Milliarden
beläuft, daß hier eine solche Macht in den Händen der Großbanken und
Großkapitalisten vereinigt wurde, von denen es in jedem dieser Länder
nur einige, höchstens ein halbes Dutzend gibt, eine solche gigantische
Macht, die die ganze Welt umspannt und buchstäblich den ganzen Erd-
ball territorial, in kolonialem Sinne aufgeteilt hat. Die Kolonien dieser
Mächte stoßen in allen Ländern der Erde aneinander. Diese Staaten
haben auch ökonomisch die Welt unter sich aufgeteilt, denn es gibt kein
Stück Land auf der Erde, wohin die Konzessionen nicht gedrungen wären,
wo das Finanzkapital nicht seine Fäden gesponnen hätte. Das ist die
Grundlage der Annexionen. Annexionen sind nichts Ausgeklügeltes, sie
entstanden nicht, weil einige Menschen aus Freunden der Freiheit plötz-
lich zu Reaktionären wurden. Annexionen sind nichts anderes als der
politische Ausdruck und die politische Form der Herrschaft der Riesen-
banken, die sich im Kapitalismus unvermeidlich, ohne irgendwessen
Schuld herausgebildet hat, denn Aktien bilden die Grundlage der Banken,
und Anhäufung von Aktien, das ist die Grundlage des Imperialismus. Die
Großbanken, die durch Hunderte Milliarden von Kapital die ganze Welt
beherrschen, die ganze Industriezweige mit den Verbänden der Kapita-
listen und Monopolisten vereinigen, das ist der Imperialismus, der die
gesamte Welt in drei Gruppen ungeheuer reicher Räuber aufgespalten
hat.
An der Spitze der einen, der ersten Gruppe, die uns in Europa näher
ist, , steht England, die Führung der beiden anderen haben Deutschland
und Amerika inne; die übrigen Länder sind gezwungen, als Handlanger
mitzutun, solange die kapitalistischen Verhältnisse bestehen. Wenn Sie
sich also über dieses Wesen der Sache klarwerden, das jeder unter-
drückte Mensch instinktiv erkennt, das die übergroße Mehrheit der rus-
sischen Arbeiter und Bauern instinktiv erkennt, wenn Sie eine klare Vor-
stellung davon haben, so werden Sie begreifen, wie lächerlich es ist, den
I. Gesamtrussischer Scnvjetkongreß
19
Kampf gegen den Krieg mit Worten, Manifesten, Proklamationen und
sozialistischen Kongressen führen zu wollen. Es ist lächerlich, denn wie-
viel solcher Erklärungen Sie auch abgeben, wieviel politische Umwälzun-
gen Sie auch vollziehen mögen - Sie haben in Rußland Nikolaus Roma-
now gestürzt und bis zu einem gewissen Grade eine Republik geschaffen;
Rußland hat einen Riesenschritt vorwärts getan, hat vielleicht mit einem
Sprung Frankreich fast eingeholt, das unter anderen Bedingungen dafür
hundert Jahre gebraucht hat, und ein kapitalistisches Land geblieben
ist -, die Banken bleiben allmächtig. Die Kapitalisten bleiben nach wie
vor. Wenn sie sich etwas zurückhalten, so taten sie das auch im Jahre
1905, aber hat ihnen das denn Abbruch getan? Wenn das den Russen
etwas Neues ist, so hat doch in Europa jede Revolution gezeigt, daß die
Arbeiter bei jedem Anschwellen der revolutionären Welle etwas mehr
erreichen, daß aber die Macht eben doch die Macht der Kapitalisten
bleibt. Der. Kampf gegen den imperialistischen Krieg ist nur möglich als
Kampf der revolutionären Klassen gegen die herrschenden Klassen im
Weltmaßstab. Es sind das nicht die Gutsbesitzer im allgemeinen, obwohl
es in Rußland Gutsbesitzer gibt und sie hier eine größere Rolle spielen
als in irgendeinem anderen Lande, doch nicht diese Klasse hat den Impe-
rialismus geschaffen. Hier handelt es sich um die Klasse der Kapitalisten,
an deren Spitze die größten Finanzmagnaten und Banken stehen; solange
diese Klasse, die über die unterdrückten Proletarier und ihre Verbünde-
ten, die armen Bauern, die Halbproletarier, wie sie in unserem Programm
genannt werden, herrscht, solange diese Klasse nicht gestürzt ist, gibt es
keinen Ausweg aus diesem Krieg. Die Illusion, daß Sie die Werktätigen
aller Länder durch Proklamationen und Aufrufe an die anderen Völker
vereinigen könnten, kann man nur von dem beschränkten russischen
Standpunkt aus hegen, der nicht in Rechnung stellt, wie sich die Presse
in Westeuropa, wo die Arbeiter und Bauern an politische Umwälzungen
gewöhnt sind, die sie zu Dutzenden erlebt haben, über solche Redens-
arten und Aufrufe lustig macht. Die westeuropäischen Arbeiter und
Bauern wissen nicht, daß sich in Rußland tatsächlich die Massen der
Arbeiter erhoben haben, die in ihrer übergroßen Mehrheit absolut auf-
richtig sind, die die Eroberungsbestrebungen der Kapitalisten aller Län-
der verurteilen und die Befreiung der Völker von den Bankiers herbei-?
sehnen. Aber diese Europäer verstehen nicht, warum Sie, die Sie solche
20
W. I. Lenin
Organisationen haben, wie sie kein Volk der Erde hat, die Sowjets der
Arbeiter-, Bauern- und Soldatendeputierten, die bewaffnet sind, warum
Sie Ihre Sozialisten als Minister in die Regierung schicken, warum Sie
dennoch die Macht diesen Bankiers ausliefern. Im Ausland beschuldigt
man Sie nicht nur der Naivität, das wäre nicht weiter schlimm. Die Euro-
päer haben verlernt, Naivität in der Politik zu verstehen, sie haben
verlernt zu verstehen, daß es in Rußland Dutzende Millionen von Men-
schen gibt, die eben erst zum Leben erwachen, daß man in Rußland nicht
weiß, welcher Zusammenhang zwischen den Klassen und der Regierung
und welcher Zusammenhang zwischen der Regierung und dem Krieg
besteht. Der Krieg ist die Fortsetzung der bürgerlichen Politik und nichts
weiter. Die herrschende Klasse bestimmt die Politik auch im Kriege. Der
Krieg ist durch und durch . Politik, dieselben Klassen fahren fort, ihre
bisherigen Ziele zu verwirklichen, nur auf einem anderen Wege. Wenn
Sie also in Ihren Aufrufen der Arbeiter und Bauern schreiben: „Stürzt
eure Bankiers“, so wird jeder klassenbewußte Arbeiter in Europa ent-
weder über Sie lachen, oder er wird bitterlich weinen und sich sagen:
„Was können wir tun, wenn sie dort einen halbwilden Idioten und eine
Bestie von Monarchen gestürzt haben, solche, wie wir sie bei uns schon
längst zum Teufel gejagt haben - darin besteht unser ganzes Verbre-
chen -, und jetzt mit ihren ,bemah-sozialistis<hen‘ Ministern die russi-
schen Bankiers unterstützen? !“
Die Bankiers bleiben an der Macht und verfolgen ihre Außenpolitik
mit: Hilfe des imperialistischen Krieges, indem sie die Verträge, die Niko-
laus IL für Rußland abgeschlossen hat, voll und ganz aufrechterhalten.
Bei uns tritt das besonders klar hervor. Die Grundlagen der russischen
imperialistischen Außenpolitik sind nicht von unseren heutigen Kapita-
listen festgelegt worden, sondern von der früheren Regierung mit Niko-
laus Romanow, den wir gestürzt haben. Diese Verträge hat er abge-
schlossen, doch man hält sie geheim; die Kapitalisten können, sie nicht
veröffentlichen, weil sie Kapitalisten sind. Aber kein einziger Arbeiter
oder Bauer kann diesen Wirrwarr verstehen, weil er sich sagt: Wenn wir
dazu auffordern, die Kapitalisten in den anderen Ländern zu stürzen, so
müssen wir vor allem unsere eigenen Bankiers davonjagen, sonst wird
uns niemand Glauben schenken, und keiner wird uns ernst nehmen, man
wird sagen, wir seien naive russische Wildlinge, die Worte schreiben.
welche an und für sich vortrefflich sind, aber keinen politischen Inhalt
haben; oder man wird vielleicht noch schlimmer von uns denken und uns
für Heuchler halten. Solche Äußerungen könnten Sie tatsächlich in der
Auslandspresse finden, wenn die ausländischen Zeitungen aller Richtun-
gen frei die Grenze passieren könnten und nicht in Tomeä von den
englischen und französischen Behörden zurückgehalten würden. Eine ein-
zige Auslese von Zitaten aus den ausländischen Zeitungen würde Sie da-
von überzeugen, in welch einen schreienden Widerspruch Sie geraten,
wie unglaublich lächerlich und falsch der Gedanke ist, gegen diesen Krieg
durch sozialistische Konferenzen und Vereinbarungen mit Sozialisten auf
Kongressen kämpfen zu wollen. Wenn der Imperialismus durch die Schuld
oder das Verbrechen einzelner Personen entstanden wäre, dann wäre es
wohl möglich, daß der Sozialismus Sozialismus geblieben wäre. Doch der
Imperialismus ist die letzte Entwicklungsstufe des Kapitalismus, auf der
bereits die ganze Welt aufgeteilt ist und zwei Riesengruppen in einem
Kampf auf Leben und Tod miteinander ringen. Entweder man dient der
einen oder der anderen Gruppe, oder man muß beide Gruppen stürzen,
einen anderen Weg gibt es nicht. Wenn Sie gegen den Separatfrieden
anführen, daß wir doch nicht dem deutschen Imperialismus dienen wol-
len, so ist das vollkommen richtig, deswegen sind ja auch wir gegen einen
Separatfrieden. Aber faktisch dienen Sie nach wie vor, ohne es zu wollen,
dem englisch-französischen Imperialismus, der die gleichen räuberischen,
annexionistischen Bestrebungen hat, wie sie auch von den russischen Ka-
pitalisten mit Hilfe von Nikolaus Romanow in Verträgen festgelegt wor-
den sind. Wir kennen den Wortlaut dieser Verträge nicht, aber jeder,
der die politische Literatur verfolgt hat, der nur einmal in einem Buch
über Wirtschaft und Diplomatie geblättert hat, kennt den Inhalt dieser
Verträge. Ja, auch Miljukow hat, soweit ich mich erinnere, in seinen
Büchern von diesen Verträgen und Zusicherungen geschrieben, daß man
Galizien, die Meerengen und Armenien an sich reißen, die alten An-
nexionen aufrechterhalten und eine Menge neuer hinzufügen will. Das
wissen alle, die Verträge aber werden weiterhin verheimlicht, und man
sagt uns, es bedeute den Bruch mit den Verbündeten, wenn wir sie auf-
heben.
Zur Frage des Separatfriedens habe ich bereits gesagt, daß ein Sepa-
ratfrieden für uns nicht in Frage kommt; und auf Grund der Resolution
22
unserer Partei kann auch nicht der geringste Zweifel darüber bestehen,
daß wir ihn ablehnen wie jedes Übereinkommen mit den Kapitalisten.
Für uns wäre der Separatfrieden ein Übereinkommen mit den deutschen
Räubern, weil sie genauso Raubpolitik treiben wie die anderen. Aber
auch die Verständigung mit dem russischen Kapital in der russischen Pro-
visorischen Regierung ist ein solcher Separatfrieden. Die zaristischen Ver-
träge sind geblieben, sie dienen ebenfalls dem Raub und der Unterdrük-
kung anderer Völker. Wenn man sagt: „Frieden ohne Annexionen und
Kontributionen“, wie das jeder russische Arbeiter und Bauer sagen muß,
weil ihn das das Leben lehrt, weil er an den Profiten der Banken nicht
interessiert ist, weil er leben will - so antworte ich, daß bei den Führern
des jetzigen Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten aus den Par-
teien der Volkstümler und der Menschewiki in bezug auf diese Losung
Verwirrung herrscht. In ihren „Iswestija“ sagten sie, dies bedeute den
Status quo, d. h. den Vorkriegszustand, die Rüdekehr zu dem, was vor
dem Kriege war. Ist das etwa kein kapitalistischer Frieden? Und was für
ein kapitalistischer Frieden 1 Wenn Sie eine solche Losung aufstellen, so
sollten Sie wissen, daß der Gang der Ereignisse Ihre Parteien an die
Macht bringen kann. Während der Revolution ist das möglich. Sie wer-
den das tun müssen, was Sie sagen: wenn Sie jetzt einen Frieden ohne
Annexionen vorschlagen, werden ihn die Deutschen annehmen, aber die
Engländer nicht, weil die englischen Kapitalisten keinen Fußbreit Boden
verloren, sondern an allen Ecken und Enden der Welt welchen zusam-
mengeraubt haben. Die Deutschen haben viel zusammengeraubt, aber
auch viel verloren, und nicht nur viel verloren, sie haben es jetzt oben-
drein mit Amerika zu tun, ihrem mächtigsten Gegner. Wenn Sie einen
Frieden ohne Annexionen Vorschlägen und darunter den Status quo ver-
stehen, so kommt es dazu, daß aus Ihrem Vorschlag ein Separatfrieden
mit den Kapitalisten wird, denn wenn Sie diesen Vorschlag machen, dann
werden die deutschen Kapitalisten, die Amerika und Italien vor sich
sehen, mit denen sie früher Verträge geschlossen hatten, sagen: „Ja, wir
nehmen diesen Frieden ohne Annexionen an, er ist für uns keine Nieder-
lage, sondern ein Sieg gegenüber Amerika und Italien.“ Sie kommen ob-
jektiv zu dem Separatfrieden mit den Kapitalisten, den Sie uns vor-
werfen, weil Sie in Ihrer Politik, Ihren Handlungen und praktischen
Schritten nicht grundsätzlich mit den Bankiers brechen, die die Expo-
I. Gesamtrussischer Somjetkongreß
23
nenten der imperialistischen Herrschaft in der ganzen Welt sind und die
Sie und Ihre „sozialistischen“ Minister in der Provisorischen Regierung
unterstützen.
Damit bringen Sie sich in eine widerspruchsvolle, unsichere Lage, in
der die Massen Sie falsch verstehen. Die an Annexionen nicht inter-
essierten Massen sagen: Wir wollen nicht um irgendwelcher Kapita-
listen willen Krieg führen. Wenn man uns sagt, einer solchen Politik
könne durch Kongresse und Abmachungen zwischen den Sozialisten aller
Länder ein Ende bereitet werden, so erklären wir: Das könnte möglich
sein, wenn der Imperialismus das Werk einzelner Verbrecher wäre, .aber
der Imperialismus ist die Weiterentwicklung des Weltkapitalismus, wo-
mit die Arbeiterbewegung zusammenhängt.
Der Sieg des Imperialismus ist der Beginn der unvermeidlichen, in
allen Ländern unausbleiblichen Spaltung der Sozialisten in zwei Lager.
Wer jetzt noch weiterhin von den Sozialisten als einem Ganzen spricht,
als von etwas, das ein Ganzes sein kann, der betrügt sich und andere.
Der ganze Verlauf des Krieges, die ganzen zweieinhalb Jahre Krieg
haben diese Spaltung hervorgerufen - seit das einstimmig angenommene
Basler Manifest 14 erklärt hatte, daß es sich um einen Krieg des imperia-
listischen Kapitalismus handelt. Im Basler Manifest ist kein Wort von
„Vaterlandsverteidigung" zu finden. Man konnte vor dem Kriege kein
anderes Manifest schreiben, wie auch jetzt kein Sozialist Vorschlägen
wird, ein Manifest über die „Vaterlandsverteidigung“ in einem Kriege
zwischen Japan und Amerika zu schreiben, wo es nicht um die eigene
Haut, nicht um die eigenen Kapitalisten und die eigenen Minister
geht. Schreiben Sie doch eine Resolution für die internationalen
Kongresse! Sie wissen, daß der Krieg zwischen Japan und Amerika
eine schon ausgemachte Sache ist, er ist durch Jahrzehnte vorbereitet,
und er wird kein Zufall sein; die Taktik hängt nicht davon ab, wer
den ersten Schuß abfeuert. Das ist lachhaft! Sie wissen sehr gut, daß
der japanische und der amerikanische Kapitalismus den gleichen räube-
rischen Charakter haben. Von „Vaterlandsverteidigung“ wird man auf
beiden Seiten sprechen; das wird entweder verbrecherisch oder Zeichen
einer außerordentlichen Schwäche sein, hervorgerafen durch die „Ver-
teidigung“ der Interessen unserer kapitalistischen Feinde. Darum sagen
wir, daß der Sozialismus unwiderruflich gespalten ist. Diejenigen Sozia-
24
listen haben den Sozialismus ganz aufgegeben, die auf die Seite ihrer
Regierung, ihrer Bankiers und Kapitalisten übergegangen sind, wie sehr
sie auch in Worten von ihnen abrücken, wie sehr sie sie auch verurteilen
mögen. Auf die Verurteilung kommt es nicht an. Aber zuweilen ist die
Verurteilung der Deutschen, weil sie ihre Kapitalisten unterstützen, nur
der Deckmantel für die Verteidigung der gleichen „Sünde“ von seiten der
Russen I Wenn Sie die deutschen Sozialchauvinisten anklagen, d. h. Leute,
die in Worten' Sozialisten - vielleicht sind viele von ihnen auch im Her-
zen Sozialisten aber ihren Taten nach Chauvinisten sind und in Wirk-
lichkeit nicht das deutsche Volk, sondern die schmutzigen, gewinnsüch-
tigen und räuberischen deutschen Kapitalisten verteidigen, wenn Sie solche
Leute anklagen, so dürfen Sie nicht die englischen, französischen und
russischen Kapitalisten verteidigen. Die deutschen Sozialchauvinisten
sind nicht schlechter als diejenigen, die in unserer Regierung dieselbe
Politik der Geheimverträge und Annexionen fortsetzen und das mit from-
men naiven Wünschen verdecken, in denen viel Gutes steckt, und die,
vom Standpunkt der Massen gesehen - das gebe ich zu -, absolut
aufrichtig gemeint sind, in denen ich aber kein einziges Wort als poli-
tische Wahrheit anerkenne und auch nicht anerkennen kann. Das sind
nur Ihre Wünsche, der Krieg aber bleibt nach wie vor der gleiche impe-
rialistische Krieg, für die gleichen Geheimverträge! Sie fordern andere
Völker auf, die Bankiers zu stürzen, aber Ihre eigenen unterstützen Siel
Sie sprechen vom Frieden, sagen aber nicht, welchen Frieden Sie meinen.
Was den Frieden auf der Grundlage des Status quo anbelangt, ist man
uns die Antwort schuldig geblieben, als wir auf diesen schreienden
Widerspruch hinwiesen. Sie werden in Ihrer Resolution, in der Sie vom
Frieden ohne Annexionen sprechen werden, nicht sagen können, daß dies
nicht den Status quo bedeutet. Sie können auch nicht sagen, daß dies den
Status quo bedeutet, d. h. die Wiederherstellung des Vorkriegszustands.
Also, wie nun? England die deutschen Kolonien wegnehmen? Versuchen
Sie es doch mit friedlichen Übereinkommen I Alle werden über Sie lachen.
Versuchen Sie doch einmal, Japan ohne Revolution das geraubte Kiau-
tschou und die Inseln im Stillen Ozean 15 wegzunehmen!
Sie haben sich in unlösbare Widersprüche verwickelt. Wenn wir sagen
„ohne Annexionen“, so erklären wir, daß diese Losung für uns nur ein
untergeordneter Teil des Kampfes gegen den Weltimperialismus ist. Wir
I. Gesamtrussischer Sotojetkongreß
25
sagen, daß wir alle Völker befreien wollen und damit bei unseren eige-
nen beginnen. Sie reden vom Krieg gegen Annexionen und vom Frieden
ohne Annexionen, während Sie in Rußland selbst die Annexionspolitik
fortsetzen. Das ist unerhört. Sie und Ihre Regierung, Ihre neuen Minister
setzen in Wirklichkeit gegenüber Finnland und der Ukraine die An-
nexionspolitik fort. Sie schikanieren den ukrainischen Kongreß und ver-
bieten durdi Ihre Minister seinen Zusammentritt. 16 Ist das etwa keine
Annexionspolitik? Das ist eine Politik, die die Rechte eines Volkes ver-
höhnt, das von den Zaren gemartert wurde, weil seine Kinder die Mutter-
sprache sprechen wollten. Das bedeutet, Angst vor selbständigen Repu-
bliken haben. Vom Standpunkt der Arbeiter und Bauern ist da nichts
zu fürchten. Mag Rußland ein Bund freier Republiken werden. Die
Arbeiter- und Bauernmassen werden keinen Krieg führen, um das zu
verhindern. Jedes Volk soll frei werden, zuerst all die Völkerschaften,
mit denen zusammen in Rußland die Revolution durchgeführt wird. Tun
Sie einen solchen Schritt nicht, so brechen Sie selbst den Stab über sich
und sind nur den Worten nach eine „revolutionäre Demokratie“, wäh-
rend Ihre ganze Politik in Wirklichkeit konterrevolutionär ist.
Ihre Außenpolitik ist antidemokratisch und konterrevolutionär, doch
eine revolutionäre Politik kann Sie vor die Notwendigkeit eines revolu-
tionären Krieges stellen. Das ist jedoch nicht unbedingt notwendig. Die-
ses Problem ist sowohl vom Referenten als auch in letzter Zeit in der
Presse eingehend behandelt worden. Ich möchte darauf gern näher ein-
gehen.
Wie stellen wir uns denn praktisch den Ausweg aus diesem Krieg vor?
Wir sagen: Der einzige Ausweg aus diesem Krieg ist die Revolution.
Unterstützt die Revolution der von den Kapitalisten unterdrückten Klas-
sen, stürzt die Kapitalistenklasse im eigenen Land und gebt so den ande-
ren Ländern ein Beispiel. Nur das ist Sozialismus. Nur das ist Kampf
gegen den Krieg. Alles andere sind Verheißungen, Redensarten oder
fromme naive Wünsche. In allen Ländern der Welt hat sich der Sozia-
lismus gespalten. Sie geraten weiterhin in Widersprüche, wenn Sie sich
mit jenen Sozialisten zusammentun, die ihre eigene Regierung unter-
stützen, und Sie vergessen, daß in England und Deutschland die wirk-
lichen Sozialisten, die den Sozialismus der Massen zum Ausdruck brin-
gen, vereinzelt geblieben sind und in den Gefängnissen sitzen. Doch nur
26
W.I. Lenin
diese allein vertreten die Interessen der proletarischen Bewegung. Wie
aber, wenn in Rußland die unterdrückte Klasse an die Macht käme?
Wenn man zu uns sagt: Wie wollt ihr allein aus dem Krieg heraus-
kommen, so antworten wir: Allein kann man nicht herauskommen. Jede
Resolution unserer Partei erklärt und jeder unserer Versammlungsredner
sagt, daß es ein Unsinn sei anzunehmen, man könne allein aus diesem
Krieg ausscheiden. Hunderte Millionen von Menschen, Hunderte Mil-
liarden von Kapital sind in diesen Krieg verwickelt. Es gibt keinen an-
deren Weg, aus dem Krieg herauszukommen, als den, daß die Macht
von der revolutionären Klasse übernommen wird, die verpflichtet ist, in
der Tat den Imperialismus zu beseitigen, d. h. die Verbindungen des
Finanz- und Bankkapitals sowie die annexionistischen Beziehungen zu
zerstören. Solange wir das nicht getan haben, ist nichts getan. Der Um-
sturz hat sich darauf beschränkt, daß er uns statt des Zarismus und Im-
perialismus eine Quasirepublik, eine durch und durch imperialistische
Republik beschert hat, in der sogar die Vertreter der revolutionären
Arbeiter und Bauern nicht verstehen, mit Finnland und der Ukraine
demokratisch umzugehen, d. h. ohne Furcht vor deren Lostrennung.
Wenn gesagt wird, daß wir einen Separatfrieden anstreben, so ist das
nicht wahr. Wir sagen: Keinen Separatfrieden mit irgendwelchen Kapita-
listen, vor allem nicht mit den russischen. Die Provisorische Regierung
aber hat einen Separatfrieden mit den russischen Kapitalisten geschlos-
sen. Nieder mit diesem Separatfrieden! (Beifall.) Wir erkennen kei-
nen Separatfrieden mit den deutschen Kapitalisten an und werden keiner-
lei Verhandlungen mit ihnen aufnehmen, aber auch einen Separatfrieden
mit den englischen und französischen Imperialisten erkennen wir nicht an.
Man sagt uns, mit ihnen brechen bedeute Verständigung mit den deut-
schen Imperialisten. Das ist nicht wahr, man' muß mit ihnen sofort
brechen, weil das ein Bündnis zwischen Räubern ist. Man sagt, es sei
unmöglich, die Verträge zu veröffentlichen, weil das unsere ganze Regie-
rung, unsere ganze Politik in den Augen jedes Arbeiters und jedes Bauern
der Schande preisgeben würde. Wenn man diese Verträge veröffentlichte
und in den Versammlungen den russischen Arbeitern und Bauern, und
zwar in jedem abgelegenen Dörfchen, klar sagte: Seht, dafür kämpft ihr
jetzt, für die Meerengen, für die Besetzung Armeniens, so würde jeder
sagen: Einen solchen Krieg wollen wir nicht. (Vorsitzender: „Ihre
Redezeit ist abgelaufen.“ Ruf e : „WeiterredenD Noch zehn Minuten.
(Rufe : „Weiterreden I“)
Ich sage, daß folgende Alternative falsch ist: „entweder mit den eng-
lischen oder mit den deutschen Imperialisten“. Frieden mit den deutschen
Imperialisten bedeute Krieg gegen die englischen und umgekehrt. Eine
solche Gegenüberstellung gefällt denen, die mit ihren Kapitalisten und
Bankiers nicht brechen wollen und Bündnisse gleich welcher Art mit
ihnen zulassen. Uns aber gefällt sie nicht. Wir erklären, daß wir das
Bündnis mit der unterdrückten Klasse, mit den unterdrückten Völkern
verteidigen werden. Bleiben Sie einem solchen Bündnis treu, dann werden
Sie revolutionäre Demokraten sein. Das ist keine leichte Aufgabe. Bei
dieser Aufgabe darf man nicht vergessen, daß wir unter bestimmten Be-
dingungen ohne revolutionären Krieg nicht auskommen werden. Keine
revolutionäre Klasse kann ein für allemal auf einen revolutionären Krieg
verzichten, denn sonst verurteilt sie sich zu einem lächerlichen Pazifismus.
Wir sind keine Tolstoianer. Wenn die revolutionäre Klasse die Macht
ergreift, wenn es in ihrem Staat keine Annexionen mehr gibt, wenn
die Banken und das Großkapital keine Macht mehr haben - dies zu er-
reichen ist in Rußland nicht leicht -, dann wird diese Klasse nicht nur
in Worten, sondern in Wirklichkeit einen revolutionären Krieg führen.
Auf einen solchen Krieg ein für allemal zu verzichten ist unmöglich. Das
würde bedeuten, in Tolstoianertum und in Spießertum zu verfallen, die
ganze Lehre des Marxismus und die Erfahrungen aller europäischen
Revolutionen zu vergessen.
Rußland kann nicht allein aus dem Kriege ausscheiden. Es wachsen ihm
aber gewaltige Bundesgenossen heran, die Ihnen deshalb jetzt nicht glau-
ben, weil Ihre Stellung widerspruchsvoll und naiv ist, deshalb, weil Sie
anderen Völkern den Rat erteilen: „Fort mit den Annexionen“, während
Sie bei sich die Annexionen praktizieren. Anderen Völkern sagen Sie:
Stürzt eure Bankiers, Ihre eigenen aber stürzen Sie nicht. Versuchen Sie
es mit einer anderen Politik. Veröffentlichen Sie die Verträge und geben
Sie diese vor allen Arbeitern und Bauern, auf allen Versammlungen der
Schande preis. Erklären Sie: Kein Frieden mit den deutschen und völliger
Bruch mit den englischen und französischen Kapitalisten. Sollen die Eng-
länder sich aus der Türkei fortscheren und aufhören, um Bagdad Krieg
zu führen. Sollen sie sich aus Indien und Ägypten fortscheren. Wir wol-
W. I. Lenin
len nicht dafür kämpfen, daß die geraubte Beute behalten wird, so wie
wir nicht die geringste Energie dafür aufwenden werden, daß die deut-
schen Räuber ihre Beute behalten. Wenn Sie das tun werden - Sie
haben es nur gesagt, doch in der Politik glaubt man Worten nicht und
tut gut daran -, wenn Sie das nicht nur sagen, sondern auch tun, so
werden die Bundesgenossen, die es heute gibt, in Erscheinung treten.
Achten Sie auf die Stimmung all der unterdrückten Arbeiter und Bauern,
sie empfinden schmerzlich, daß Sie, obwohl Sie Waffen haben, so schwach
sind, die Bankiers an der Macht zu lassen. Ihre Bundesgenossen, das sind
die unterdrückten Arbeiter aller Länder. Es wird -das eintreten, was die
Revolution von 1905 in der Praxis gezeigt hat. Als sie begann, war sie
furchtbar schwach. Welches aber war ihr internationales Ergebnis? Wie
ist durch diese Politik, durch die Geschichte des Jahres 1905, die Außen-
politik der russischen Revolution bestimmt worden? Heute führen Sie
die Außenpolitik der russischen Revolution in voller Übereinstimmung
mit den Kapitalisten durch. Das Jahr 1905 aber hat gezeigt, wie die
Außenpolitik der russischen Revolution sein muß. Es ist eine unbestreit-
bare Tatsache, daß nach dem 17. Oktober 1905 in Wien und Prag Un-
ruhen ausbrachen, die Massen auf die Straße gingen und Barrikaden
bauten. Dem Jahre 1905 folgte das Jahr 1908 in der Türkei, 1909 in
Persien und 1910 in China. 17 Wenn Sie an die wirklich revolutionäre
Demokratie, die Arbeiterklasse und die Unterdrückten appellieren, statt
mit den Kapitalisten zu paktieren, so werden nicht die unterdrückenden,
sondern die unterdrückten Klassen Ihre Bundesgenossen sein, nicht die
Völker, bei denen jetzt vorübergehend die unterdrückenden Klassen die
Oberhand haben, sondern die Völker, die man jetzt in Stücke reißt.
Man erinnert uns hier an die deutsche Front, an der etwas zu verändern,
niemand von uns vorgeschlagen hat, wir wollen nur, daß unsere Aufrufe
frei verbreitet werden können, die auf der einen Seite in russischer und
auf der anderen in deutscher Sprache geschrieben sind. Darin heißt es:
Die Kapitalisten beider Länder sind Räuber, sie beseitigen, das ist nichts
anderes als ein Schritt zum Frieden. Es gibt aber auch andere Fronten.
An der türkischen Front steht unsere Armee, deren zahlenmäßige Stärke
ich nicht kenne. Nehmen wir an, es sind etwa drei Millionen. Wenn
diese Armee, die jetzt in Armenien steht und dort das Land annektiert,
was Sie, die Sie anderen Völkern den Frieden ohne Annexionen predigen.
I. Gesamtrussischer Sowjetkongreß
29
dulden, obwohl Sie die Kraft und die Macht haben, wenn diese Armee
dazu überginge, dieses Programm durchzuführen, wenn sie Armenien
zu einer unabhängigen Armenischen Republik machte und ihr das Geld
zahlte, das uns die Finanzmagnaten Englands und Frankreichs abnehmen,
so wäre das besser.
Man sagt, daß wir ohne die finanzielle Unterstützung Englands und
Frankreichs nicht auskommen könnten. Aber diese Unterstützung „unter-
stützt“ uns so wie der Strick den Gehenkten. Soll die russische revolutio-
näre Klasse sagen: Fort mit dieser Unterstützung, wir erkennen die
Schulden nicht an, die bei den französischen und englischen Kapitalisten
gemacht worden sind, wir fordern alle zum Aufstand gegen die. Kapi-
talisten auf. Keinen Frieden mit den deutschen Kapitalisten und kein
Bündnis mit den Engländern und den Franzosen! Würde man tatsächlich
diese Politik betreiben, so könnte unsere Armee an der türkischen Front
frei werden und an andere Fronten gehen, denn alle Völker Asiens wür-
den dann sehen, daß das russische Volk nicht nur mit Worten einen
Frieden ohne Annexionen auf der Grundlage des Selbstbestimmungs-
rechts der Völker verkündet, sondern daß die russischen Arbeiter und
Bauern sich tatsächlich an die Spitze aller unterdrückten Völker stellen,
daß für sie der Kampf gegen den Imperialismus kein bloßer Wunsch
und kerne prunkvolle ministerielle Redensart ist. sondern das ureigene
Interesse der Revolution.
Unsere Lage ist so, daß ein revolutionärer Krieg uns zwar drohen
kann, aber nicht unbedingt eintreten muß, denn die englischen Imperia-
listen werden kaum einen Krieg gegen uns führen können, wenn Sie den
Völkern, die Rußland umgeben. Ihre Tat als Beispiel zeigen werden.
Beweisen Sie, daß Sie Armenien als Republik befreien, verständigen Sie
sich mit den Arbeiter- und Bauemräten in allen Ländern darüber, daß
Sie für eine freie Republik eintreten, dann würde die Außenpolitik der
russischen Revolution wirklich revolutionär, wirklich demokratisch wer-
den. Sie ist das jetzt nur in Worten, in Wirklichkeit ist sie konterrevo-
lutionär, denn Sie sind mit dem englisch-französischen Imperialismus
verbunden und wollen das nicht offen sagen. Sie fürchten sich, das zuzu-
geben. Besser wäre es, wenn Sie an Stelle der Aufforderung, „die fremden
Bankiers zu stürzen“, dem russischen Volk, den Arbeitern und Bauern,
offen sagten: „Wir sind zu schwach, wir können das Joch der englischen
30
und französischen Imperialisten nicht abwerfen, wir sind ihre Sklaven,
darum führen wir Krieg.“ Das wäre eine bittere Wahrheit, aber sie hätte
revolutionäre Bedeutung und würde das Ende dieses räuberischen Krieges
schneller herbeiführen. Das ist tausendmal mehr wert als ein Überein-
kommen mit den französischen und englischen Sozialchauvinisten, als
die Einberufung von Kongressen mit ihnen, als die Fortsetzung dieser
Politik, bei der Sie im Grunde genommen fürchten, mit den Imperia-
listen des einen Landes zu brechen, und Bundesgenossen eines anderen
bleiben. Sie können sich auf die unterdrückten Klassen der europäischen
Länder und auf die unterdrückten Völker der schwächeren Länder stützen,
die Rußland unter den Zaren unterdrückt hat und die es auch jetzt noch
unterdrückt, wie z. B. Armenien. Auf diese Klassen und Völker gestützt,
könnten Sie ihnen die Freiheit bringen und ihren Arbeiter- und Bauem-
komitees helfen ; Sie könnten an die Spitze aller unterdrückten Klassen,
aller unterdrückten Völker im Kriege gegen den deutschen und gegen
den englischen Imperialismus treten, die sich gegen uns nicht zusammen-
schließen können, weil sie miteinander einen Kampf auf Tod und Leben
ausfechten, weil sie sich in einer unüberwindlich schwierigen Lage be-
finden, während die Außenpolitik der russischen Revolution, das auf-
richtige, echte Bündnis mit den unterdrückten Klassen und Völkern, Erfolg
haben kann, ja mit 99 Prozent Sicherheit Erfolg haben wird !
Vor kurzem lasen wir in unserer Moskauer Parteizeitung den Brief
eines Bauern, der sich mit unserem Programm befaßt. Ich erlaube mir,
meine Rede mit einem kurzen Zitat aus diesem Brief zu beenden, der
zeigt, wie dieser Bauer unser Programm begriffen hat. Der Brief erschien
in Nr. 59 unseres Moskauer Parteiorgans „Sozial-Demokrat“ 1 ® und wurde
in Nr. 68 der „Prawda““ nachgedruckt:
„Man muß der Bourgeoisie schärfer zusetzen, bis sie aus allen Fugen geht.
Dann wird der Krieg ein Ende haben. Wenn wir aber der Bourgeoisie nicht so
scharf zusetzen, wird es uns schlimm ergehen.“ (Beifall)
Nack dem Text der „ Pramda" . ver-
glichen mit dem von W. I. Lenin
korrigierten Stenogramm.
„Pramda" Nr. 95. 96 und 97.
13. Juli <30. Juni).
14. (1.) und 15. (2.) Juli 1917.
DIE ZERRÜTTUNG UND DER KAMPF
DES PROLETARIATS DAGEGEN
In der vorliegenden Nummer veröffentlichen wir eine Resolution über
ökonomische Kampfmaßnahmen gegen die Zerrüttung, die von der Kon-
ferenz der Betriebskomitees 20 angenommen worden ist.
Der Grundgedanke dieser Resolution ist der, daß sie den bürgerlichen,
spießerhaft-bürokratischen Phrasen von Kontrolle die Bedingungen zur
Schaffung der wirklichen Kontrolle über die Kapitalisten und die Pro-
duktion entgegenstellt. Die Bourgeoisie lügt, wenn sie staatlich geplante
Maßnahmen zur Sicherung der dreifachen, wenn nicht gar zehnfachen
Profite der Kapitalisten als „Kontrolle“ ausgibt. Das Kleinbürgertum
vertraut halb naiv und halb aus Eigennutz den Kapitalisten und dem
kapitalistischen Staat und gibt sich mit nutzloser, bürokratischer Pro-
jektemacherei über Kontrolle zufrieden. Die von den Arbeitern ange-
nommene Resolution stellt das Wichtigste in den Vordergrund: was man
tun muß, damit 1. die Profite der Kapitalisten wirklich „nicht unange-
tastet“ bleiben: damit 2. vom Geschäftsgeheimnis der Schleier gerissen
wird ; damit 3. die Arbeiter in den KontroIIinstitutionen die Mehrheit er-
halten; damit 4. die Organisation (der Kontrolle und Leitung) als Orga-
nisation „im Maßstab des ganzen Landes“ von den Sowjets der Arbei-
ter-, Soldaten- und Bauemdeputierten geleitet wird, nicht aber von den
Kapitalisten.
Ohne diese Voraussetzungen sind alle Reden über Kontrolle und Regu-
lierung nur leere Worte, wenn nicht gar direkter Betrug am Volke.
Gerade gegen diese Wahrheit, die jedem klassenbewußten und den-
kenden Arbeiter sofort einleuchtet, habai sich die Führer unseres Klein-
bürgertums aufgelehnt, die Volkstümler und Menschewiki („Iswestija“,
„Rabotschaja Gaseta“). Ihnen haben sich dieses Mal leider die Mitarbei-
ter der „Nowaja Shisn“ angeschlossen, die schon öfter zwischen uns und
ihnen geschwankt haben.
32
W. I. Lenin
Die Genossen Awilow und Basarow versuchen, ihr „Absinken“ in den
Sumpf der kleinbürgerlichen Vertrauenssebgkeit, des Paktierertums und
der bürokratischen Projektemacherei mit marxistisch klingenden Argu-
menten zu verdecken. Betrachten wir diese Argumente.
Wir, die Prawdisten, seien mit der Verteidigung der Resolution des
Organisationsbüros (die von der Konferenz angenommen wurde) vom
Marxismus zum Syndikalismus abgewichen !! Die Genossen Awilow und
Basarow sollen sich schämen, denn eine derartige Gedankenlosigkeit
(oder eine derartige Verdrehung) geziemt nur der „Retsch“ 21 und dem
„Jedinstwo“ 22 ! Nicht der kleinste Hinweis auf solche Lächerlichkeiten
wie den Übergang der Eisenbahnen in die Hände der Eisenbahner oder
der Lederfabriken in die Hände der Lederarbeiter ist bei uns zu finden,
wohl aber die Kontrolle der Arbeiter, die dazu führt, daß die Arbeiter
die Regulierung der Produktion und der Verteilung vollständig über-
nehmen, daß eine „gesamtstaatliche Organisation“ für den Austausch
von Getreide gegen Gebrauchsgüter usw. geschaffen wird (bei „weit-
gehender Heranziehung der städtischen und ländlichen Genossenschaf-
ten“), wohl aber die Forderung „Übergang der gesamten Staatsmacht in
die Hände der Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauemdeputierten“.
Nur Leute, die die Resolution nicht bis zu Ende gelesen haben oder
die nicht zu lesen verstehen, könnten in ihr mit gutem Gewissen Syndi-
kalismus erblicken.
Nur Pedanten, die den Marxismus so verstehen, wie ihn Struve und
alle liberalen Bürokraten „verstanden“ haben, können meinen: „Den
Staatskapitalismus überspringen zu wollen ist eine Utopie“, „die Art der
Regulierung selbst muß auch bei uns den staatskapitalistischen Charak-
ter wahren“.
Nehmen Sie das Zuckersyndikat, die Staatseisenbahnen in Rußland
oder die Erdölkönige u. dgl. m. Was ist das anderes als Staatskapitalis-
mus? Kann man etwas „überspringen“, was bereits vorhanden ist?
Das ist es ja gerade, daß Leute, die den Marxismus in eine Art „höl-
zern-bürgerliche“ Lehre verwandelt haben, den konkreten Aufgaben, die
das wirkliche Leben stellt, das in Rüßland praktisch die Syndikate in der
Industrie mit der kleinbäuerlichen Wirtschaft auf dem Lande verbunden
hat, daß solche Leute diesen konkreten Aufgaben mit scheinbar gelehrten,
in Wirklichkeit aber ganz einfältigen Betrachtungen über die „permanente
Die Zerrüttung und der Kampf des Proletariats dagegen 33
Revolution“, die .Einführung“ des Sozialismus und ähnlichem Unsinn
aus dem Wege gehen.
Zur Sache, zur Sache 1 Weniger Ausflüchte, mehr an die Praxis heran!
Soll man die Profite aus den Kriegslieferungen, Profite, die 500 Prozent
ausmachen, und dergleichen mehr unangetastet lassen, ja oder nein? Soll
die Unverletzlichkeit des Geschäftsgeheimnisses aufrechterhalten bleiben,
ja oder nein? Soll man den Arbeitern die Möglichkeit geben, kontrollieren
zu können, ja oder nein?
Auf diese sachlichen Fragen geben die Genossen Awilow und Basarow
keine Antwort, und ohne es selbst zu merken, sinken sie durch „Stru-
vesche“ Gedankengänge, die „beinah-marxistisch“ klingen, zu Helfers-
helfern der Bourgeoisie hinab. Der Bourgeois wünscht sich nichts sehn-
licher, als daß man auf die Fragen des Volkes nach den skandalösen
Profiten der Kriegslieferanten und nach der Zerrüttung, mit „gelehrten“
Betrachtungen über das „Utopische“ des Sozialismus antwortet.
Diese Betrachtungen sind bis zur Lächerlichkeit dumm, denn die ob-
jektive Unmöglichkeit des Sozialismus ist verbunden mit der Kleinwirt-
schaft, die wir nicht nur gar nicht expropriieren, sondern nicht einmal
regulieren oder auch nur kontrollieren wollen.
Die „staatliche Regulierung“, von der die Menschewiki, die Volks-
tümler und alle Bürokraten sprechen (von denen sich die Genossen Awi-
low und Basarow mitreißen ließen), um eine Ausrede zu haben, über die
sie Pläne schmieden, um die Profite der Kapitalisten zu sichern, über die
sie große Worte machen, um das Geschäftsgeheimnis unangetastet zu
lassen - gerade aus dieser staatlichen Regulierung wollen wir keinen Be-
trug machen lassen. Das ist der springende Punkt, liebe Beinah-Marxisten,
und nicht etwa die „Einführung“ des Sozialismus!
Regulierung und Kontrolle nicht seitens der Kapitalistenklasse über
die Arbeiter, sondern umgekehrt, das ist des Pudels Kern. Nicht Ver-
trauen zum „Staat“, das eines Louis Blanc würdig ist, sondern Forde-
rung nach einem von den Proletariern und Halbproletariem geleiteten
Staat, so muß der Kampf gegen die Zerrüttung geführt werden. Jede
andere Lösung ist nur Phrase und Betrug.
„ Pramda ’ Nr. 73. Nadi dem Text der „Praroda“.
17. (4.) Juni 1917.
Lenin. Werke. Bd. 25
DIE TAUSENDUNDERSTE LÜGE
DER KAPITALISTEN
Die „Retsch" schreibt heute im Leitartikel:
.Wenn in Deutschland bei bereitwilliger ausländischer Unterstützung von
Leuten wie Robert Grimm und Rakowski ein deutscher Lenin wirkte, so wäre
anzunehmen, daß die Internationale die große russische Revolution nicht hin-
dern würde, ihre Stellung zu festigen und vor allem, in die Tiefe zu wirken. Vor-
läufig aber haben die Deutschen höflich geantwortet, daß sie keine Republik
brauchten und mit ihrem Wilhelm zufrieden seien. Noch höflicher weist zum Bei-
spiel der .Vorwärts' 23 nach, daß die russische Demokratie die Geheimverträge nicht
dulden dürfe; über die deutsche Demokratie aber schweigt sich das sozialistische
Organ bescheiden aus.“
Daß .Leute wie Robert Grimm und Rakowski“ die Bolschewiki (mit
denen sie niemals einverstanden waren) in irgendeiner Weise „unter-
stützt“ hätten, ist eine Lüge.
Die „deutschen“ Pledianom (eben sie und nur sie schreiben im „Vor-
wärts“) mit den deutschen revolutionären Internationalisten in einen
Topf zu weifen, die zu Hunderten (wie Karl Liebknecht) in deutschen
Gefängnissen sitzen, das ist die tausendunderste niederträchtige und
freche Lüge der „Retsch“ und der Kapitalisten überhaupt.
Es gibt zwei Internationalen: 1. Die Internationale der Pledianom,
d. h. der Verräter am Sozialismus, d. h. der Leute, die auf die Seite ihrer
Regierungen übergegangen sind: Plechanow, Guesde, Scheidemann, Sem-
bat, Thomas, Henderson, Vandervelde, Bissolati und Co. ; 2. die Inter-
nationale der revolutionären Internationalisten, die überall, auch wäh-
rend des Krieges, gegen ihre Regierungen und gegen ihre Bourgeoisie den
revolutionären Kampf führen.
Die tausendunderste Lüge der Kapitalisten
35
Die „große russische Revolution“ kann nur dann zu einer „großen“
werden, „ihre Stellung festigen“ und „in die Tiefe wirken“, wenn sie
aufhört, die imperialistische „Koalitionsregierung und den von ihr ge-
führten imperialistischen Krieg zu unterstützen, wenn sie mit der Unter-
stützung der Kapitalistenklasse überhaupt Schluß macht.
„Pramda" Nr. 73.
17. (4.) Juni 1917.
Nadt dem Text der „Pramda“.
DIE ERZREAKTIONÄRE VOM 3. JUNI
SIND.FÜR DIE SOFORTIGE OFFENSIVE
Die Herren vom 3. Juni, die Nikolaus Romanow nach 1905 halfen,
unser Land mit Blut zu überschwemmen, die Revolutionäre hinzumor-
den, die Allmacht der Gutsbesitzer und Kapitalisten wiederherzustellen,
diese Herren sind gleichzeitig mit dem Sowjetkongreß zu einer eigenen
Konferenz 24 zusammengetreten.
Während Zereteli, den die Bourgeoisie in ihre Bande geschlagen hat,
durch tausend Winkelzüge versucht, von der Dringlichkeit, Wichtigkeit
und Aktualität der politischen Frage einer sofortigen Offensive abzu-
lenken, haben sich die Erzreaktionäre vom 3. Juni, die Kampfgenossen
Nikolaus’ des Blutigen und Stolypins des Henkers, die Gutsbesitzer und
Kapitalisten, nicht gescheut, auf diese Frage offen und ohne Umschweife
einzugehen. Hier ist die letzte und wichtigste, einstimmig von ihnen an-
genommene Resolution zur Offensive:
„Die Reichsduma (??) erkennt an, daß nur durch die sofortige Offensive, durch
enges Zusammenwirken mit den Verbündeten eine Gewähr für die rasche Be-
endigung des Krieges und für die dauernde Festigung der vom Volke eroberten
Freiheiten gegeben ist.“
Das ist eine klare Sprache.
Das sind Politiker, Männer der Tat und treue Diener ihrer Klasse, der
Gutsbesitzer und Kapitalisten.
Wie aber dienen die Zereteli, Tschemow und Co. ihrer Klasse? Sie
beschränken sich auf fromme Wünsche in Worten, und in Wirklichkeit
unterstützen sie die Kapitalisten.
Zereteli versicherte, daß man über eine sofortige Offensive gar nicht
sprechen dürfe, denn wenn er, der Minister Zereteli, etwas von einer
Die Erzreaktionäre vom 3. Juni sind für die sofortige Offensive 37
„sofortigen“ Offensive wüßte, so würde er, der Minister, niemand etwas
davon sagen. Als Zereteli das erklärte, ahnte er nicht (welche Naivität!),
daß ihn die Erzreaktionäre vom 3. Juni schon widerlegt hatten, und zwar
durch die Tat, denn sie sind nicht im geringsten davor zurückgeschreckt,
sogar in einer Resolution vor aller Öffentlichkeit nicht nur von einer
Offensive im allgemeinen, sondern eben von der sofortigen Offensive zu
sprechen. Und sie hatten recht, das zu tun, denn das ist eine politische
Frage, eine Schicksalsfrage unserer ganzen Revolution.
Hier gibt es keinen Mittelweg : entweder für oder gegen die „sofortige
Offensive“; hier kann man sich nicht der Stimme enthalten; hier mit
Hinweisen oder Anspielungen auf das militärische Geheimnis ausweichen
wäre eines verantwortlichen Politikers geradezu unwürdig.
Für die sofortige Offensive sein, das bedeutet, dafür eintreten, daß
der imperialistische Krieg fortgesetzt wird, daß die russischen Arbeiter
und Bauern niedergemetzelt werden, um Persien, Griechenland, Galizien,
die Balkanvölker usw. zu versklaven, dafür eintreten, daß sich die Kon-
terrevolution wieder belebt und festigt, daß sich die Phrasen vom „Frie-
den ohne Annexionen“ endgültig in ein Nichts auflösen, eintreten für den
Krieg gerade um der Annexionen willen.
Gegen die sofortige Offensive sein, das bedeutet, dafür eintreten, daß
die Sowjets die gesamte Macht übernehmen, daß die revolutionäre In-
itiative der unterdrückten Klassen geweckt wird und daß die unterdrück-
ten Klassen aller Länder unverzüglich einen „Frieden ohne Annexionen“
anbieten, einen Frieden, der auf den präzisen Bedingungen des Sturzes
der kapitalistischen Herrschaft und der Befreiung ausnahmslos aller Kolo-
nien, ausnahmslos aller unterdrückten oder nicht gleichberechtigten Völ-
ker beruht.
Den ersten Weg beschreiten heißt mit den Kapitalisten Zusammen-
gehen für die kapitalistischen Interessen und zur Erreichung der kapita-
listischen Ziele, es ist der Weg des Vertrauens zu den Kapitalisten, die
bereits das dritte Jahr alles in der Welt und noch viel mehr versprechen,
wenn der Krieg „fortgesetzt“ wird „bis zum Sieg“.
Den zweiten Weg beschreiten heißt mit den Kapitalisten brechen, ihnen
mißtrauen, ihre schmutzige Habsucht zügeln und nicht zulassen, daß sie
sich weiter um Hunderte von Millionen an Kriegslieferungen bereichern ;
dieser Weg ist der des Vertrauens zu den unterdrückten Klassen und vor
38
W.I. Lenin
allem zu den Arbeitern aller Länder, der Weg des Vertrauens zu der
internationalen Arbeiterreoolution gegen das Kapital, der Weg der Unter-
stützung dieser Revolution mit allen Mitteln.
Nur zwischen diesen beiden Wegen kann man wählen. Zereteli, Tsdier-
now und Co. lieben Mittelwege. Hier kann es keinen Mittelweg geben,
und wenn sie schwanken oder sidi mit Phrasen herausreden, so werden
sie, die Zereteli, Tschemow und Co., sidi endgültig zu Werkzeugen in
den Händen der konterrevolutionären Bourgeoisie erniedrigen.
„Pramda' Nr. 74, Nach dem Text der .Pramda".
19. (6.1 Juni 1917.
EIN BÜNDNIS,
UM DIE REVOLUTION AUFZUHALTEN
Bei weitem nicht alle erkennen, daß die neue Koalitionsregierung ein
derartiges Bündnis der Kapitalisten mit den Führern der Volkstümler
und Menschewiki ist. Es ist möglich, daß auch die Minister, die diesen
Parteien angehören, das nicht erkennen. Indessen - es ist eine Tatsache.
Besonders anschaulich zeigte sich diese Tatsache am Sonntag, dem
4. Juni, als am Morgen in der Presse Berichte über die Reden von Milju-
kow und Maklakow erschienen, die diese auf einer Versammlung der
Konterrevolutionäre der dritten Duma gehalten hatten (der nach der Tra-
dition Nikolaus Romanows und Stolypins des Henkers sogenannten
„Reichsduma“), und am Abend die Minister Zeretdi und andere in ihren
Reden auf dem Gesamtrussischen Kongreß der Sowjets der Soldaten- und
Arbeiterdeputierten die Regierung und die Offensivpolitik verteidigten.
Miljukow und Maklakow, wie alle einigermaßen bedeutenden Führer
der Kapitalisten und der Konterrevolution, sind Männer der Tat, die den
Sinn des Klassenkampfes, wenn es ihre Klasse betrifft, ausgezeichnet be-
greifen. Sie haben deshalb auch in aller Klarheit von der Offensive ge-
sprochen, ohne nur eine Minute auf leeres Geschwätz über die Offen-
sive vom strategischen Standpunkt aus zu verschwenden, ein Geschwätz,
mit dem Zereteli sich selbst und andere zu betrügen suchte.
Nein, die Kadetten wissen, wo Barthel den Most holt. Sie wissen, daß
das Leben heute die Frage der Offensive nicht als strategische, sondern
als politische Frage auf die Tagesordnung gesetzt hat, als eine Frage, bei
der es um eine Wende in der gesamten russischen Revolution geht. Gerade
als politische Frage ist sie auch von den Kadetten in der „Reichsduma“
gestellt worden, so wie auch die Bolschewiki und überhaupt die Inter-
40
W. I. Lenin
nationalisten diese Frage noch am Sonnabendabend in ihrer schriftlichen
Erklärung an das Präsidium des Sowjetkongresses dargelegt haben.
„Das Schicksal Rußlands liegt in seinen Händen“, verkündete Maldakow, der
bekannte Helfershelfer Stolypins des Henkers, „und dieses Schicksal wird sich sehr
bald entscheiden.“ (Richtig I Richtig I) „Wenn es uns tatsächlich glückt, die Offensive
zu eröffnen und den Krieg nicht nur mit Resolutionen zu führen, nicht nur mit
Reden auf Kundgebungen und mit Fahnen, die man durch die Stadt trägt, sondern
ihn so ernsthaft zu führen, wie wir ihn zuvor geführt haben“ (Hört! Hörtl Das
sind historische Worte eines Führers der Kapitalisten : „wie mir ihn zuvor geführt
haben“!), „dann wird es bald zur völligen Gesundung Rußlands kommen.“
Das sind bemerkenswerte Worte, die man auswendig lernen und viele
Male durchdenken muß. Sie sind deswegen bemerkenswert, weil sie die
Klassenmahrheit sagen. Diese Wahrheit wurde ein klein wenig anders
auch von Miljukow wiederholt, der dem Petrograder Sowjet den Vor-
wurf machte: „Warum wird denn in der Erklärung (des Sowjets) nichts
von der Offensive gesagt“, und hervorhob, 'daß die italienischen Impe-
rialisten „eine bescheidene Frage“ (Ironie des Herrn Miljukow!) gestellt
hätten, nämlich : „Werden Sie zur Offensive übergehen oder nicht? Wo-
bei sie auf diese Frage ebenfalls keine bestimmte Antwort“ (vom Petro-
grader Sowjet) „erhalten hätten“. Maklakow gab dabei „seiner großen
Hochachtung“ gegenüber Kerenski Ausdruck, und Miljukow erklärte das:
„IA für Ate sehr“, sagte Miljukow, „daß das, was von unserem“ (riAtig! von
unserem, d. h. in den Händen der Kapitalisten befindüAen!) „Kriegsminister in
Ordnung gebraAt worden ist, von hier aus wiederum verdorben werden wird
und daß wir den letzten Moment verpassen werden, an dem wir auf die Frage
unserer Verbündeten, ob wir zur Offensive übergehen oder niAt, noA“ (man be-
aAte dieses „no A“ !) „eine sowohl für uns als auA für sie befriedigende Antwort
geben können.“
„Sowohl für uns als auch für sie“, sowohl für die russischen als auch
für die englischen, französischen und anderen Imperialisten ! Die Offen-
sive „kann“ sie „noch befriedigen“, d. h. ihnen helfen, Persien, Albanien,
Griechenland und Mesopotamien endgültig zu versklaven und sich die
gesamte, bei den Deutschen geraubte Beute zu sichern und die von den
deutschen Räubern gemachte Beute auch noch in die Tasche zu stecken.
Das ist das Wesen der Sache. Das ist die Klassenwahrheit über die poli-
tische Bedeutung der Offensive. Der Appetit der Imperialisten Rußlands,
Ein Bündnis, um die Revolution aufzuhalten 41
Englands und anderer soll befriedigt werden, man will den imperialisti-
schen Eroberungskrieg in die Länge ziehen und nicht den Weg des Frie-
dens ohne Annexionen gehen (dieser Weg ist nur bei Fortsetzung der
Revolution möglich), sondern den Weg des Krieges um der Annexionen
mitten.
Das ist das Wesen der Offensive vom Standpunkt der Außenpolitik
aus. Maklakow aber bestimmte in den oben angeführten historischen
Worten dieses Wesen vom Standpunkt der Innenpolitik aus. „Völlige
Gesundung Rußlands“ heißt im Munde Maklakows völliger Sieg der
Konterrevolution. Wer die schönen Reden Maklakows über die Zeit von
1905 und 1907-1913 nicht vergessen hat, der findet in fast jeder dieser
Reden die Bestätigung für eine solche Einschätzung.
Den Krieg führen, „wie mir ihn zuvor geführt haben“, „wir“, d. h. die
Kapitalisten, an ihrer Spitze der Zarl Diesen Krieg der Imperialisten
führen, das bedeutet „Gesundung“ Rußlands, d. h. den Kapitalisten
und Gutsbesitzern den Sieg sichern.
Das ist die Klassenwahrheit.
Die Offensive, wie immer sie auch militärisch gesehen ausgehen mag,
bedeutet politisch, daß der Geist des Imperialismus mehr Einfluß gewinnt,
daß imperialistische Stimmungen erstarken, daß man sich vom Imperia-
lismus beeindrucken läßt, sie bedeutet, daß das alte, nicht abgelöste Offi-
zierskorps der Armee gefestigt („den Krieg führen, mie mir ihn zuvor
geführt haben“) und die entscheidenden Positionen der Konterrevolution
gestärkt werden.
Ganz unabhängig davon, ob sie das wünschen oder nicht, ob sie das
einsehen oder nicht, haben Zereteli und Kerenski, Skobelew und Tscher-
now - nicht als Personen, aber als Führer der Parteien der Volkstümler
und Menschewiki - die Konterrevolution unterstützt und sind in diesem
entscheidenden Augenblick auf deren Seite übergegangen, sind Partner
in einem Bündnis geworden, das dazu dient, die Revolution aufzuhalten
und den Krieg fortzusetzen, „mie mir ihn zuvor geführt haben“.
Darüber darf man sich keiner Täuschung hingeben.
„ Pramda ' Nr. 74,
19. (6.) Juni 1917.
Nah dem Text der „Pramda“.
42
DANKSAGUNG
Wir sind der chauvinistischen Zeitung „Wolja Naroda“ 25 für den
Nachdruck unserer Dokumente über die Reise durch Deutschland in ihrer
Nummer vom 4. Juni sehr dankbar. Aus diesen Dokumenten geht her-
vor, daß wir schon damals das Verhalten Grimms als „zweideutig“ er-
kannt und auf seine Dienste verzichtet haben.
Das ist eine Tatsache, und Tatsachen können nicht aus der Welt ge-
schafft werden.
Auf die dunklen Anspielungen der „Wolja Naroda“ aber antworten
wir: Seien Sie keine Feiglinge, meine Herren, beschuldigen Sie uns offen
eines bestimmten Verbrechens oder Vergehens! Versuchen Sie es! Ist es
denn schwer zu begreifen, daß es unehrlich ist, sich in dunklen Anspie-
lungen zu ergehen, aber Angst zu haben, die Anschuldigung mit der
eigenen Unterschrift zu decken?
„ Pramda " Nr. 74,
19. (6.) Juni 1917.
Nach dem Text der „Pramda'.
GIBT ES EINEN WEG
ZU EINEM GERECHTEN FRIEDEN?
Gibt es einen Weg zu einem Frieden ohne Austausch von Annexionen
(Eroberungen), ohne Aufteilung der Beute unter den kapitalistischen
Räubern?
Es gibt einen solchen Weg, er führt über die Arbeiterrevolution gegen
die Kapitalisten aller Länder.
Rußland steht jetzt dem Beginn einer solchen Revolution am nächsten.
Nur in Rußland ist der Übergang der Macht an bereits vorhandene
Körperschaften, an die Sowjets, sofort, auf friedlichem Wege, ohne Auf-
stand möglich, denn die Kapitalisten werden den Sowjets der Arbeiter-,
Soldaten- und Bauerndeputierten keinen Widerstand entgegensetzen,
können.
Bei einem solchen Übergang der Macht könnte man den Kapitalisten,
die Milliarden an Kriegslieferungen verdienen, Zügel anlegen, man
könnte alle ihre Machenschaften aufdecken, könnte die Millionäre ver-
haften, die den Staat bestehlen, und würde ihre Allmacht brechen.
Nur nach dem Übergang der Macht an die unterdrückten Klassen
könnte sich Rußland an die unterdrückten Klassen der anderen Länder
wenden, nicht mit leeren Worten und nichtssagenden Aufrufen, sondern
mit dem Hinweis auf das eigene Beispiel, mit einem sofortigen präzisen
Angebot mit klaren Bedingungen für einen allgemeinen Frieden.
Genossen Arbeiter und Werktätige aller Länder! würde es in diesem
Angebot eines sofortigen Friedens heißen. Genug des Blutvergießens.
Der Frieden ist möglich. Ein gerechter Frieden ist ein Frieden ohne An-
nexionen, ohne Eroberungen. Sollen die deutschen kapitalistischen Räuber
samt ihrem gekrönten Räuber Wilhelm wissen, daß wir uns mit ihnen
44
W. I. Lenin
nicht verständigen werden, daß wir als ihre Annexionen nicht nur das
ansehen, was sie nach dem Kriegsausbruch zusammengeraubt haben, son-
dern auch Elsaß-Lothringen, auch die dänischen und die polnischen Ge-
biete Preußens.
Als Annexionen der russischen Zaren und Kapitalisten betrachten wir
auch Polen, auch Finnland, auch die Ukraine und die übrigen nicht groß-
russischen Gebiete.
Als Annexionen der englischen, französischen und anderen Kapita-
listen betrachten wir alle ihre Kolonien, Irland und so weiter.
Wir, die russischen Arbeiter und Bauern, werden kein einziges der
nicht großrussischen Gebiete und keine Kolonie (wie Turkestan, die
Mongolei, Persien) gewaltsam festhalten. Nieder mit dem Krieg, der ge-
führt wird um die Aufteilung der Kolonien, um die Aufteilung der An-
nexionen (Eroberungen), um die Aufteilung des kapitalistischen Raubes!
Dem Beispiel der russischen Arbeiter werden unvermeidlich - vielleicht
nicht gleich morgen (Revolutionen werden nicht auf Bestellung ge-
macht), aber doch unvermeidlich - die Arbeiter und Werktätigen wenig-
stens zweier großer Länder folgen, Deutschlands und Frankreichs.
Denn diese Länder gehen beide zugrunde, das eine durch Hungersnot,
das andere durch Entvölkerung. Sie werden beide zu unseren gerechten
Bedingungen Frieden schließen, trotz ihrer kapitalistischen Regierungen.
Der Weg zum Frieden liegt vor uns.
Sollten die Kapitalisten Englands, Japans und Amerikas versuchen, sich
einem solchen Frieden zu widersetzen, dann werden die miterdrückten
Klassen sowohl Rußlands als auch der anderen Länder vor einem revo-
lutionären Krieg gegen die Kapitalisten nicht zurückschredcen. In einem
solchen Krieg werden sie nicht nur die Kapitalisten der drei von Rußland
fernab liegenden und miteinander im Konkurrenzkampf verstrickten Län-
der besiegen, sie werden die Kapitalisten der ganzen Welt besiegen.
Der Weg zu einem gerechten Frieden liegt vor uns. Fürchten wir uns
nicht, ihn zu beschreiten.
„ Pramda ' Nr. 75,
20. (7.) Juni 1917.
Nach dem Text der .Pramda“.
ÜBER DIE VOLKSFEINDE
Unlängst erinnerte das Pledianowsdie „Jedinstwo“ (das sogar von dem
Sozialrevolutionären „Delo Naroda“ mit Recht als Blatt bezeichnet wird,
das mit der liberalen Bourgeoisie einig ist) an das Gesetz der französi-
schen Republik von 1793 über die Volksfeinde.
Eine sehr zeitgemäße Erinnerung.
Die Jakobiner von 1793 waren die Vertreter der revolutionärsten
Klasse des 18. Jahrhunderts, der armen Bevölkerungsschichten in Stadt
und Land. Gegen diese Klasse, die in der Tat (nicht nur in Worten) mit
ihrem Monarchen, ihren Gutsherren und gemäßigten Bourgeois bei An-
wendung der revolutionärsten Mittel bis zur Guillotine abgerechnet hatte,
gegen diese wahrhaft revolutionäre Klasse des 18. Jahrhunderts zogen die
verbündeten Monarchen Europas in den Krieg.
Die Jakobiner erklärten diejenigen zu Volksfeinden, die „die Pläne der
verbündeten Tyrannen gegen die Republik begünstigen“.
Das Beispiel der Jakobiner ist lehrreich. Es ist auch bis auf den heuti-
gen Tag nicht veraltet, nur muß man es auf die revolutionäre Klasse des
20. Jahrhunderts, auf die Proletarier und Halbproletarier anwenden. Für
diese Klasse im 20. Jahrhundert sind nicht die Monarchen die Volks-
feinde, sondern die Klasse der Gutsbesitzer und Kapitalisten.
Wenn die Macht an die „Jakobiner“ des 20. Jahrhunderts, die Prole-
tarier und Halbproletarier, überginge, so würden sie zu Volksfeinden die
Kapitalisten erklären, die Milliardensummen im imperialistischen Krieg
zusammenraffen, das heißt in einem Krieg, der um die Verteilung des
Raubes und der Profite der Kapitalisten geführt wird.
Die „Jakobiner“ des 20. Jahrhunderts würden die Kapitalisten nicht
46
W. I. Lenin
guillotinieren - ein gutes Beispiel nachahmen heißt nicht, es kopieren. Es
würde genügen, 50 bis 100 Bankmagnaten zu verhaften, die größten Mei-
ster im Plündern der Staatskasse und in dunklen Bankgeschäften. Es
würde genügen, sie auf einige Wochen festzusetzen, um ihre Machen-
schaften aufzudecken, um allen Ausgebeuteten zu zeigen, „wer den Krieg
braucht“. Sind die Machenschaften der Bankkönige aufgedeckt, so könnte
man sie freilassen, nachdem man die Banken und Syndikate der Kapita-
listen und alle Unternehmer, die für den Staat „arbeiten“, unter die Kon-
trolle der Arbeiter gestellt hat.
Die Jakobiner von 1793 sind in die Geschichte eingegangen als leuch-
tendes Vorbild eines wirklich revolutionären Kampfes der Klasse der
Werktätigen und Unterdrückten, die im Kampf gegen die Klasse der Aus-
beuter die gesamte Staatsgewalt in ihre Hände nahm.
Das erbärmliche „Jedinstwo“ (selbst die menschewistischen „Vater-
landsverteidiger“ schämten sich des Blocks mit ihm) will vom Jakobiner-
tum nur den Buchstaben entlehnen, nicht aber seinen Geist, nur seine
äußere Form, nicht aber den Inhalt seiner Politik. Das ist im Grunde
gleichbedeutend mit Verrat an der Revolution des 20. Jahrhunderts, einem
Verrat, der durch verlogene Hinweise auf die Revolutionäre des 18. Jahr-
hunderts verdeckt werden soll.
„PramieT Nr. 75. Nadt dem Text der „Pramda".
20. (7.) Juni 1917.
47
NOTIZ
Aus dem „Nowoje Wremja“ 26 vom 6. Juni :
.Wie kommt es, daß in den Tagen der Freiheit, man weiß nicht woher, diese
schwarze Hand sich hervorgestreckt hat und die Marionetten der russischen Demo-
kratie bewegt? Lenin I . . . Aber sein Name ist Legion. An jeder Straßenecke springt
ein Lenin hervor. Es wird klar, daß die Stärke hier nicht in Lenin selbst liegt, son-
dern in der Aufnahmefähigkeit des Bodens für die Saat der Anarchie und des
Wahnsinns.“
Als Anarchie bezeichnen wir es, wenn die Kapitalisten durch Kriegs-
lieferungen skandalöse Profite einheimsen. Wahnsinn nennen wir die Füh-
rung eines Krieges um der Aufteilung der Annexionen, um der Auftei-
lung der kapitalistischen Profite willen. Und wenn „an jeder Straßen-
ecke“ eben diese Ansichten Sympathien finden, so liegt das daran, daß
diese Ansichten die Interessen des Proletariats, die Interessen aller Werk-
tätigen und Ausgebeuteten richtig zum Ausdruck bringen.
„ Prawda “ Nr. 75.
20. (7.) Juni 1917.
Nach dem Text der „ Pramda ".
„DAS GROSSE ABSCHWENKEN“
Das „große Abschwenken der Bourgeoisie von der Regierung“ - so
bezeichnete am Sonntag der Referent des Exekutivkomitees die Bildung
der Koalitionsregierung, den Eintritt ehemaliger Sozialisten in die Regie-
rung 27 .
Nur die ersten beiden Worte dieses Ausspruchs sind richtig. Das
„große Abschwenken“ ist in der Tat kennzeichnend, will man den 6. Mai
(die Bildung der Koalitionsregierung) verstehen. Das „große Abschwen-
ken“ hat tatsächlich begonnen oder, richtiger gesagt, es ist an diesem Tage
besonders anschaulich zutage getreten. Nur war das nicht das große Ab-
schwenken der Bourgeoisie von der Regierung, sondern das große Ab-
schwenken der Führer des Menschewismus und der Volkstümlerrichtung
von der Revolution.
Die Bedeutung des jetzt stattfindenden Kongresses der Sowjets der
Soldaten- und Arbeiterdeputierten besteht gerade darin, daß er das
äußerst klar und anschaulich gezeigt hat.
Der 6. Mai war ein gewinnreicher Tag für die Bourgeoisie. Ihre Regie-
rung stand am Rande des Untergangs. Die Massen waren offenkundig
und unbedingt, heftig und unversöhnlich gegen sie. Ein einziges Wort der
volkstümlerischen und menschewistischen Führer des Sowjets hätte ge-
nügt, die Regierung zu veranlassen, ihre Macht ohne Widerspruch aus
den Händen zu geben, und Lwow war in der Sitzung im Marienpalast ge-
zwungen, das offen zuzugeben.
Die Bourgeoisie unternahm ein geschicktes Manöver, das den russi-
schen Kleinbürgern und überhaupt den breiten Massen in Rußland gänz-
lich unbekannt ist, ein Manöver, das die intelligenzlerischen Führer des
.Das große Abschmeriken “
Menschewismus und der Volkstümlemdhtung berauschte und ihre Louis-
Blanc-Natur richtig in Rechnung zog. Wir erinnern daran, daß Louis
Blanc ein berühmter kleinbürgerlicher Sozialist war, der 1848 in die Re-
gierung eintrat und 1871 zu gleichermaßen trauriger Berühmtheit ge-
langte. Louis Blanc hielt sich für den Führer der „Arbeitsdemokratie“
oder der „sozialistischen Demokratie“ (gerade dieses letztere Wort wurde
1848 in Frankreich nicht minder häufig gebraucht als 1917 in der Litera-
tur der Sozialrevolutionäre und der Menschewiki), in Wirklichkeit aber
war Louis Blanc ein Anhängsel der Bourgeoisie, ein Spielzeug in ihren
Händen.
In den fast 70 Jahren, die seit jener Zeit vergangen sind, hat die Bour-
geoisie im Westen wieder und wieder dieses Manöver durchgeführt, das
für Rußland neu ist. Das Wesen dieses Manövers besteht darin, daß man
die vom Sozialismus und von der Revolution „abschwenkenden“ Führer
der „sozialistischen Demokratie“ zu einem für die Bourgeoisie unschäd-
lichen Anhängsel der bürgerlichen Regierung macht, diese Regierung mit
Hilfe der beinah-sozialistischen Minister vor dem Volke schützt und das
konterrevolutionäre Wesen der Bourgeoisie durch das glänzende, wir-
kungsvolle Aushängeschild des „sozialistischen“ Ministerialismus ver-
deckt.
In Frankreich ist diese Methode der Bourgeoisie besonders gut ausge-
arbeitet worden, und auch in den angelsächsischen, den skandinavischen
und in vielen romanischen Ländern wurde sie vielfach erprobt. Der
6. Mai 1917 in Rußland war eben ein solches Manöver.
„Unsere“ beinah-sozialistischen Minister sind in eine solche Lage
geraten, wo die Bourgeoisie sich von ihnen die Kastanien aus dem
Feuer holen läßt, wo sie mit ihrer Hilfe das vollbringt, wozu sie
selbst ohne die beinah-sozialistischen Minister niemals imstande gewesen
wäre.
Mit Hilfe von Gutschkow konnte man die Massen für die Fortsetzung
des imperialistischen Krieges, eines Eroberungskrieges, nicht begeistern,
eines Krieges, der geführt wird um die Aufteilung der Kolonien und der
Annexionen überhaupt. Mit Hilfe von Kerenski aber (und Zereteli, der
sich mehr damit beschäftigt, Tereschtschenko zu verteidigen als die Inter-
essen der Post- und Telegrafenarbeiter wahrzunehmen) konnte die Bour-
geoisie, wie Miljukow und Maklakow richtig zugegeben haben, dies er-
Lenin. Werke. Bd. 25
50
W.I. Lenin
reichen, konnte sie die Sache „in Ordnung bringen“, diesen Krieg fort-
setzen.
Mit Hilfe von Schingarjow konnte man nicht gewährleisten, daß der
gutsherrliche Grundbesitz wenigstens bis zur Einberufung der Konstitu-
ierenden Versammlung erhalten bleibt (kommt es zur Offensive, so wird
das die „völlige Gesundung Rußlands“ sein, sagte Maklakow; also wird
auch die Konstituierende Versammlung eine „gesundete“ sein). Mit Hilfe
von Tsdiemow wird das gelingen. Den Bauern hat man eingeredet - be-
sonders gern haben sie nicht darauf gehört -, es sei „Ordnung“, wenn
man Land vom Gutsbesitzer auf Grund der Vereinbarungen mit den
einzelnen Gutsbesitzern pachtet, dagegen sei es „Anarchie“, den guts-
herrlichen Grundbesitz sofort abzuschaffen und bis zur Einberufung der
Konstituierenden Versammlung die bisherigen Gutsbesitzerländereien
vom Volke zu pachten. Anders als mit Hilfe von Tschemow wäre es nicht
gelungen, diesen konterrevolutionären Gedanken der Gutsbesitzer durch-
zusetzen.
Mit Hilfe von Konowalow hätte man die skandalösen Profite aus den
Kriegslieferungen nicht gewährleisten können (und nicht erhöhen kön-
nen: siehe die ministerielle Zeitung „Rabotschaja Gaseta“ über die Berg-
bauindustriellen). Durch Skobelew oder unter seiner Mitwirkung kann
man das, indem man angibt, beim alten bleiben zu müssen, indem man
beinah-„marxistisch“ die Möglichkeit verneint, den Sozialismus „ein-
führen“ zu können.
Der Sozialismus kann nicht eingeführt werden, deshalb darf man die
skandalös hohen Profite der Kapitalisten, die sie nicht in ihrer rein kapi-
talistischen Wirtschaft, sondern durdi ihre Lieferungen für das Militär,
für den Staat, erzielen, deshalb darf man diese Profite vor dem Volk
verheimlichen und aufrechterhalten ! Das ist die großartige Betrachtungs-
weise nach Struve, in der Tereschtschenko und Lwow mit dem „Mar-
xisten“ Skobelew übereinstimmen.
Mit Hilfe von Lwow, Miljukow, Tereschtschenko, Schingarjow und Go.
kann man auf die Volksversammlungen und die Sowjets keinen Einfluß
ausüben. Mit Hilfe von Zereteli. Tschemow und Co. kann man diese
aber in der bisherigen, der bürgerlichen Richtung beeinflussen, kann
man die bisherige, die bürgerlich-imperialistische Politik mit besonders
wirkungsvollen und besonders „menschenfreundlich“ klingenden Phrasen
„Das große Abschtoenkerf
51
betreiben, bis zur Leugnung des elementaren demokratischen Rechts, die
örtlichen Machtorgane zu wählen und deren Ernennung oder Bestätigung
von oben nicht zuzulassen.
Da Zereteli, Tschemow und Co. dieses Recht verleugnen, sind sie in
Wirklichkeit, ohne es selbst zu merken, aus ehemaligen Sozialisten ehe-
malige Demokraten geworden.
Ein „großes Abschwenken“, ohne Zweifel!
„ Praivda “ Nr. 76, Nach dem Text der J’randa ".
21. (8.) Juni 1917.
VON DER NÜTZLICHKEIT
EINER SACHLICHEN POLEMIK
Liebe Genossen Mitarbeiter der „Nowaja Shisn“! Sie sind mit unserer
Kritik unzufrieden und nennen sie böse. Wir wollen uns bemühen, milde
und liebenswürdig zu sein.
Betrachten wir zunächst zwei Fragen, die Sie gestellt haben.
Kann man ernsthaft von einer Kontrolle der Produktion oder gar von
ihrer Regulierung sprechen, ohne die „Unantastbarkeit des Geschäfts-
geheimnisses“ aufzuheben?
Wir haben behauptet, daß die „Nowaja Shisn“ auf diese „sachliche“
Frage keine Antwort gibt. Die „Nowaja Shisn“ erwidert, daß wir eine
Antwort auf diese Frage „sogar“ in der „Rabotschaja Gaseta“ „finden“
könnten.
Wir finden keine, liebe Genossen! Auch Sie werden nie eine Antwort
finden. Suchen Sie, soviel Sie wollen. Sie werden keine finden.
Das Unrecht der „Nowaja Shisn“, nehmen Sie es mir nicht übel, be-
steht gerade darin, daß sie zwar über „Kontrolle“ deklamierte, die sach-
liche Frage nach der Unantastbarkeit des Geschäftsgeheimnisses aber
sachlich gar nicht aufgeworfen hat.
Die zweite Frage: Darf man die sofortige Einführung des Sozialismus
(wogegen die „Nowaja Shisn“ polemisierte, doch wir haben so etwas gar
nicht vorgeschlagen) vermengen mit der sofortigen Einführung einer sach-
lichen Kontrolle über die Banken und Syndikate? Als wir diese Frage mit
dem Hinweis beantworteten, daß wir die Kleinwirtschaft weder expro-
priieren noch regulieren oder kontrollieren wollen, da entgegnete uns die
„Nowaja Shisn“ : „ein wertvolles Geständnis“, „berechtigt“, aber es komme
„zu plötzlich“.
Von der Nützlichkeit einer sachlichen Polemik
53
Aber, liebe Genossen, was ist daran „plötzlich“, es ist doch die kurze
Wiedergabe einer langen und ausführlichen Resolution unserer Konfe-
renz. Hat es Sie vielleicht nicht interessiert, diese Resolution durchzu-
lesen?
Es ist nützlich, sachlich zu polemisieren, schädlich aber ist es, einer
solchen Polemik mit Zweideutigkeiten aus dem Wege zu gehen.
„Pratoda" Nr. 76, Nach dem Text der „ Prämie
21. (8.) Juni 1917.
EINE SEUCHE DER VERTRAUENSSELIGKEIT
„Genossen, der Widerstand der Kapitalisten ist anscheinend gebro-
chen.“
Diese angenehme Botschaft entnehmen wir der Rede des Ministers
Peschechonow. Eine verblüffende Botschaft! „Der Widerstand der Kapi-
talisten ist gebrochen . .
Solche Ministerreden hört man sich an, solchen Ministererklärungen
klatscht man Beifall. Ist das nicht eine Seuche der Vertrauensseligkeit?
Einerseits schredct man sich und andere vor allem mit der „Diktatur
des Proletariats". Wodurch aber unterscheidet sich denn anderseits der
Begriff „Diktatur des Proletariats“ und das Brechen des Widerstands der
Kapitalisten? Durch gar nichts. Diktatur des Proletariats ist ein wissen-
schaftlicher Terminus, der die Klasse bestimmt, um die es geht, und der
die besondere Form der Staatsmacht festlegt, die man Diktatur r nnt,
nämlich eine Staatsmacht, die sich nicht auf das Gesetz und nichi auf
Wahlen stützt, sondern unmittelbar auf die bewaffnete Macht dieses oder
jenes Teiles der Bevölkerung.
Worin bestehen Sinn und Bedeutung der Diktatur des Proletariats? Sie
bestehen eben darin, daß der Widerstand der Kapitalisten gebrochen
wird! Wenn in Rußland „der Widerstand der Kapitalisten anscheinend ge-
brochen ist“, so besagt dieser Ausspruch genau dasselbe, als sagten wir:
In Rußland „ist die Diktatur des Proletariats anscheinend verwirklicht“.
Das Unglück ist „nur“, daß wir es mit nichts weiter zu tun haben als
mit der Phrase eines Ministers. So etwa, wie Skobelews forscher Ausruf:
„Ich werde 100 Prozent des Profits einziehen.“ 28 Es ist das eine der Blü-
ten der „revolutionär-demokratischen“ Schönrednerei, die sich jetzt über
Rußland ergießt, die das Kleinbürgertum berauscht, die Volksmassen irre-
Eine Seuche der Vertrauensseligkeit
55
leitet und verdummt und die Bazillen der Seuche der Vertrauensseligkeit
massenweise ausstreut.
In einem französischen Lustspiel - die Franzosen haben es anscheinend
weiter als andere Völker darin gebracht, sozialistische Regierung zu spie-
len - gibt es ein Grammophon, das in Wählerversammlungen in allen
Gegenden Frankreichs eine Rede mit den Versprechungen eines „sozia-
listischen“ Ministers wiederholt. Wir sind der Meinung, der Bürger
Peschechonow sollte seinen historischen Ausspruch: „Genossen, der
Widerstand der Kapitalisten ist anscheinend gebrochen“, einer Grammo-
phonplattengesellschaft übergeben. Es wäre sehr gut und nützlich (für die
Kapitalisten), diesen Ausspruch in allen Sprachen in der ganzen Welt zu
verbreiten: seht, hier sind die glänzenden Erfolge des russischen Experi-
ments einer Koalitionsregierung der Bourgeoisie mit den Sozialisten!
Immerhin könnte es nicht schaden, wenn der Bürger Minister Pesche-
chonow, den jetzt, nachdem er zusammen mit Zereteli und Tschemow in
die Regierung eingetreten ist, auch die Menschewiki und- Sozialrevolutio-
näre als Sozialisten bezeichnen (im Jahre 1906 rückten sie in der Presse
von ihm ab, als von einem Kleinbürger, der zu weit nach rechts gegangen
war), wenn der Bürger Peschechonow uns jetzt eine einfache und beschei-
dene Frage beantwortete:
Lassen wir das Gerede von der Brechung des Widerstands der Kapi-
talisten! Sollten wir nicht lieber vor den Arbeiterorganisationen und vor
allen großen Parteien die unerhörten Profite der Kapitalisten aufdecken?
Sollten wir nicht das Geschäftsgeheimnis aufheben?
Lassen wir das Gerede von der „Diktatur des Proletariats" („den
Widerstand der Kapitalisten brechen“)! Wäre es nicht besser, aufzu-
decken, wie die Staatskasse geplündert wird?
Sieht es nicht nach Plünderung der Staatskasse aus, wenn die revolu-
tionäre Regierung, wie die ministerielle „Rabotschaja Gaseta“ berichtete,
die Preise für die Kohlenlieferungen erhöht hat? Wäre es nicht besser,
mindestens allwöchentlich die „Garantiebriefe“ der Banken und andere
Dokumente über die Kriegslieferungen und die Preise dieser Lieferungen
zu veröffentlichen, statt über den „gebrochenen Widerstand der Kapi-
talisten“ Reden zu halten?
„ Pramda “ Nr. 76, Nach dem Text der „Prawda".
21. (8.) Juni 1917.
56
EINE TAUBE AUF DEM DACH
ODER EIN SPERLING IN DER HAND
Minister Peschechonow hat in seiner Rede viel von herrlichen und
großen Dingen gesprochen: „das, was wir besitzen, soll gleichmäßig ver-
teilt werden“, und „der Widerstand der Kapitalisten ist anscheinend ge-
brochen“ und ähnliches mehr.
Er hat aber nur eine präzise Zahl angeführt. In seiner Rede wird nur
auf eine einzige präzise Tatsache hingewiesen, und von acht Spalten der
Rede sind ihr ganze sechs Zeilen gewidmet. Diese Tatsache ist folgende:
Der Fabrikpreis der Nägel beträgt 20 Kopeken das Pfund, die Bevölke-
rung aber zahlt pro Pfund bis zu 2 Rubel.
Wäre es nicht möglich, wenn doch „der Widerstand der Kapitalisten
gebrochen ist“, ein Gesetz zu erlassen über die Veröffentlichung: 1. aller
Garantiebriefe über Lieferpreise? 2. aller Preise für Lieferungen an den
Staat überhaupt? 3. der Selbstkosten der dem Staat gelieferten Produkte?
Und kann man nicht 4. den Arbeiterorganisationen die Möglichkeit geben,
alle Tatsachen dieser Art nachzuprüfen?
.Pratoda' Nt. 76, Nach dem Text der .Pramda“.
21. (8.) Juni 1917.
DEN SOZIALISMUS EINFÜHREN
ODER AUFDECKEN, WIE DIE STAATSKASSE
GEPLÜNDERT WIRD?
Es ist eine ausgemachte Sache, daß man den Sozialismus in Rußland
nicht einführen kann. Das hat - beinah ganz marxistisch wie schon
vorher die menschewistisch-ministerielle „Rabotschaja Gaseta“, Herr Mi-
ljukow auf der Konferenz der Erzreaktionäre vom 3. Juni bewiesen. Dar
mit hat sich die in Rußland überhaupt und insbesondere auf dem Sowjet-
kongreß größte Partei, die der Sozialrevolutionäre, einverstanden erklärt.
Sie ist nicht nur die größte Partei, sondern hat auch vor dem Weiter-
führen der Revolution in Richtung zum Sozialismus hin die größte Angst
aus ideellen (nicht eigennützigen) Gründen.
Eigentlich braucht man lediglich die Resolution der bolschewistischen
Konferenz vom 24.-29. April 1917 nachzulesen, tun zu sehen, daß auch
die Bolschewiki die sofortige „Einführung“ des Sozialismus in Rußland
für unmöglich halten.
Warum also der Streit? Wozu der Lärm?
Deswegen, um durch das Geschrei gegen die „Einführung“ des Sozia-
lismus in Rußland (viele tun es unbewußt) die Anstrengungen derjenigen
zu unterstützen, die sich dagegen sträuben, daß man aufdeckt, wie die
Staatskasse geplündert wird.
Wir wollen nicht über Worte streiten, Bürger! Das ist nicht nur „revo-
lutionärer Demokraten“, sondern erwachsener Menschen überhaupt un-
würdig. Reden wir nicht über die von „allen“ abgelehnte „Einführung“
des Sozialismus. Sprechen wir lieber davon, daß es aufzudecken gilt, wie
die Staatskasse geplündert wird.
Wenn die Kapitalisten für die Landesverteidigung, d. h. für den Staat
arbeiten, so liegt es auf der Hand, daß dies schon kein „reiner“ Kapita-
lismus mehr ist, sondern eine besondere Art der Volkswirtschaft Der
58
W. I. Lenin
reine Kapitalismus ist Warenproduktion. Warenproduktion ist Arbeit
für einen nidit bekannten, freien Markt. Der für die Landesverteidigung
„arbeitende“ Kapitalist aber „arbeitet“ gar nicht für den Markt, sondern
auf Bestellung des Staates, in der Regel sogar mit dem Geld, das er vom
Staat vorgestreckt bekommt.
Verheimlicht man die Höhe des Profits bei dieser eigenartigen Opera-
tion, eignet man sich Profit über das hinaus an, was zur Deckung der
Unterhaltskosten der tatsächlich an der Produktion mitwirkenden Men-
schen notwendig ist, so ist das unserer Meinung nach ein Plündern der
Staatskasse.
Wenn ihr diese Meinung nicht teilt, so steht ihr in offensichtlichem
Gegensatz zu der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung. Es besteht
nicht der geringste Zweifel, daß die Arbeiter und Bauern Rußlands in
ihrer großen Masse diese Meinung teilen und sie offen zum Ausdruck
bringen würden, wenn man ihnen die Frage ohne Winkelzüge, ohne
Ausflüchte und ohne diplomatische Verschleierungen vorlegte.
Teilt ihr aber diese Meinung, dann wollen wir gemeinsam gegen die
Winkelzüge und Ausflüchte kämpfen.
Um bei solch einem gemeinsamen Unternehmen, wie es dieser Kampf
ist, die größte Nachgiebigkeit, das größte Entgegenkommen zu zeigen,
gestatten wir uns, dem Sowjetkongreß folgenden Resolutionsentwurf vor-
zuschlagen:
„Der erste Schritt, nicht nur zur Regulierung, sondern selbst zur ein-
fachen Kontrolle von Produktion und Verteilung“ (Anmerkung, die nicht
zum Text der Resolution gehört : Hat doch sogar der Minister Pesche-
chonow versprochen, danach zu streben, daß „das, was wir besitzen,
gleichmäßig verteilt werden soll“), „der erste Schritt zu jedem ernsthaften
Kampf gegen die Zerrüttung und die über das Land hereinbrechende
Katastrophe muß eine Verordnung über die Aufhebung des Geschäfts-
geheimnisses (darunter auch des Bankgeheimnisses) in allen Angelegen-
heiten sein, die mit den Lieferungen für den Staat oder überhaupt für
die Landesverteidigung Zusammenhängen. Diese Verordnung ist zu er-
gänzen durch ein sofort in Kraft tretendes Gesetz, wonach jeder direkte
oder indirekte Versuch strafrechtlich geahndet wird, entsprechende Doku-
mente oder Tatsachen vor Personen oder Gruppen zu verheimlichen, die
bevollmächtigt sind :
Den Sozialismus einführen oder auf decken, mie die Staatskasse ... 59
a) von einem beliebigen Sowjet der Arbeiter-, Soldaten- oder Bauem-
deputierten ;
b) von einem beliebigen Gewerksdiaftsverband der Arbeiter oder An-
gestellten usw. ;
c) von einer beliebigen großen politischen Partei (wobei der Begriff
.große“ Partei, sagen wir nadi der Zahl der Wähler, genau definiert sein
muß).“
Alle sind sich darüber einig, daß die sofortige Einführung des Sozia-
lismus in Rußland unmöglich ist.
Sind sich auch alle darüber einig, daß es notwendig ist, sofort aufzu-
decken, wie die Staatskasse geplündert wird?
„Pramda" Nr. 77, Nach dem Text der „ Pramda *.
22. (9.) Juni 1917. .
IN VERWIRRUNG UND ANGST GERATEN
In Petrograd herrscht jetzt eine Atmosphäre der Angst und Einschüch-
terung, die ein geradezu unerhörtes Ausmaß annimmt.
Ein kleiner Vorfall veranschaulichte dies, noch ehe der große Fall, das
Verbot der von unserer Partei für Sonnabend angesagten Demonstration,
eintrat. 29
Der kleine Vorfall betraf die Beschlagnahme der Villa Dumowo : Mini-
ster Perewers ew hatte zunächst die Räumung der Villa Dumowo ange-
ordnet, erklärte aber später auf dem Kongreß, daß er den zur Villa ge-
hörenden Garten dem Volke überlasse und daß auch die Gewerkschaften
aus der Villa Durnowo gar nicht exmittiert werden würden! Es hätten
lediglich einige Anarchisten verhaftet werden sollen. 30
War die Beschlagnahme der Villa Dumowo ungesetzlich, so durften
weder der Garten dem Volke überlassen noch die Gewerkschaften in der
Villa belassen werden. Lag ein gesetzlicher Grund zu Verhaftungen vor,
so hat die Verhaftung von Personen nichts mit der Villa zu tun, eine
solche Verhaftung könnte in oder außerhalb der Villa erfolgen. Das Resul-
tat ist, daß es weder zur „Räumung“ der Villa noch zu Verhaftungen
kam. Die Regierung hat sich in die Lage von Leuten hineinmanövriert,
die in Verwirrung und Angst geraten sind. Wären diese Leute nicht ner-
vös geworden, so hätte es auch keinen „Zwischenfall“ gegeben, denn es
ist ja sowieso alles beim alten geblieben.
Der große Fall betrifft die Demonstration. Das ZK unserer Partei hatte
zusammen mit einer ganzen Reihe anderer Organisationen, darunter auch
dem Vorstand der Gewerkschaften, eine friedliche Demonstration, einen
Marsch durch die Straßen der Hauptstadt angesetzt. In jedem konstitutio-
In Verminung und Angst geraten
61
nellen Lande ist die Veranstaltung soldier Demonstrationen ein absolut
unbestrittenes Recht der Bürger. In keinem freien Lande erblickt die Ge-
setzgebung in einer friedlichen Straßendemonstration etwas Gesetzwid-
riges, selbst wenn sie unter anderem auch die Losung der Abänderung
der Verfassung oder einer Änderung in der Zusammensetzung der Re-
gierung aufstellt.
Die in Verwirrung und Angst geratenen Leute, darunter besonders die
Mehrheit des Sowjetkongresses, machen aus dieser Demonstration eine
unerhörte „Geschichte“. Die Mehrheit des Sowjetkongresses faßt eine
geharnischte Resolution gegen die Demonstration voll schärfster Aus-
drücke gegen unsere Partei und verbietet alle, auch friedliche Demon-
strationen auf drei Tage.
Nachdem ein solch formeller Beschluß gefaßt worden ist, beschließt das
ZK unserer Partei bereits Freitag um 2 Uhr nachts, die Demonstration
abzusagen. Am Sonnabend morgen wird in einer eiligst einberufenen Be-
sprechung mit den Vertretern der Bezirke bekanntgegeben, daß die
Demonstration abgesagt ist.
Es bleibt die Frage, wie unsere zweite „Regierung“, der Sowjetkon-
greß, sein Verbot erklären will. Natürlich hat in einem freien Lande jede
Partei das Recht, Demonstrationen zu veranstalten, und jede Regierung
kann sie durch Verhängen des Ausnahmezustands verbieten, doch bleibt
die politische Frage: Weshalb ist die Demonstration verboten worden?
Hier ist das einzige politische Motiv, das in der Resolution des Sowjet-
kongresses klar ausgesprochen wird:
.... Es ist uns bekannt, daß die im Hintergrund lauernden Konter-
revolutionäre eure“ (d. h. die von unserer Partei geplante) „Aktion aus-
nutzen wollen
So sieht also der Grund für das Verbot der friedlichen Demonstration
aus. Dem Sowjetkongreß „ist bekannt“, daß es „im Hintergrund lauernde
Konterrevolutionäre“ gibt und daß sie gerade die Aktion, die unsere
Partei geplant hatte, „ausnutzen" wollten.
Das ist eine äußerst wichtige Erklärung des Sowjetkongresses. Diese
konkrete Erklärung, die sich durch ihre Konkretheit aus der Flut der
gegen uns gerichteten Schimpfworte abhebt, muß immer wieder hervor-
gehoben werden. Welche Maßnahmen ergreift unsere zweite Regierung
denn gegen die „im Hintergrund lauernden Konterrevolutionäre“? Was
ist dieser Regierung „bekannt“? Wie wollten die Konterrevolutionäre die-
sen oder jenen Anlaß ausnutzen?
Das Volk kann und wird nicht geduldig und untätig warten, bis diese
im Hintergrund lauernde Konterrevolution hervorbricht.
Wenn unsere zweite Regierung nicht in der Lage von Leuten bleiben
will, die durch Verbote und eine Flut von Schimpfworten zu verbergen
suchen, daß sie in Verwirrung geraten sind und sich von rechts einschüch-
tem ließen, so wird sie dem Volk über die „im Hintergrund lauernden
Konterrevolutionäre“ vieles sagen müssen, so wird sie vieles tun müssen,
um einen ernsthaften Kampf gegen diese Konterrevolutionäre zu führen.
„Pratoda" Nr. 79.
24. (11.) Juni 1917.
Nach dem Text der „ Pratoda *.
63
ANSPIELUNGEN
Keiner von all denen, die wüten, toben, rasen und die Zähne fletschen,
die unsere Partei mit einer unaufhörlichen Flut von Schmähungen und
Pogromdrohungen überschütten, beschuldigt uns irgendwie direkt, nur
„Anspielungen“ werden gemacht.
Worauf?
Nur auf eins können sie anspielen: Die Bolschewiki wollten einen
Staatsstreich durchführen, das sind Catilinas 31 , also Scheusale und Unge-
heuer, die es verdienen, in Stüdce gerissen zu werden.
Diese Dummheit offen auszusprechen, getrauen sich unsere Feinde
nicht, darum müssen sie darauf „anspielen“ und sich „literarisch“ aus-
toben. Denn diese Beschuldigung ist unwahrscheinlich dumm : ein Staats-
streich mit Hilfe einer friedlichen Demonstration, die am Donnerstag
beschlossen und auf Sonnabend angesetzt wurde und die am Sonnabend
morgen öffentlich bekanntgegeben werden sollte I Wem, meine Herr-
schaften. wollen Sie mit solch albernen Anspielungen etwas weismachen?
„Die Forderung, die Provisorische Regierung zu stürzen“, heißt es in
der Resolution des Sowjetkongresses. Einen Teil der Minister aus der
Provisorischen Regierung zu entfernen (eine der Aufschriften auf den
geplanten Transparenten lautete: Nieder mit den bürgerlichen Regie-
rungsmitgliedem), ist das ein Staatsstreich??
Warum aber hat niemand versucht, ja nicht einmal gedroht, wegen
der unzählige Male auf den Straßen Petersburgs getragenen Fahne mit
der Losung „Alle Macht den Sowjets“ die Schuldigen zur Verantwortung
zu ziehen?
Die Wütenden haben Angst vor der eigenen Courage bekommen.
64
W. I. Lenin
Eine Regierung, die weiß, daß sie sich in ihrer Gesamtheit auf den
Willen der Volksmehrheit stützt, braucht vor im voraus angekündigten
Kundgebungen keine Angst zu haben.
Sie wird diese nicht verbieten.
Nur wer weiß, daß er nicht die Mehrheit hat, daß er nicht die Zustim-
mung der Volksmassen besitzt, kann sich so wild wie ein Besessener ge-
bärden und in gehässigen Artikeln solche Anspielungen machen.
.Pramda" Nt 79. Nach dem Text der JPramda".
24. (11.) Juni 1917.
65
„BEUNRUHIGENDE GERÜCHTE“
Die Provisorische Regierung ermahnt heute die „Bevölkerung“ wegen
der „in der Stadt verbreiteten und die Bevölkerung beunruhigenden Ge-
rüchte“ zur Ruhe.
Ist die Provisorische Regierung nicht der Ansicht, daß ein Satz in der
Resolution des Sowjetkongresses tausendmal mehr als jegliche „Gerüchte“
Beunruhigung hervorruft und hervorrufen muß, nämlich folgender Satz:
„Es ist uns bekannt, daß die im Hintergrund lauernden Konterrevolu-
tionäre eure" (die bolschewistische) „Aktion ausnutzen wollen.“
Soll so etwas, was schon „mehr als ein Gerücht“ ist, die Bevölkerung
nicht beunruhigen?
„ Prawdä ’ Nt. 79. Nadi dem Text der .Pratvda".
24. (11.) Juni 1917.
Lenin, Werke, Bd. 25
EINE PREISFRAGE
Wodurch unterscheidet sich eine gewöhnliche bürgerliche Regierung von
einer nicht gewöhnlichen, revolutionären, sich nicht als bürgerlich betrach-
tenden Regierung?
Man sagt, durch folgendes:
Eine gewöhnliche bürgerliche Regierung kann Demonstrationen nur
verbieten im Einklang mit der Verfassung und nachdem sie erst den
Kriegszustand verhängt hat.
Eine nicht gewöhnliche, eine beinah-sozialistische Regierung kann De-
monstrationen ohne besondere Umstände verbieten, sie beruft sich ein-
fach auf „Tatsachen“, die nur sie allein kennt.
„Praroda" Nt. 79,
24. (11.) Juni 1917.
Nach dem Text der „Pratodo“.
ENTWURF EINER ERKLÄRUNG DES ZK DER
SDAPR(B) UND DES BÜROS DER FRAKTION DER
BOLSCHEWIKI AN DEN GESAMTRUSSISCHEN
SOWJETKONGRESS ANLÄSSLICH DES VERBOTS
DER DEMONSTRATION 32
Wir sind der Meinung, daß diese besondere Körperschaft, Sowjet der
Arbeiter-, Soldaten- und Bauemdeputierten genannt, einem das gesamte
Volk umfassenden Organ, einem revolutionären Parlament, das dem Wil-
len der Mehrheit des Volkes Ausdruck verleiht, am nächsten kommt.
Für den Übergang der gesamten Macht in die Hände eines solchen
Organs traten und treten wir prinzipiell ein, ungeachtet dessen, daß es
sich zur Zeit in den Händen der „Vaterlandsverteidiger“, der Parteien
der Menschewiki und Sozialrevolutionäre, befindet, die der Partei des
Proletariats feindlich gegenüberstehen.
Die in sich widerspruchsvolle, unsichere und schwankende Haltung
der Sowjets sowie ihre Ohnmacht gegenüber der Konterrevolution ist da-
durch bedingt, daß sie den Hort der Konterrevolution, die 10 bürger-
lichen Minister dulden und nicht mit dem englisch-französischen imperia-
listischen Kapital brechen. Diese Unsicherheit ist die Ursache für die
Nervosität der jetzigen Mehrheit der Sowjets und für ihr Gekeife gegen
diejenigen, die auf diese Unsicherheit binweisen.
Unseren Kampf gegen die Konterrevolution mit dem „Kampf“ der
ministerialistischen Parteien der Vaterlandsverteidigung zu koordinieren,
in Übereinstimmung zu bringen, lehnen wir ab.
Die Beschlüsse der Sowjets können von uns nicht als richtige Beschlüsse
eines wirklichen Machtorgans anerkannt werden, solange die 10 bürger-
lichen, konterrevolutionären Minister im Amt bleiben, die ganz im Geiste
Miljukows handeln und seine Klasse verkörpern. Aber selbst wenn die
Sowjets die gesamte Macht in ihre Hände nähmen (was wir wünschen
und stets unterstützen würden), wenn die Sowjets ein revolutionäres Par-
68
W. I. Lenin
lament mit uneingeschränkter Madit wären, selbst dann ordneten wir uns
seinen Beschlüssen nicht unter, wenn diese die Freiheit unserer Agita-
tion einschränkten, z. B. die Verbreitung von Flugblättern und Aufrufen
im Hinterland oder an der Front, friedliche Kundgebungen usw. verbieten
würden. Wir zögen in einem solchen Fall vor, eine illegale, offiziell ver-
folgte Partei zu werden, aber unsere marxistischen, internationalistischen
Prinzipien gäben wir nicht auf.
Ebenso wird unser Verhalten sein, wenn es dem Sowjetkongreß ange-
bracht erscheinen sollte, uns offiziell vor der ganzen Bevölkerung Ruß-
lands zu „Feinden des Volkes“ oder „Feinden der Revolution“ zu er-
klären.
Von den Motiven des Verbots der Demonstration auf drei Tage er-
kennen wir lediglich eins als bedingt richtig an, nämlich, daß die im Hin-
tergrund lauernden Konterrevolutionäre diese Demonstration aus dem
Verborgenen heraus ausnutzen wollten. Wenn die diesem Motiv zu-
grunde liegenden Tatsachen richtig sind, wenn die Namen der Konter-
revolutionäre dem ganzen Sowjet bekannt sind (wie sie uns privat aus
einer mündlichen Mitteilung Libers u. a. im Exekutivkomitee bekannt
sind), dann wäre es erforderlich, diese Konterrevolutionäre unverzüglich
zu Feinden des Volkes zu erklären, sie zu verhaften und eine Unter-
suchung gegen ihre Anhänger und Helfershelfer einzuleiten.
Da der Sowjet solche Maßnahmen nicht trifft, wird auch sein richtiges
Motiv zu einem nur bedingt richtigen oder gar falschen Motiv.
Geschrieben am 11. (24.) Juni 1917.
Zuerst veröffentlicht 1924 Nach dem Manuskript,
in der Zeitschrift „Byloje"
(Vergangenes) Nr. 24.
REDE IN DER SITZUNG DES PETERSBURGER
KOMITEES DER SDAPR(B) ANLÄSSLICH
DER ABSAGE DER DEMONSTRATION
11. (24.) JUNI 1917
Die Unzufriedenheit der meisten Genossen über die Absage der
Demonstration ist durchaus berechtigt, aber aus zwei Gründen konnte
das ZK nicht anders handeln: erstens erhielten wir das formelle Verbot
zu demonstrieren von einem halben Machtorgan; zweitens war dieses
Verbot folgendermaßen motiviert: „Es ist uns bekannt, daß die im Hinter-
grund lauernden Kräfte der Konterrevolution eure Aktion ausnutzen
wollen.“ Zur Bekräftigung dieser Motivierung hat man uns Namen
genannt, unter anderen zum Beispiel den eines Generals, den man in
drei Tagen zu verhaften versprach; es wurde uns erklärt, daß für den
10. Juni auch eine Demonstration der Schwarzhunderter angesagt war,
die unsere Demonstration angreifen und sie in ein Gemetzel verwandeln
sollten.
Selbst im üblichen Krieg kommt es vor, daß angesetzte Offensiven aus
strategischen Gründen abgesagt werden müssen, um so mehr kann das im
Klassenkampf als Folge von Schwankungen der kleinbürgerlichen Mittel-
schichten Vorkommen. Man muß verstehen, der Situation Rechnung zu
tragen und kühn in seinen Entschlüssen sein.
Die Absage war eine unbedingte Notwendigkeit, was durch die weite-
ren Ereignisse bewiesen wird. Heute hat Zereteli seine historische und
hysterische Rede gehalten. 33 Heute ist die Revolution in eine neue Phase
ihrer Entwicklung eingetreten. Man hat damit begonnen, unsere friedliche
Demonstration auf drei Tage zu verbieten, und trägt sich mit dem Gedan-
ken, sie für die ganze Dauer des Kongresses zu verbieten; man fordert
von uns Unterordnung unter die Kongreßbeschlüsse und droht, uns aus
dem Kongreß auszuschließen. Wir haben jedoch erklärt, daß wir es
70
W. I. Lettin
vorziehen, verhaftet zu werden, aber auf Agitationsfreiheit nicht ver-
zichten.
Zereteli, der sich in seiner Rede als ausgesprochener Konterrevolutio-
när entpuppte, hat erklärt, daß man die Bolschewiki nicht mit Worten,
nicht mit Resolutionen bekämpfen dürfe, sondern ihnen alle in ihren Hän-
den befindlichen technischen Mittel entziehen müsse. Das ist das übliche
Ergebnis der bürgerlichen Revolutionen: anfangs wird das Proletariat be-
waffnet, dann wird es entwaffnet, damit es nicht weiter geht. Wenn schon
eine friedliche Demonstration verboten werden mußte, so ist die Lage
sehr ernst.
Zereteli, der direkt von der Provisorischen Regierung zum Kongreß
gekommen war, hat den klaren Wunsch ausgesprochen, die Arbeiter zu
entwaffnen. Er tobte und raste, er verlangte, daß die Bolschewiki zu einer
außerhalb der Reihen der revolutionären Demokratie stehenden Partei
erklärt werden. Die Arbeiter müssen nüchtern erkennen, daß von einer
friedlichen Demonstration jetzt keine Rede mehr sein kann. Die Lage ist
viel ernster, als wir angenommen hatten. Wir wollten eine friedliche De-
monstration durchführen, um auf die Beschlüsse des Kongresses größt-
möglichen Druck auszuüben - das ist unser Recht -, man beschuldigt uns
aber, wir hätten eine Verschwörung angezettelt, um die Regierung zu
verhaften.
Zereteli sagt, außer den Bolschewiki gebe es keine Konterrevolutionäre.
Die Versammlung, die über uns zu Gericht saß, war mit besonderer Feier-
lichkeit organisiert worden, sie bestand aus dem Präsidium des Kongres-
ses, dem vollzähligen Exekutivkomitee des Sowjets der Arbeiter- und Sol-
datendeputierten und den Fraktionsbüros aller Kongreßparteien ; und auf
dieser Versammlung haben sie die ganze Wahrheit ausgeplaudert, sie
künden die Offensive gegen uns an.
Die Antwort des Proletariats darauf muß sein: größte Ruhe, Vorsicht,
Ausdauer und Organisiertheit, es muß dessen eingedenk sein, daß es mit
friedlichen Demonstrationen vorbei ist.
Wir dürfen keinen Anlaß zum Angriff geben, mögen sie angreifen,
dann werden die Arbeiter verstehen, daß das ein Anschlag auf die
Existenz des Proletariats selbst ist. Doch das Leben ist auf unserer
Seite, und es ist noch ungewiß, ob ihnen der Angriff gelingen wird: die
Truppen stehen an der Front, und der Geist der Unzufriedenheit
Rede in der Sitzung des Petersburger Komitees der SDAPRIB)
71
ist unter ihnen sehr stark, im Hinterland herrschen Teuerung, Zer-
rüttung usw.
Das ZK will keinen Druck auf Ihre Entscheidung ausüben. Es ist Ihr
gutes Recht, gegen die Handlungen des ZK zu protestieren, und Sie
sollen frei sein in Ihren Entschlüssen.
Zuerst veröffentlicht 1923 in der Nah dem Text der Sitzungs-
Zeitsdmft „ Krasnaja Letopis " Protokolle des Petrograder
Komitees der SDAPRfB) des
Jahres 1917.
(Rote Annalen) Nr. 9.
AN EINEM WENDEPUNKT
Die rassische Revolution hat in der ersten Etappe ihrer Entwicklung
die Macht in die Hände der imperialistischen Bourgeoisie gelegt und
neben dieser Macht die Sowjets der Deputierten geschaffen, in denen die
kleinbürgerliche Demokratie die Mehrheit bildet. Die zweite Etappe der
Revolution (6. Mai) hat die zynisch offenen Vertreter des Imperialismus,
Miljukow und Gutschkow, formal .aus der Regierung entfernt und die
Parteien, die die Mehrheit in den Sowjets haben, faktisch zu Regierungs-
parteien gemacht. Unsere Partei verblieb vor und nach dem 6. Mai in der
Stellung einer oppositionellen Minderheit. Das war unvermeidlich, denn
wir sind die Partei des sozialistischen Proletariats, die auf dem Boden des
Internationalismus steht. Das sozialistische Proletariat, das während des
imperialistischen Krieges eine internationalistische Haltung einnimmt,
muß notwendigerweise zu jeder Regierung in Opposition stehen, die die-
sen Krieg führt, sei dies nun eine monarchistische, eine republikanische
oder eine Regierung „sozialistischer“ Vaterlandsverteidiger. Die Partei
des sozialistischen Proletariats wird unausbleiblich immer größere Mas-
sen der Bevölkerung um sich sammeln, die durch den in die Länge ge-
zogenen Krieg zugrunde gerichtet werden und aufhören, den im Dienst
des Imperialismus stehenden „Sozialisten“ zu trauen, wie sie vorher das
Vertrauen zu den waschechten Imperialisten verloren haben. Der Kampf
gegen unsere Partei hat darum schon in den ersten Tagen der Revolution
eingesetzt. Aber welch gemeine und widerwärtige Formen der Kampf
der Herren Kadetten und der Plechanowleute gegen die Partei des Prole-
tariats auch annehmen mag, sein Wesen ist klar. Es ist derselbe Kampf,
den die Imperialisten und Scheidemänner gegen Liebknecht und F. Adler
An einem Wendepunkt
73
führten (wurden sie doch beide im Zentralorgan der deutschen „Sozia-
listen“ für „verrückt“ erklärt, von der bürgerlichen Presse ganz zu
schweigen, die diese Genossen einfach als „Verräter“ im Dienste Englands
bezeichnete). Es ist das der Kampf der gesamten bürgerlichen Gesellschaft,
die kleinbürgerlidie Demokratie mit einbegriffen, wie rrrevolutionär sie
sich auch gebärden mag, gegen das sozialistische, internationalistische
Proletariat.
In Rußland hat sich dieser Kampf so weit verschärft, daß die Imperia-
listen den Versuch machen, die Führer der kleinbürgerlichen Demokratie,
die Zereteli, Tschemow usw. als Werkzeug benutzend, der wachsenden
Kraft der proletarischen Partei mit einem jähen, entscheidenden Schlag
ein Ende zu bereiten. Um einen Anlaß für diesen entscheidenden Schlag
zu haben, machte Minister Zereteli ein von der Konterrevolution bereits
wiederholt angewandtes Mittel ausfindig: die Beschuldigung der V er -
schmörertätigkeit. Diese Beschuldigung ist nur ein Vorwand. Der Kern
der Sache liegt in der Notwendigkeit für die von den russischen und den
alliierten Imperialisten am Gängelband geführte kleinbürgerliche Demo-
kratie, ein für allemal mit den internationalistischen Sozialisten Schluß zu
machen. Sie glauben, der rechte Zeitpunkt für diesen Schlag sei gekom-
men. In ihrer Aufregung und Angst, unter der Peitsche ihrer Herren
haben sie sich entschlossen : jetzt oder nie.
Das sozialistische Proletariat und unsere Partei müssen ihre ganze
Kaltblütigkeit aufbieten, sie müssen ein Maximum an Standhaftigkeit
und Wachsamkeit an den Tag legen : mögen die kommenden Cavaignac 34
als erste beginnen. Daß diese kommen werden, hat unsere Partei schon
auf ihrer Konferenz vorausgesagt. Das Proletariat Petrograds wird ihnen
nicht die Möglichkeit geben, die Verantwortung von sich abzuwälzen.
Es sammelt seine Kräfte und rüstet sich zur Gegenwehr in Erwartung des
Zeitpunkts, zu dem sich diese Herrschaften entschließen, von den Wor-
ten zur Tat überzugehen.
„. Pramda ‘ Nr. 80,
26. (13.) Juni 1917.
Nach dem Text der „Pramda“.
74
BRIEF AN DIE REDAKTION
Man fragt mich nach dem Grund meiner Abwesenheit auf der Be-
ratung des Exekutivkomitees, des Kongreßpräsidiums und aller Frak-
tionsbüros am Sonntagabend. Der Grund ist der, daß ich nachdrücklich
dafür eingetreten bin. daß die Bolschewiki die Teilnahme an dieser Be-
ratung prinzipiell ablehnen und eine schriftliche Erklärung abgeben: Wir
werden an keinerlei Beratungen über solche Fragen (Verbot von Demon-
strationen) teilnehmen.
N. Lenin
„Prawda" Nr. 80.
26. (13.) Juni 1917.
Nach dem Text der .Prawda’ .
75
DIE AUSSENPOLITIK
DER RUSSISCHEN REVOLUTION
Es gibt keine Ansicht, die fehlerhafter und schädlicher wäre als die-
jenige, die Außenpolitik von der Innenpolitik trennen zu können. Gerade
während des Krieges tritt das äußerst Falsche einer solchen Trennung
noch krasser hervor. Die Bourgeoisie aber unternimmt alles Mögliche und
Unmögliche, um diese Ansicht zu verbreiten und aufrechtzuerhalten. Die
Unwissenheit der Massen der Bevölkerung hinsichtlich der Außenpolitik
ist unvergleichlich stärker verbreitet als die Unwissenheit auf dem Gebiet
der Innenpolitik. Das „Geheimnis* der diplomatischen Beziehungen wird
in den freiesten kapitalistischen Ländern, in den demokratischsten Repu-
bliken sorgsam gehütet.
Der Betrug an den Volksmassen ist in bezug auf die „Angelegenheiten"
der Außenpolitik meisterhaft ausgearbeitet und macht unserer Revolution ,
auf das schwerste zu schaffen. Millionen Exemplare bürgerlicher Zei-
tungen verbreiten überall das Gift dieses Betrugs.
Entweder mit der einen oder mit der anderen der beiden ungeheuer rei-
chen und ungeheuer mächtigen Gruppen imperialistischer Räuber, das ist
in der kapitalistischen Wirklichkeit die Hauptfrage der gegenwärtigen
Außenpolitik. So betrachtet die Klasse der Kapitalisten diese Frage. So
wird diese Frage natürlich auch von der breiten kleinbürgerlichen Masse
betrachtet, die die alten kapitalistischen Anschauungen und Vorurteile
bewahrt hat.
Demjenigen, dessen Denken nicht über die Grenzen der kapitalisti-
schen Verhältnisse hinausgeht, ist es unbegreiflich, daß die Arbeiter-
klasse, wenn sie bewußt handelt, für keine der beiden Gruppen der im-
perialistischen Räuber eintreten kann. Dem Arbeiter ist es umgekehrt
76
W. I. Lenin
unbegreiflich, wenn die Sozialisten, die dem brüderlichen Bündnis der
Arbeiter aller Länder gegen die Kapitalisten aller Länder die Treue hal-
ten, beschuldigt werden, sie wären geneigt, mit den Deutschen einen
Separatfrieden zu schließen, oder sie würden faktisch einem solchen Frie-
den Vorschub leisten. Auf keinen Fall können diese Sozialisten (also auch
die Bolschewiki eingeschlossen) irgendeinem Separatfrieden zwischen den
Kapitalisten zustimmen. Weder ein Separatfrieden mit den deutschen
Kapitalisten noch ein Bündnis mit den englischen und französischen Ka-
pitalisten, das ist die Grundlage der Außenpolitik des klassenbewußten
Proletariats.
Unsere Menschewiki und Sozialrevolutionäre, die sich gegen dieses
Programm wenden, die den Bruch mit „England und Frankreich“ fürchten,
führen damit faktisch ein kapitalistisches Programm in der Außenpolitik
durch, das sie zu bemänteln suchen, indem sie es mit den Blüten einer
naiven Redefertigkeit ausschmücken, wie: „Revision der Verträge“, Er-
klärungen zugunsten eines „Friedens ohne Annexionen“ usw. Alle diese
frommen Wünsche sind dazu verurteilt, ein Nichts zu bleiben, denn die
kapitalistische Wirklichkeit läßt keine Ausflüchte zu: entweder Unter-
ordnung unter die Imperialisten einer der Gruppen oder revolutionärer
Kampf gegen jeglichen Imperialismus.
Gibt es Verbündete für einen solchen Kampf? Die gibt es. Die unter-
drückten Klassen Europas, vor allem das Proletariat: die vom Imperia-
lismus unterdrückten Völker, vor allem die uns benachbarten asiatischen
Völker.
Die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre nennen sich „revolutio-
näre Demokraten“ und betreiben in Wirklichkeit eine konterrevolutio-
näre und antidemokratische Außenpolitik. Wären sie Revolutionäre, so
würden sie den Arbeitern und Bauern Rußlands den Rat geben, sich an
die Spitze aller vom Imperialismus unterdrückten Völker und aller unter-
drückten Klassen zu stellen.
„Dann werden sich die Kapitalisten aller anderen Länder gegen Ruß-
land vereinigen“, wenden die erschreckten Spießer ein. - Das ist nicht
ausgeschlossen. Jeden revolutionären Krieg strikt abzulehnen, dazu hat
der „revolutionäre" Demokrat kein Recht. Aber die praktische Wahr-
scheinlichkeit eines solchen Krieges ist nicht sehr groß. Die englischen
Imperialisten werden sich mit den deutschen nicht gegen ein revolutio-
Die Außenpolitik der russischen Revolution 77
näres Rußland „aussöhnen“ können. Die russische Revolution 1905, die
schon damals in der Türkei, in Persien und in China Revolutionen aus-
löste, würde die deutschen wie die englischen Imperialisten in eine sehr
schwierige Lage bringen, wenn sie ein wirklich revolutionäres Bündnis
mit den Arbeitern und Bauern der kolonialen und halbkolonialen Län-
der zustande brächte, gegen die Despoten, gegen die Khane, für die Ver-
jagung der Deutschen aus der Türkei, der Engländer aus der Türkei, aus
Persien, Indien, Ägypten usw.
Die Sozialchauvinisten, die französischen wie die russischen, weisen
gern auf das Jahr 1793 hin, um mit diesem effekthaschenden Hinweis
ihren Verrat an der Revolution zu bemänteln. Doch gerade daran, daß
die „revolutionäre“ Demokratie in Rußland gegenüber den unterdrückten
und rückständigen Völkern wirklich im Geiste des Jahres 1793 handeln
könnte und müßte, daran will man bei uns nicht denken.
Das „Bündnis“ mit den Imperialisten, das heißt schändliche Abhängig-
keit von ihnen, das ist die Außenpolitik der Kapitalisten und der Klein-
bürger. Das Bündnis mit den Revolutionären der fortgeschrittenen Länder
und mit allen unterdrückten Völkern gegen alle Imperialisten, welcher Art
auch immer, das ist die Außenpolitik des Proletariats.
„Praroda" Nr. 81,
27. (14.) Juni 1917.
Noch dem Text der .Pratvda".
78
EINE WIDERSPRUCHSVOLLE POSITION
Die heute in den Zeitungen veröffentlichte Resolution des Kongresses,
die eine Verurteilung unserer Partei enthält, wird zweifellos jeder klas-
senbewußte Arbeiter und Soldat mit der Erklärung vergleichen, die
unsere Partei an den Gesamtrussischen Sowjetkongreß gerichtet hat, die
am 11. Juni verlesen wurde und heute in der „Prawda“ veröffentlicht
ist. 35
Das Widerspruchsvolle der Position der Führer des Kongresses tritt
in ihrer Resolution offen zutage und ist in unserer Erklärung besonders
anschaulich klargelegt worden.
„Die Grundlage für den Erfolg und die Kraft der russischen Revo-
lution ist die Einheit der gesamten revolutionären Demokratie, der Arbei-
ter, Soldaten und Bauern“, so lautet der erste und wichtigste Punkt der
Resolution des Kongresses. Dieser Punkt wäre allerdings ganz unbestreit-
bar richtig, wenn man hier unter „Einheit“ die Einheit des Kampfes ge-
gen die Konterrevolution verstanden hätte. Was aber dann, wenn ein ge-
wisser Teil der „Arbeiter, Soldaten und Bauern“ durch seine Führer mit
der Konterrevolution gemeinsame Sache macht, sich mit ihr vereinigt?
Ist es nicht klar, daß eben dieser Teil der „Demokratie“ in Wirklidikeit
aufhört, „revolutionär“ zu sein?
Wahrscheinlich werden sich die Volkstümler (Sozialrevolutionäre) und
Menschewiki darüber entrüstet zeigen, daß wir auch nur den Gedanken
zulassen, als sei eine „Vereinigung“ dieses oder jenes Teils der „Arbeiter,
Soldaten und Bauern“ mit der Konterrevolution möglich und denkbar.
Denen, die versuchen sollten, durch Entrüstung solcher Art unsere Ar-
gumente zu verwischen und den Kern der Sache zu vertuschen, antwor-
Eine widerspruchsvolle Position
79
ten wir einfach mit dem Hinweis auf den dritten Punkt derselben Reso-
lution: . . der Widerstand der konterrevolutionären Kräfte der besitzen-
den Klassen wächst." Das ist mal eine sachliche Erwägung 1 Dies wäre
ganz wahr, wenn man gesagt hätte: der Bourgeoisie oder der Kapitalisten
und Gutsbesitzer (statt „der besitzenden Klassen“, zu denen auch der
wohlhabende Teil des Kleinbürgertums gehört).
Kein Zweifel, der Widerstand der Bourgeoisie wächst.
Aber gerade in den Händen der Bourgeoisie befindet sich doch die
Mehrheit der Provisorischen Regierung, mit der die Führer der Sozial-
revolutionäre und der Menschewiki vereinigt sind, nicht nur in allgemein-
politischem Sinne, sondern auch organisatorisch, in der gleichen Körper-
schaft, im Kabinett!
Das ist der Kernpunkt der widerspruchsvollen Position der Führer des
Sowjets, das ist die Hauptursache des Schwankens in ihrer gesamten Po-
litik: Sie befinden sich durch die Regierung im Bündnis mit der Bour-
geoisie, sie sind innerhalb der Regierung der Mehrheit der bürgerlichen
Minister untergeordnet - und doch sind sie gleichzeitig gezwungen zuzu-
geben, daß „der Widerstand der konterrevolutionären Kräfte der besit-
zenden Klassen wächst“ ! !
Es ist klar, daß bei einer solchen Sachlage die Partei des revolutionären
Proletariats die „Einheit“ der vielgepriesenen „revolutionären“ (revolu-
tionär in Worten, aber nicht in Taten) Demokratie nur anerkennen kann
„wenn . . .“. Wir sind für die Einheit mit ihr, wenn sie die Konterrevolu-
tion bekämpft. Wir sind nicht für die Einheit mit ihr, wenn sie sich mit
der Konterrevolution vereinigt.
Das Leben hat gerade die Frage des „wachsenden Widerstands“ der
konterrevolutionären Bourgeoisie auf die Tagesordnung gesetzt; diese
Haupt- und Grundfrage mit allgemeinen Redensarten über „Einheit oder
Übereinstimmung der Aktionen der revolutionären Demokratie“ um-
gehen zu wollen, indem man die Einheit oder die Übereinstimmung eines
Teils dieser „revolutionären“ Demokratie mit der Konterrevolution ver-
tuscht, ist unlogisch und unklug.
Hieraus folgt, daß alle Erwägungen in der Resolution des Kongresses
über die Verurteilung unserer Demonstration als einer „geheimen“, über
die Zulässigkeit von Massenaktionen und Kundgebungen nur mit Wissen
und Einwilligung der Sowjets aus prinzipiellen Gründen von selbst hin-
80 W. I. Lettin
fällig werden. Diese Erwägungen haben keinerlei Bedeutung, niemals
wird die proletarische Partei sie anerkennen, wie das schon in unserer
Erklärung an den Gesamtrussischen Kongreß gesagt worden ist. Denn
alle Kundgebungen, soweit es sich um friedliche handelt, sind nur Agi-
tation, und es geht nicht an, die Agitation zu verbieten oder eine Einheit-
lichkeit der Agitation zum Zwang zu machen.
Formell ist die Resolution noch schwächer. Um etwas zu verbieten oder
anzuordnen, muß man die Macht im Staate haben. Ergreift erst mal diese
Macht, ihr Herren Sowjetführer von heute - wir sind dafür, obgleich ihr
unsere Gegner seid -, dann erst werdet ihr das Recht haben, zu verbieten
oder anzuordnen. Solange ihr aber nicht die gesamte Staatsgewalt in
Händen habt, solange ihr über euch die Macht von zehn Ministem der
Bourgeoisie duldet, bleibt ihr in eure eigene Schwäche und Unentschlos-
senheit verstrickt.
Mit Redensarten über den „klar ausgedrückten Willen“ u. dgl. m. kann
man die Sache nicht abtun: Der Wille, wenn ihn der Staat äußert, muß
als von der Staatsgewalt festgelegtes Gesetz zum Ausdrude kommen,
sonst ist das Wort „Wille“ nur leerer Schall, der in der Luft verhallt.
Wenn ihr aber an ein Gesetz denken solltet, meine Herrschaften, so müßt
ihr euch daran erinnern, daß die Verfassung freier Republiken friedliche
Demonstrationen und beliebige Massenkundgebungen beliebiger Parteien
oder Gruppen nicht verbieten kann.
Aus dieser widerspruchsvollen Position heraus sind ganz absonderliche
revolutionäre Auffassungen entstanden, vom Kampf gegen die Konter-
revolution, vom Staat (von der Verfassung) sowie absonderliche Auffas-
sungen juristischer Art überhaupt. Sobald das wüste Geschimpfe gegen
unsere Partei wegfällt, bleibt nichts, rein gar nichts übrig!
Nach dem wüsten Geschimpfe über unsere Initiative, eine Demonstra-
tion zu veranstalten, wird eine Demonstration angesagt ... für eine
Woche später.
.Pramda“ Nr. 81.
27. (14.) Juni 1917.
Nach dem Text der .Pramda'.
81
DIE UKRAINE
Das Fiasko der Politik der neuen Provisorischen Regierung, der Ko-
alitionsregierung, zeichnet sich immer klarer ab. Die von der Ukrainischen
Zentralrada erlassene und am 11. Juni 1917 vom Gesamtukrainischen
Armeekongreß angenommene „Universalakte“ über die staatliche Ord-
nung der Ukraine entlarvt diese Regierungspolitik und ist ein dokumen-
tarisches Zeugnis ihres Fiaskos.
„Ohne sich vom übrigen Rußland zu trennen, ohne sich vom Russi-
schen Reich loszureißen“, heißt es in dieser Akte, „soll das ukrainische
Volk das Recht haben, in seinem Lande sein Leben selbst zu gestalten . . .
Alle Gesetze, die hier, in der Ukraine, die innere Ordnung regeln, kann
nur unsere ukrainische Nationalversammlung erlassen ; die Gesetze jedoch,
die die Staatsordnung des Russischen Reiches in seiner Gesamtheit be-
stimmen, müssen von einem gesamtrussischen Parlament erlassen werden.“
Das sind völlig klare Worte. Hier wird ganz eindeutig erklärt, daß sich
das ukrainische Volk zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht von Rußland
loslösen will. Es verlangt Autonomie, bestreitet aber keineswegs die Not-
wendigkeit eines „gesamtrussischen Parlaments“ und dessen übergeord-
nete Gewalt. Kein Demokrat, geschweige denn ein Sozialist, wird es wa-
gen, die völlige Berechtigung der ukrainischen Forderungen in Abrede zu
stellen. Es kann auch kein Demokrat das Recht der Ukraine auf freie
Lostrennung von Rußland bestreiten : Allein die vorbehaltlose Anerken-
nung dieses Rechts schafft erst die Möglichkeit, für den freien Bund der
Ukrainer und Großrussen, für die freiwillige Vereinigung der beiden
Völker zu einem Staat zu agitieren. Allein die vorbehaltlose Anerken-
nung dieses Rechts kann wirklich, unwiderruflich und endgültig mit der
rke. Bd. 25
82 W. I. Lenin
verfluchten zaristischen Vergangenheit brechen, die alles getan hat, um
die ihrer Sprache, ihrem Wohnsitz, ihrem Charakter und ihrer Ge-
schichte nach so nahe verwandten Völker einander zu entfremden. Der
verfluchte Zarismus machte die Großrussen zu Henkern des ukrainischen
Volkes und nährte in diesem Volk mit allen Mitteln den Haß gegen die-
jenigen, die selbst den ukrainischen Kindern verboten, ihre Muttersprache
zu sprechen, in ihrer Muttersprache zu lernen.
Die revolutionäre Demokratie Rußlands muß, wenn sie wirklich revo-
lutionär, wirklich demokratisch sein will, mit dieser Vergangenheit Schluß
machen, sie muß sich, den Arbeitern und Bauern Rußlands, das brüder-
liche Vertrauen der Arbeiter und Bauern der Ukraine wiedererringen.
Das läßt sich nicht erreichen ohne die vollständige Anerkennung der
Rechte der Ukraine, auch des Rechts auf freie Lostrennung.
Wir sind kerne Anhänger der Kleinstaaterei. Wir sind für das engste
Bündnis der Arbeiter aller Länder gegen die Kapitalisten der „eigenen“
sowie aller Länder überhaupt. Aber gerade damit dieses Bündnis ein frei-
williges sei, tritt der russische Arbeiter, ohne auch nur einen Augenblick
lang der russischen oder der ukrainischen Bourgeoisie das geringste Ver-
trauen zu schenken, jetzt für das Recht der Ukrainer auf Lostrennung
ein, wobei er ihnen seine Freundschaft nicht aufzmingt. sondern diese
Freundschaft dadurch erringt, daß er sie als Gleichberechtigte, als Bundes-
genossen und Brüder im Kampf für den Sozialismus behandelt.
Die Zeitung der erbosten, vor Wut halb verrückt gewordenen bürger-
lichen Konterrevolutionäre, die „Retsch“, fällt wütend über die Ukrainer
her wegen ihrer „eigenmächtigen“ Entscheidung. „Das Vorgehen der
Ukrainer“ sei eine „offenkundige Verletzung des Gesetzes“ und müsse
„sofort mit aller gesetzlichen Strenge geahndet werden“. Jeder Kommen-
tar zu diesem Ausfall der rasend gewordenen bürgerlichen Konterrevo-
lutionäre ist überflüssig. Nieder mit den Konterrevolutionären der Bour-
geoisie 1 Es lebe das freie Bündnis der freien Bauern und Arbeiter der
freien Ukraine mit den Arbeitern und Bauern des revolutionären Ruß-
lands !
„. Pratvda ' Nr. 82. 28. (15.) Juni 1917.
Nach dem Text der „ Pramda ".
83
WOHER KAMEN UND „KOMMEN“.
KLASSENMÄSSIG GESEHEN.
DIE CAVAIGNAC?
„Wenn der wirkliche Cavaignac kommt, werden wir mit euch zusam-
men in einer Front kämpfen“, schrieb die „Rabotschaja Gaseta“ in Nr. 80
an unsere Adresse, das Organ derselben menschewistischen Partei, deren
Mitglied, Minister Zereteli, sich in seiner Rede traurigen Angedenkens
bis zu der Drohung verstieg, die Petrograder Arbeiter zu entwaffnen.
In dem erwähnten Ausspruch der „Rabotschaja Gaseta“ treten die
Grundfehler der beiden in Rußland herrschenden Parteien, der mensche-
wistischen und der Sozialrevolutionären, besonders klar hervor, weshalb
dieser Ausspruch Beachtung verdient. Ihr sucht den Cavaignac nicht zur
rechten Zeit oder nicht am rechten Ort, das ist der Sinn der Ausführun-
gen der ministeriellen Zeitung.
Rufen wir uns die Rolle ins Gedächtnis, die Cavaignac, klassenmäßig
gesehen, spielte. Im Februar 1848 wurde in Frankreich die Monarchie
gestürzt. Die Bourgeoisrepublikaner gelangten an die Macht. Genauso
wie unsere Kadetten wollten sie die „Ordnung“, worunter sie die Wieder-
herstellung und Festigung der monarchistischen Werkzeuge zur Unter-
drückung der Massen : der Polizei, des stehenden Heeres und des privi-
legierten Beamtentums, verstanden. Genauso wie unsere Kadetten woll-
ten sie der Revolution ein Ende bereiten, haßten sie das revolutionäre
Proletariat mit seinen damals noch sehr unklaren „sozialen“ (d. h. so-
zialistischen) Bestrebungen. Genauso wie unsere Kadetten standen sie
der Politik der Ausweitung der französischen Revolution auf ganz
Europa, der Politik ihrer Umwandlung in die proletarische Weltrevolu-
tion, äußerst feindlich gegenüber. Genauso wie unsere Kadetten bedien-
ten sie sich geschickt des kleinbürgerlichen „Sozialismus“ Louis Blancs,
84
indem sie ihn zum Minister ernannten und aus einem Führer der soziali-
stischen Arbeiter, der er sein wollte, in ein Anhängsel, einen Lakaien der
Bourgeoisie verwandelten.
Dies waren die Klasseninteressen, die Position und die Politik der herr-
schenden Klasse.
Die zweite grundlegende gesellschaftliche Kraft war das schwankende,
durch das rote Gespenst eingeschüchterte, dem Geschrei gegen die „Anar-
chisten“ erliegende Kleinbürgertum. In seinen Bestrebungen träumerisch
und phrasenhaft „sozialistisch“, fürchtete das Kleinbürgertum, das sich
selbst mit Vorliebe als „sozialistische Demokratie“ bezeichnete (sogar
diesen Ausdruck übernehmen jetzt die Sozialrevolutionäre und die Men-
schewiki!), sich der Führung des revolutionären Proletariats anzuver-
trauen, ohne zu begreifen, daß diese Furcht es dazu verdammt, sich blind
der Bourgeoisie anzuvertrauen. Denn in einer Gesellschaft des erbitter-
ten Klassenkampfes zwischen Bourgeoisie und Proletariat, besonders bei
der unvermeidlichen Verschärfung dieses Kampfes durch die Revolution,
kann es keine „mittlere“ Linie geben. Das ganze Wesen der Klassenlage
und der Bestrebungen des Kleinbürgertums besteht aber eben darin, das
Unmögliche zu wollen, nach dem Unmöglichen zu trachten, d. h. gerade
nach einer solchen „mittleren Linie“.
Die dritte entscheidende Klassenkraft war das Proletariat, das nicht
nach der „Aussöhnung“ mit der Bourgeoisie strebte, sondern nach dem
Siege über sie. das bestrebt war, furchtlos die Revolution auch in inter-
nationalem Maßstab weiter voranzutreiben.
Das war der objektive historische Boden, der einen Cavaignac hervor-
bradite. Durch seine Unschlüssigkeit hatte sich das Kleinbürgertum als
aktiv handelnde Kraft „ausgeschlossen“, und der französische Kadett,
General Cavaignac, nutzte die Angst des Kleinbürgertums, sich dem Pro-
letariat anzuvertrauen, schritt zur Entwaffnung der Pariser Arbeiter und
ließ sie in Massen erschießen.
Mit diesem historischen Blutbad endete die Revolution; das zahlen-
mäßig überwiegende Kleinbürgertum war und blieb ein politisch ohn-
mächtiges Anhängsel der Bourgeoisie, und drei Jahre später wurde in
Frankreich die cäsarische Monarchie in einer besonders abscheulichen
Form wiederhergestellt.
Die historische Rede Zeretelis vom 11. Juni, offensichtlich von den
Woher kamen und .kommen", klassenmäßig gesehen, die Cavaignac? 85
kadettisdien Cavaignac suggeriert (vielleicht direkt von den bürgerlichen
Ministern, vielleicht indirekt von der bürgerlichen Presse und der bürger-
lichen öff entliehen Meinung, dieser Unterschied ist nicht wichtig), diese
historische Rede ist deshalb so bemerkenswert, ist deshalb historisch,
weil Zereteli mit unnachahmlicher Naivität die „geheime Krankheit“ des
gesamten Kleinbürgertums, des Sozialrevolutionären wie. des mensche-
wistischen, ausgeplaudert hat. Diese „geheime Krankheit“ besteht erstens
in der völligen Unfähigkeit zu einer selbständigen Politik; zweitens in
der Furcht, sich dem revolutionären Proletariat anzuvertrauen und dessen
selbständige Politik rückhaltlos zu unterstützen ; und drittens in der sich
hieraus unvermeidlich ergebenden Unterordnung unter die Kadetten oder
die Bourgeoisie überhaupt (d. h. Unterordnung unter die Caoaignac).
Darin besteht das Wesen der Sache. Nicht Zereteli oder Tschemow
persönlich und nicht einmal Kerenski sind berufen, die Rolle Cavaignacs
zu spielen, dazu werden sich andere Leute finden, die zu geeigneter Zeit
den russischen Louis Blanc sagen werden: „Schert euch fort!“ Zereteli
und Tschemow aber stehen an der Spitze einer solchen kleinbürgerlichen
Politik, die das Erscheinen von Cavaignacs möglich und unumgänglich
macht.
„Wenn der wirkliche Cavaignac kommt, werden wir mit euch sein“,
das ist ein ausgezeichnetes Versprechen, eine großartige Absicht 1 Schade
nur, daß sich hier zeigt, wie das für das sentimentale und ängstliche
Kleinbürgertum typisch ist, daß es den Klassenkampf nicht begreift.
Denn ein Cavaignac ist kein Zufall und sein „Kommen“ kein einmaliger
Zeitpunkt. Der Cavaignac ist der Vertreter einer Klasse (der konter-
revolutionären Bourgeoisie), der Schrittmacher ihrer Politik. Gerade diese
Klasse, gerade diese Politik unterstützt ihr jetzt schon, ihr Herren Sozial-
revolutionäre und Menschewiki! Dieser Klasse und ihrer Politik überlaßt
ihr, die ihr gegenwärtig die unbestrittene Mehrheit im Lande habt, das
Übergewicht in der Regierung, d. h., ihr schafft ihr eine ausgezeichnete
Basis für ihre Arbeit.
In der Tat. Der Gesamtrussische Bauemkongreß ist fast ganz von den
Sozialrevolutionären beherrscht worden. Auf dem Gesamtrussischen Kon-
greß der Arbeiter- und Soldatendeputierten steht die erdrückende Mehr-
heit hinter dem Block der Sozialrevolutionäre und Menschewiki. Das
gleiche gilt für die Wahlen zu den Bezirksdumas von Petrograd. Es steht
W. I. Lenin
fest: Sozialrevolutionäre und Menschewiki sind jetzt die herrschende
Partei. Und diese herrschende Partei tritt die Macht (die Mehrheit in der
Regierung) freiwillig an die Partei der Cavaignac ab ! !
Wenn nur der Sumpf da ist. die Teufel werden sich schon finden. Ist
einmal das unsichere, schwankende, die Entfaltung der Revolution fürch-
tende Kleinbürgertum da, so wird das Erscheinen der Cavaignac nicht
auf sich warten lassen.
In Rußland gibt es heute vieles, was unsere Revolution von der fran-
zösischen Revolution des Jahres 1848 unterscheidet: den imperialistischen
Krieg, die Nachbarschaft höher entwickelter Länder (nicht solcher, die
rückständiger sind, wie es damals in bezug auf Frankreich der Fall war),
die Agrarbewegung und die nationale Bewegung. Aber all das kann nur
die Form des Hervortretens der Cavaignac, den Zeitpunkt, die äußeren
Anlässe usw. ändern, das Wesen der Sache kann dadurch nicht geändert
werden, denn es liegt in den Beziehungen der Klassen zueinander be-
gründet.
In Worten war auch Louis Blanc himmelweit von Cavaignac entfernt.
Auch Louis Blanc hat unzählige Versprechungen abgegeben, mit den
revolutionären Arbeitern gegen die bürgerlichen Konterrevolutionäre „in
einer Front zu kämpfen“. Doch wird kein marxistischer Historiker, kein
Sozialist zu bezweifeln wagen, daß gerade die Schwäche, das Schwanken
und die Vertrauensseligkeit der Louis Blanc gegenüber der Bourgeoisie
einen Cavaignac erzeugt und ihm zum Erfolg verholfen haben.
Einzig und allein von der Standhaftigkeit und Wachsamkeit, von der
Kraft der revolutionären Arbeiter Rußlands hängt es ab, ob es Sieg oder
Niederlage ist, was die russischen Cavaignac zu erwarten haben, die durch
die konterrevolutionäre Haltung der russischen Bourgeoisie mit den Ka-
detten an der Spitze, durch die Unsicherheit, die Ängstlichkeit und die
Unschlüssigkeit der kleinbürgerlichen Parteien der Sozialrevolutionäre
und Menschewiki unvermeidlich hervorgebracht werden.
„Prawda“ Nr. 83.
29. (16.) Juni 1917.
Nach dem Text der .Pramda“.
WIE DER KAMPF GEGEN DIE KONTERREVOLUTION
GEFÜHRT WERDEN MUSS
Noch vor wenigen Tagen erklärte Minister Zereteli in seiner Jhisto-
rischen“ Rede, es gäbe keine Konterrevolution. Heute schlägt die mini-,
sterielle „Rabotschaja Gaseta“ in dem Artikel „Bedrohliche Symptome“
einen ganz anderen Ton an.
J Überall spürt man deutliche Anzeidien der sidi rüstenden Konter-
revolution.“
Schönen Dank, daß ihr endlich wenigstens die Tatsache selbst zugebt.
Doch die ministerielle Zeitung fährt fort: „Wir kennen ihren (der
Konterrevolution) Stab nicht und sind über den Grad ihrer Organisiert-
heit nicht unterrichtet.“
Nanu ! Ihr kennt den Stab der Konterrevolution nicht? Gestattet, euch
in eurer Unkenntnis zu helfen. Der Stab der sich organisierenden Kon-
terrevolution befindet sich in der Provisorischen Regierung, in derselben
Koalitionsregierung, meine Herren, der 6 eurer Genossen angehören!
Der Stab der Konterrevolution befindet sich dort, wo die Konferenzen
der IV. Reichsduma tagen, wo Miljukow, Rodsjanko, Schulgin, Gutsch-
kow, A. Schingarjow, Manuilow und Co. das große Wort führen, und
die Kadetten, die in der Koalitionsregierung sitzen, sind die rechte Hand
der Miljukow und Co. Dem Stab der Konterrevolution gehören gewisse
reaktionäre Generale an. In diesem Stab der Konterrevolution befinden
sich auch einige hohe Beamte, die ihren Abschied genommen haben.
Wenn ihr über die Konterrevolution nicht nur jammern, sondern den
Kampf gegen sie aufnehmen wollt, so seid ihr verpflichtet, mit uns zu
sagen: Nieder mit den zehn kapitalistischen Ministem . . .
Die „Rabotschaja Gaseta“ verweist ferner darauf, daß die Presse, die
den Antisemitismus sdiürt und die Massen gegen die Juden aufhetzt, die
Hauptwaffe der Konterrevolution bildet. Das ist richtig. Doch was folgt
daraus? Ihr seid doch eine Regierungspartei, meine Herrschaften? Was
habt ihr unternommen, um diese niederträchtige konterrevolutionäre
Presse zu zügeln? Könnt ihr, die ihr euch „revolutionäre Demokratie“
nennt, auf revolutionäre Maßnahmen gegen die zügellose, offen konter-
revolutionäre Presse verzichten? Und weiter. Weshalb gründet ihr kein
staatliches Organ für Inserate, um so der niederträchtigen konterrevolu-
tionären Presse ihre Haupteinnahmequelle zu entziehen und sie somit
um die beste Möglichkeit zu bringen, das Volk zu betrügen? Wo ist
festgelegt, daß zur Herausgabe des „Nowoje Wremja“, der „Malenkaja
Gaseta“ 36 , der „Russkaja Wolja“ 37 und anderer Reptilienblätter jetzt
Tausende und aber Tausende von Menschen einer wirklich produktiven
Arbeit entzogen werden müssen?
Was habt ihr beigetragen zum Kampf gegen die konterrevolutionäre
Presse, die all ihre Kräfte auf die Hetze gegen unsere Partei konzentriert
hat? Nichts! Ihr habt selbst Stoff für diese Hetze geliefert. Ihr wart ja
so sehr beschäftigt mit dem Kampf gegen die Gefahr von links.
Ihr erntet, was ihr gesät habt, meine Herrschaften.
So war es, und so wird es sein, solange ihr fortfahrt, zwischen der Po-
sition der Bourgeoisie und der des revolutionären Proletariats zu
schwanken.
„ Pramda ' Nr. 84.
30. (17.) Juni 1917.
Nadt dem Text der JPramda'.
DIE UKRAINE UND DIE NIEDERLAGE DER
REGIERUNGSPARTEIEN RUSSLANDS
In der ukrainischen Frage haben die Regierungsparteien Rußlands,
d. h. die Kadetten, die in der Regierung über die Mehrheit und in der
Wirtschaft über die Allmacht des Kapitals verfügen, und dann die So-
zialrevolutionäre und die Menschewiki, die gegenwärtig die unbestrit-
tene Mehrheit im Lande haben (aber machtlos in der Regierung und in
der Wirtschaft des Landes, eines kapitalistischen Landes, sind), haben
alle diese Regierungsparteien im ganzen Lande in einer höchst wichtigen
Frage eine eindeutige Niederlage erlitten.
Die Sozialrevolutionäre und die Menschewiki haben geduldet, daß die
Provisorische Regierung der Kadetten, d. h. der konterrevolutionären
Bourgeois, ihre elementare demokratische Pflicht nicht erfüllt hat, daß sie
nicht erklärt hat, sie sei für die Autonomie der Ukraine und für ihr un-
eingeschränktes Recht, sich loszutrennen. Die Ukrainer haben, wie Mi-
nister Tschemow heute im „Delo Naroda“ berichtet, unvergleichlich we-
niger gefordert, nämlich, „daß die Provisorische Regierung in einer be-
sonderen Verlautbarung erklären solle, daß sie nicht gegen das Recht des
ukrainischen Volkes auf Autonomie ist“. Das ist eine äußerst bescheidene
und durchaus berechtigte Forderung, ebenso bescheiden wie die beiden
anderen Forderungen: 1. Die Bevölkerung der Ukraine wählt einen Ver-
treter in die russische Zentralregierung. Wie bescheiden diese Forderung
ist, zeigt die Tatsache, daß die Großrussen 1897 43 Prozent der Gesamt-
bevölkerung Rußlands ausmachten und die Ukrainer 17 Prozent; die
Ukrainer brauchten also nicht nur einen Minister von 16 zu fordern,
sondern könnten sechs verlangen 11 2. In der Ukraine soll es „einen von
der örtlichen Bevölkerung gewählten Vertreter der russischen Zentral-
90
regierung" geben. Was könnte berechtigter sein als das? Mit welchem
Recht untersteht sich ein Demokrat, von dem in der Theorie bewiesenen
und durch die Erfahrung der demokratischen Revolutionen bestätigten
Grundsatz abzugehen: „Keinerlei von oben eingesetzte Machtorgane für
die örtliche Bevölkerung“??
Die Zurückweisung dieser so bescheidenen und berechtigten Forde-
rungen durch die Provisorische Regierung war eine Unverschämtheit
sondergleichen, eine maßlose Frechheit der Konterrevolutionäre, eine ty-
pische Äußerung der Politik des großrussischen „Dershimorda“* ; und
die Sozialrevolutionäre samt den Menschewiki haben so etwas - ein Hohn
auf ihre eigenen Parteiprogramme - in der Regierung geduldet und ver-
teidigen es jetzt in ihrer Presseil Mit welcher Schande haben sich doch
die Sozialrevolutionäre und Menschewiki bedeckt I Welch erbärmlicher
Winkelzüge bedienen sich heute ihre Zeitungen, das „Delo Naroda“ und
die „Rabotschaja Gaseta“!
Chaos, Wirrwarr, „Leninismus in der nationalen Frage“, Anarchie -
mit diesem Geschrei eines wildgewordenen Gutsbesitzers toben beide
Zeitungen gegen die Ukrainer.
Lassen wir das Geschrei auf sich beruhen. Wie sehen die sachlichen
Argumente aus?
Bevor nicht die Konstituierende Versammlung zusammengetreten ist,
könne weder über die Grenzen der Ukraine noch über ihre Willensäuße-
rung, noch über ihr Recht auf Erhebung von Steuern usw. usf. eine „recht-
mäßige“ Entscheidung getroffen werden. Das ist ihr einziges Argument.
Sie fordern eine „Garantie der Rechtmäßigkeit“. In diesem Ausdruck aus
dem redaktionellen Artikel der „Rabotschaja Gaseta“ liegt das ganze
Wesen ihrer Argumentation.
Aber das ist doch ausgemachter Schwindel, meine Herren, eine offen-
sichtliche Unverschämtheit der Konterrevolutionäre; ein solches Argu-
ment ins Feld führen heißt doch praktisch die wahren Verräter, die Ju-
dasse der Revolution unterstützen ! I
„Garantien der Rechtmäßigkeit“ . . . man überlege das doch nur eine
Sekunde lang. Nirgends in Rußland, weder in der Zentralregierung noch
in einer örtlichen Körperschaft (abgesehen von ganz kleinen Körper-
schaften: den Bezirksdumas von Petrograd) gibt es eine Garantie der
* Polizist in Gogols „Revisor". Zu deutsch: Halt-die-Schnauze. Die Red.
Die Ukraine und die Niederlage der Regierungsparteien Rußlands 91
Rechtmäßigkeit, sie ist sogar ganz offenkundig nicht vorhanden. Es gibt
ganz offenkundig keine „Rechtmäßigkeit“ für das Bestehen der Reichs-
duma und des Reidisrates. Es gibt ganz offenkundig keine „Rechtmäßig-
keit“ in der Zusammensetzung der Provisorischen Regierung, denn diese
Zusammensetzung ist ein Hohn auf den Willen und das politische Be-
wußtsein der Mehrheit der Bauern, Arbeiter und Soldaten Rußlands. Es
gibt ganz offenkundig keine „Rechtmäßigkeit“ in der Zusammensetzung
der Sowjets (der Arbeiter-, Bauern- und Soldatendeputierten), denn Ga-
rantien für Vollständigkeit und streng demokratische Durchführung der
Wahlen haben diese Körperschaften bis jetzt noch nicht geschaffen, was
weder unsere Partei noch die Masse der Arbeiter und Bauern daran hin-
dert, in ihnen den gegenwärtig besten Ausdrude des Willens der Volks-
mehrheit zu sehen. Nirgends in Rußland gibt es „Garantien der Recht-
mäßigkeit“ und kann es auch nidit geben, niemals hat es in revolutionären
Zeiten derartige Garantien gegeben, alle begreifen das, niemand verlangt
es anders, und alle sehen ein, daß das unvermeidlich ist.
Nur für die Ukraine fordern „wir“ „Garantien der Rechtmäßigkeit“!
Ihr habt vor Angst den Verstand verloren, meine Herren Sozialrevo-
lutionäre und Menschewiki, ihr seid auf das konterrevolutionäre Ge-
schrei der großrussischen Gutsbesitzer und Kapitalisten hereingefallen,
an deren Spitze die Rodsjanko und Miljukow, die Lwow und Tere-
schtschenko, die Nekrassow, Schingarjow und Co. stehen. Ihr bietet schon
jetzt das Schauspiel von Leuten, die durch die kommenden (Jm Hinter-
grund lauernden") Cavaignac eingeschüchtert sind.
In den Beschlüssen und Forderungen der Ukrainer ist gar nichts
Schreckliches, ist nicht die Spur von Anarchie und Chaos zu finden. Gebt
diesen durchaus berechtigten und bescheidenen Forderungen nach, und
in der Ukraine wird es nicht weniger Autorität geben als sonst überall in
Rußland, wo nur die Sowjets Autorität besitzen (die keine „Garantien
der Rechtmäßigkeit“ haben ! !). Die „Garantien der Rechtmäßigkeit“ wer-
den uns und allen Völkern Rußlands die kommenden Landtage und die
kommende Konstituierende Versammlung geben, nicht allein in der ukrai-
nischen, sondern in allen Fragen, denn jetzt gibt es in Rußland ganz offen-
kundig in keiner Frage „Rechtmäßigkeit“. Gebt den Ukrainern nach, das
ist das Gebot der Vernunft, sonst wird es schlimmer kommen; Gewalt
wird die Ukrainer nicht zurückhalten, sondern nur erbittern. Gebt den
92
W. 1. Lenin
Ukrainern nach, ihr werdet damit den Weg ebnen zu gegenseitigem Ver-
trauen der beiden Nationen, zu ihrem brüderlichen Bündnis als eben-
bürtige Partner!
Die Sozialrevolutionäre und die Menschewiki als Regierungsparteien
haben in der ukrainischen Frage eine Niederlage erbtten, denn sie sind
den konterrevolutionären kadettischen Cavaignac auf den Leim gegangen.
.. Pramda ~ Nr. 84, Nach dem Text der „ Pramda ".
30. (17.) Juni 1917.
\
AUF DIE ANKLAGEBANK MIT RODSJANKO
UND DSHUNKOWSKI,
SIE HABEN EINEN SPITZEL GEDECKT!
Aus dem Bericht der Untersuchungskommission in Sachen des Lock-
spitzels Malinowski geht folgende Tatsache hervor:
Sowohl Dshunkowski als auch Rodsjanko hatten spätestens am 7. Mai
191-4 erfahren, daß Malinowski ein Spitzel ist. 38
Keiner von beiden hat die in der Duma vertretenen politischen Par-
teien, in erster Linie die Bolschewiki, vor dem Spitzel in ihrer Mitte
gewarnt II
Ist das vielleicht kein Verbrechen?
Können Dshunkowski und Rodsjanko nach dem Vorgefallenen noch
als makellose Bürger gelten?
Jede politische Partei möge sich das überlegen und sich dazu äußern!
.Prawda" Nr. 84,
30. (17.) Juni 1917.
Nach dem Text der „ Prawda ".
EINE MERKWÜRDIGE ENTSTELLUNG
VON ZITATEN
In den Zeitungen „Den“ 39 und „Nowaja Shisn“, die gestern ausführ-
licher als andere den Bericht der Untersuchungskommission 40 veröffent-
licht haben, findet sich eine Stelle aus meinen Aussagen; in der „Bir-
showka“ 41 , die eine in verschiedener Hinsicht noch vollständigere Dar-
stellung der Untersuchungsergebnisse gebracht hat, fehlt diese Stelle.
Die beiden erstgenannten Zeitungen brachten ein Zitat aus meinen
Aussagen, das mit den Worten beginnt: „Ich glaube hier nicht an Spitzel-
tätigkeit“. Vor dem Zitat stehen keine Punkte, und so kommt der unge-
heuerliche Unsinn heraus, als ob ich jetzt „nicht daran glaubte“.
Nur die höchst merkwürdige Entstellung des Zitats in beiden Zeitun-
gen konnte zu solch einem Unsinn führen. In Wirklichkeit sagte ich aus :
„Was mich betrifft, so hatte ich mich (bevor Malinowskis Spitzeltätigkeit
aufgedeckt wurde) wiederholt folgendermaßen geäußert: Nach der Asef-
Affäre 42 wundert mich gar nichts mehr. Doch ich glaube hier nicht an
Spitzeltätigkeit, nicht nur deshalb, weil ich keine Beweise, keinerlei An-
haltspunkte sehe, sondern auch, weil . . .“ (und weiter, wie im „Den“ :
weil die Ochrana mit Malinowski als Spitzel gar nicht auf ihre Rechnung
gekommen wäre, da bei uns alles über zwei legale Stellen ging, usw.).
In meinen Aussagen ist also von der Vergangenheit die Rede. Der
„Den“ und die „Nowaja Shisn“* haben mir durch eine merkwürdige
Entstellung des Zitats den Unsinn zugeschrieben, als spräche ich von der
Gegenwart.
Es ist das gerade Gegenteil von dem, was ich wirklich ausgesagt habe.
„ Pratvda ‘ Nr. 84, 30. (17.) Juni 1917. Nach dem Text der „ Pratvda ".
Unterschrift: N. Lenin.
* In beiden Zeitungen ist obendrein noch ein Druckfehler. Es heißt da: „Die
Bolschewiki werden keinen bewaffneten Aufstand machen“. Statt „keinen“ muß
es heißen „einen“.
HERRSCHENDE UND VERANTWORTLICHE
PARTEIEN
Die Bildung entweder eines einheitlichen oder eines föderativen Zen-
tralkomitees durch den Sowjetkongreß und das Exekutivkomitee des
Bauemsowjets ist eine Sache der nächsten Tage. Diese Frage ist auf die
Tagesordnung gesetzt worden und wird in der allernächsten Zeit ent-
schieden werden. Der kleinen „Rauferei“ zwischen den Sozialrevolutio-
nären und den Menschewiki über die Art der Bildung des ZK braucht
man keinerlei Beachtung zu schenken: so belanglos ist dieser Kampf der
beiden Parteien, die ein und denselben Standpunkt der Vaterlandsver-
teidigung (d. h. der Unterstützung des räuberischen Krieges) und des Mi-
nisterialismus vertreten, d. h. der Unterstützung einer Regierung der
konterrevolutionären Bourgeoisie.
Große Bedeutung hat die Bildung des ZK als des letzten Mosaik-
steinchens, das kennzeichnend ist für die neueste politische Situation im
Unterschied zu den vorangegangenen. Die neueste politische Situation
wird durch die endgültige Klarstellung der Tatsache bestimmt, daß sich
heute die Mehrheit der Bevölkerung für die Parteien der Sozialrevolu-
tionäre und Menschewiki ausspricht, die bekanntlich einen gemeinsamen
Blöde bilden.
Der Gesamtrussische Bauemsowjet und der jetzt tagende Gesamt-
russische Kongreß der Sowjets der Soldaten- und Arbeiterdeputierten
sowie die Wahlen zu den Bezirksdumas in Petrograd haben endgültig
die Tatsache bestätigt, daß der Block der Sozialrevolutionäre und Men-
schewiki die in Rußland herrschende Partei ist.
Dieser Block hat jetzt ganz offenkundig die Mehrheit im Volk. Es ist
kein Zweifel darüber möglich, daß er auch in dem einheitlichen oder föde-
96
W.I. Lettin
rativen Zentralkomitee der Sowjets (oder dem Sowjet der Sowjets, offen-
bar ist man sich über die Bezeichnung noch nicht einig), das jetzt gebildet
werden soll, die Mehrheit haben wird.
Die Sozialrevolutionäre und Menschewiki sind die herrschenden und
verantwortlichen Parteien.
Dies ist das Wesentliche der neuesten politischen Situation. Wenn sich
die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre vor den Wahlen in Petro-
grad, vor dem Bauemkongreß und vor dem Sowjetkongreß wenigstens
noch mit einer Spur von Glaubwürdigkeit hinter dem Argument verschan-
zen konnten, daß der Wille der Mehrheit unbekannt sei, daß die Kadet-
ten wohl auch der Mehrheit nahe seien usw. usf., so sind diese Ausflüchte
heute unmöglich. Der von gewissen Leuten künstlich erhaltene Nebel hat
sich aufgelöst.
Ihr seid in der Mehrheit, meine Herren Sozialrevolutionäre und Men-
schewiki, ihr bildet die herrschenden Parteien oder richtiger den herr-
schenden Block. Ihr tragt die Verantwortung.
Unsere Hauptaufgabe bei der Agitation und Propaganda im allgemei-
nen und bei der Wahlkampagne zur Konstituierenden Versammlung im
besonderen besteht jetzt darin, den breiten Massen der Arbeiter und
Bauern äußerst gründlich, sachlich und anschaulich klarzumachen, daß
für die Politik unseres Landes jetzt die Sozialrevolutionäre und die Men-
schewiki als die herrschenden Parteien verantwortlich sind. Bisher war
das anders, denn als Parteien hatten sie ihre Mehrheit noch nicht ermit-
telt und sich gern als „Opposition“ unter den regierenden Kadetten hin-
gestellt. Jetzt ist kein Zweifel mehr möglich: die Sozialrevolutionäre und
Menschewiki haben die Mehrheit.
Sie sind verantwortlich für die gesamte Politik des Landes.
Sie sind jetzt verantwortlich für die Ergebnisse der anderthalbmonati-
gen Amtszeit der „Koalitionsregierung“.
Sie sind dafür verantwortlich, daß es in der Regierung eine Mehrheit
von Ministem der Partei der konterrevolutionären Bourgeoisie gibt.
Jeder weiß, sieht und spürt, daß sich diese Minister ohne Zustimmung
des Sowjetkongresses und des Gesamtrussischen Bauemsowjets nicht
einen Tag lang halten könnten.
Die Sozialrevolutionäre und Menschewiki sind für die grundlegenden
Widersprüche der jetzigen Politik verantwortlich, die immer krasser und
Herrschende und verantwortliche Parteien 97
unerträglicher fühlbar werden und den Massen immer deutlicher zum
Bewußtsein kommen.
In Worten wird der Eroberungskrieg „verurteilt“ und ein Frieden
ohne Annexionen „gefordert“. Doch in der Tat wird gerade dieser Er-
oberungskrieg im Bündnis mit offenkundigen Eroberern, den Imperiali-
sten Englands, Frankreichs u. a. fortgesetzt. In der Tat wird die Offen-
sive auf Verlangen eben dieser Verbündeten vorbereitet, in Übereinstim-
mung mit den räuberischen Geheimverträgen, die Nikolaus II. im Inter-
esse der Bereicherung der russischen Gutsbesitzer und Kapitalisten abge-
schlossen hat.
In der Tat wird eine Politik der Annexionen betrieben, d. h. der ge-
waltsamen Angliederung von Völkern (Albanien, Griechenland) an einen
Staat oder eine Imperialistengruppe - eine Politik der Annexionen auch
innerhalb des „revolutionären“ (aber einen konterrevolutionären Weg
beschreitenden) Rußlands; Finnland und die Ukraine werden wie annek-
tierte Völker behandelt, nicht wie wirklich freie, wirklich gleichberech-
tigte Völker, die das unbestreitbare Recht auf Autonomie und auf Los-
trennung haben.
In Worten ist „der Widerstand der Kapitalisten anscheinend gebro-
chen“, wie ein Minister des Blocks, Peschechonow, prahlerisch erklärte.
In der Tat aber mußte man sogar in der Resolution des Sowjetkongresses
zugeben, daß „der Widerstand der besitzenden Klassen wächst“ (d. h.
der Widerstand der konterrevolutionären Bourgeoisie, die von 16 Mini-
stem 10 kapitalistische Minister stellt und in der Wirtschaft des Landes
faktisch allmächtig ist).
In Worten wird Kontrolle und Regulierung der Produktion sowie das
restlose Einziehen der Profite versprochen (Minister Skobelew). In der
Tat ist während der anderthalb Monate überhaupt nichts geschehen!
Nicht ein einziger sachlicher, ernsthafter Schritt wurde unternommen,
weder gegen die Kapitalisten, die Aussperrungen vornehmen, noch gegen
die Spekulanten und Kriegsgewinnler oder gegen die Bankmagnaten !!
Wir wollen die Liste dieser himmelschreienden Widersprüche nicht
fortsetzen, die aufgezeigten genügen vollauf.
Die Zerrüttung greift um sich. Die Krise steht vor der Tür. Unauf-
haltsam kommt die Katastrophe auf uns zu. Die Menschewiki und die
Sozialrevolutionäre aber reden den Kapitalisten ins Gewissen, sie dro-
Lenin, Werke. Bd. 25
W.I. Lenin
hen, ihnen 100 Prozent ihres Profits zu nehmen, sie prahlen, der Wider-
stand der Kapitalisten sei gebrochen, sie schreiben Resolutionen und ma-
chen Projekte, sie machen Projekte und schreiben Resolutionen.
Die Katastrophe zieht herauf. Alle Verantwortung dafür lastet auf den
Sozialrevolutionären und den Menschewiki als dem herrschenden Block.
„Pramda" Nr. 85. Nach dem Text der „Prawda“.
1. Juli (18. Juni ) 1917.
NOCH EINE KOMMISSION
Der wirtschaftliche Zerfall hat bereits begonnen. Die Bourgeoisie greift
auf der ganzen Linie an. Entschiedene Maßnahmen sind notwendig.
Was gedenkt die Provisorische Regierung zu unternehmen?
Sie hat zur Rettung Rußlands, zum Kampf gegen den wirtschaftlichen
Zerfall, zur Regelung des Wirtschaftslebens den Entwurf zu einer neuen
Organisation ausgearbeitet, einen ausführlichen Plan zur Bekämpfung
des wirtschaftlichen Zerfalls.
An die Spitze des ganzen Unternehmens, der »Organisation der Volks-
wirtschaft und der Arbeit“, wird ein Wirtsdiaftsrat gestellt.
Endlich, werden Maßnahmen ergriffen, man geht von Worten zur Tat
über. Sehr schön, es ist auch die höchste Zeitl
Wie aber setzt sich dieser Wirtsdiaftsrat zusammen?
Wer wird gegen den wirtschaftlichen Zerfall kämpfen, wer wird den
Kampf führen gegen die verbrecherische Politik der Kapitalisten, der
Unternehmer, der Fabrikbesitzer und Industrieherren?
Es stellt sich heraus, daß in diesem Rat die Kapitalisten die erdrückende
Mehrheit haben werden. Ist das nicht ein Hohn?!
Hier ist die Zusammensetzung dieser ehrenwerten Institution :
Boürgeoisminister 6
Vertreter der Kapitalisten (des Rates der Banken, des Börsenhandels, der
Landwirtschaft usw.) 9
Insgesamt 15
Von den Arbeitern (Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten) . . . .3
Von den Gewerkschaften 3
Von den Bauemdeputierten 3
Insgesamt 9
100
W.l. Lenin
Dazu kommen noch der Kriegsminister, der Arbeitsminister und drei
Vertreter der Genossenschaften.
Man sieht also, entscheiden werden die Kapitalisten.
Es wird wieder eine Institution geschaffen, die im besten Fall ohne
Nutzen sein wird.
Außerdem werden, wie das so üblich ist, noch eine Unmenge Kom-
missionen, Unterkommissionen, Komitees usw. geschaffen.
So glaubt man den Kampf gegen den wirtschaftlichen Zerfall führen
zu können.
Das heißt den Hecht ins Wasser werfen . . .*
„Pramda" Nr. 85, Nach dem Text der „Pramda".
1. Juli (18. Juni) 1917.
' Anspielung auf die Krylowsdie Fabel „Der Hecht“. Die Red.
DER ACHTZEHNTE JUNI
Der 18. Juni wird so oder so in die Geschichte der russischen Revo-
lution als einer der Tage eingeh en. die einen Wendepunkt bedeuten.
Die Stellung der Klassen zueinander, ihre wechselseitigen Beziehungen
im Kampfe gegeneinander und ihre Stärke, besonders im Vergleich zur
Stärke der Parteien, all dies zeigte die Demonstration am Sonntag so
deutlich, so klar und eindrucksvoll, daß der Gewinn an Klassenbewußt-
sein und Klarheit außerordentlich groß sein wird, ganz gleich wie und in
welchem Tempo sich die weitere Entwicklung auch vollziehen mag.
Die Demonstration hat in wenigen Stunden das leere Gerede von
den verschwörerischen Bolschewiki wie Spreu im Winde verweht, sie hat
sehr anschaulich und unwiderlegbar gezeigt, daß die Avantgarde der
werktätigen Massen Rußlands, das Industrieproletariat Petrograds und
die Truppen der Hauptstadt, in überwältigender Mehrheit für die Lo-
sungen einstehen, die unsere Partei stets vertreten hat.
Festen Schritts marschieren die Bataillone der Arbeiter und Soldaten.
Etwa eine halbe Million Demonstranten marschieren in geschlossener
Front, einmütig geschart um die Losungen, deren übergroße Mehrheit
fordert: „Alle Macht den Sowjets“, „Nieder mit den zehn kapitalistischen
Ministem“, „Weder Separatfrieden mit den Deutschen noch Geheim-
verträge mit den englischen und französischen Kapitalisten“ usw. Keiner,
der die Demonstration gesehen hat, hegt noch den geringsten Zweifel
daran, daß diese Losungen bei der organisierten Avantgarde der Arbeiter-
und Soldatenmassen Rußlands den Sieg davongetragen haben.
Die Demonstration am 18. Juni wurde zu einer Manifestation der Kraft
und der Politik des revolutionären Proletariats, das der Revolution die
Richtung weist, das den Ausweg aus der Sackgasse zeigt. Darin liegt die
102
W. I. Lenin
gewaltige historische Bedeutung der Demonstration am Sonntag, darin
unterscheidet sie sich grundsätzlich von den Demonstrationen am Tage
der Bestattung der Revolutionsopfer und am 1. Mai. Damals war es eine
allgemeine Ehrung des ersten Sieges der Revolution und ihrer Helden,
ein Rückblick des Volkes auf die von ihm so rasch und erfolgreich
zurückgelegte erste Etappe zur Freiheit. Der 1. Mai war ein Fest der
Wünsche und Hoffnungen, die mit der Geschichte der internationalen
Arbeiterbewegung, mit ihrem Ideal von Frieden und Sozialismus ver-
knüpft sind.
Weder die eine noch die andere Demonstration hatte sich zum Ziel
gesetzt, der Revolution die Richtung der weiteren Entwicklung zu wei-
sen, und sie konnten das auch gar nicht. Weder die eine noch die andere
warf vor den Massen und im Namen der Massen die konkreten, ganz
bestimmten, brennenden Fragen auf, in welcher Richtung und auf welche
Weise die Revolution verlaufen soll.
In diesem Sinne war der 18. Juni die erste politische Demonstration
der Tat, eine Erläuterung - nicht durch Bücher oder Zeitungen, sondern
auf offener Straße, nicht durch die Führer, sondern durch die Massen -,
eine Erläuterung, wie die verschiedenen Klassen handeln, wie sie han-
deln wollen und handeln werden, um die Revolution weiterzuführen.
Die Bourgeoisie hatte sich versteckt. An einer friedlichen Demonstra-
tion, die ganz offensichtlich von der Mehrheit des Volkes bei Freiheit der
Parteilosungen veranstaltet worden war, die zum Hauptziel die Mani-
festation gegen die Konterrevolution hatte, an einer solchen Demonstra-.
tion teilzunehmen lehnte die Bourgeoisie ab. Das ist auch begreiflich.
Die Bourgeoisie, das ist ja eben die Konterrevolution. Sie versteckt sich
vor dem Volk und zettelt regelrechte konterrevolutionäre Verschwörun-
gen gegen das Volk an. Die jetzt in Rußland herrschenden Parteien, die
Parteien der Sozialrevolutionäre und Menschewiki, haben sich an diesem
historischen 18. Juni ganz klar als Parteien des Schwankens erwiesen.
Ihre Losungen brachten ihr Schwanken zum Ausdruck, und hinter ihren
Losungen stand - klar und für alle sichtbar - die Minderheit. Auf
demselben Fleck stehenbleiben, einstweilen alles beim alten lassen, das
war es, was sie mit ihren Losungen, durch ihre Schwankungen dem Volke
rieten. Das Volk aber spürte, und sie selbst spürten, daß dies unmög-
lich ist.
Der achtzehnte Juni
103
Genug der Schwankungen, sagte die Avantgarde des Proletariats, die
Avantgarde der Arbeiter- und Soldatenmassen Rußlands. Genug der
Schwankungen. Die Politik des Vertrauens zu den Kapitalisten, zu ihrer
Regierung, ihren reformerischen Anstrengungen, ihrem Kriege und ihrer
Offensivpolitik, eine solche Politik ist aussichtslos. Ihr Bankrott ist nicht
mehr fern. Ihr Bankrott ist unausbleiblich. Das wird auch der Bankrott
der herrschenden Parteien der Sozialrevolutionäre und Menschewiki Sein.
Der wirtschaftliche Zusammenbruch rückt immer näher. Es ist unmög-
lich, sich vor ihm anders zu retten als durch revolutionäre Maßnahmen
der an der Macht befindlichen revolutionären Klasse.
Das Volk muß mit der Politik des Vertrauens zu den Kapitalisten
Schluß machen, es soll der revolutionären Klasse, dem Proletariat ver-
trauen. Das Proletariat und nur das Proletariat ist die Quelle der Kraft.
In ihm und nur in ihm liegt die Gewähr dafür, daß die Interessen der
Mehrheit wahrgenommen werden, die Interessen der durch den Krieg
und das Kapital erdrückten Werktätigen und Ausgebeuteten, die fähig
sind, den Krieg und das Kapital zu bezwingen!
Eine Krise von unerhörtem Ausmaß ist über Rußland und über die
ganze Menschheit hereingebrochen. Es gibt nur einen Ausweg: Ver-
trauen zu dem am besten organisierten Vortrupp der Werktätigen und
Ausgebeuteten, Unterstützung seiner Politik.
Ob das Volk diese Lehre schnell begreifen und wie es sie verwirklichen
wird, wissen wir nicht. Aber eins wissen wir ganz bestimmt, daß es
anders keinen Ausweg aus der Sackgasse gibt, daß mögliche Schwan-
kungen oder daß Grausamkeiten der Konterrevolution daran nichts
ändern können.
Ohne das volle Vertrauen der Volksmassen zu ihrem Führer, dem
Proletariat, gibt es keinen Ausweg.
„ Pramda " Nr. 86, Nach dem Text der „Pramda".
3. Juli (20. Juni) 1917.
DIE REVOLUTION,
DIE OFFENSIVE UND UNSERE PARTEI
„Die russische Revolution ist an einem Wendepunkt angelangt“, sagte
Zereteli, als er dem Sowjetkongreß von der begonnenen Offensive 43 Mit-
teilung machte. Ja, an einem Wendepunkt ist nicht nur die russische
Revolution angelangt, sondern auch der ganze Weltkrieg. Die russische
Regierung hat nach dreimonatigem Schwanken tatsächlich den Entschluß
gefaßt, den die Regierungen der „Alliierten“ von ihr gefordert haben.
Die Offensive wurde im Namen des Friedens verkündet. Doch „im
Namen des Friedens“ werfen die Imperialisten aller Länder ihre Truppen
in die Schlacht, bei jeder Offensive versuchen die Generale in jedem der
kriegführenden Länder die Stimmung der Soldaten durch die belebende
Hoffnung zu heben, daß diese Offensive auf dem raschesten Wege zum
Frieden führe.
Dieses Verfahren, das bei allen Imperialisten üblich ist, haben die
russischen „sozialistischen“ Minister mit tönenden Phrasen drapiert, in
denen Worte wie Sozialismus, Demokratie und Revolution sich anhören
wie das Schellengeklapper eines gewandten Gauklers. Mit keinen noch so
tönenden Phrasen aber kann die Tatsache verschleiert werden, daß die
revolutionäre Armee Rußlands für die Ziele der Imperialisten Englands,
Frankreichs, Italiens, Japans und Amerikas ins Feuer gejagt worden ist.
Keine Sophistereien Tschemows, des einstigen Zimmerwalders und jet-
zigen Partners von Lloyd George, können verschleiern, daß, wenn auch
die russische Armee und das russische Proletariat tatsächlich keine Er-
oberungsziele verfolgen, dies nicht das geringste an dem imperialistisch-
räuberischen Charakter des Kampfes zwischen den zwei weltumspannen-
den Trusts ändert. Solange die Geheimverträge nicht revidiert worden
Die Revolution, die Offensive und unsere Partei 105
sind, die Rußland mit den Imperialisten anderer Länder verbinden, so-
lange Ribot, Lloyd George und Sonnino als Verbündete Rußlands weiter
von den Annexionszielen ihrer Außenpolitik sprechen, so lange ist und
bleibt die Offensive der russischen Truppen ein Dienst, der den Impe-
rialisten erwiesen wird.
Aber wir haben doch wiederholt erklärt, daß wir auf jegliche Anne-
xionen verzichten, erwidern die Zereteli und Tschemow. Um so schlim-
mer, sagen wir: Eure Worte stimmen also nicht mit euren Taten überein,
denn in Wirklichkeit dient ihr dem russischen so gut wie dem auslän-
dischen Imperialismus. Sobald ihr aber den „alliierten“ Imperialismus
aktiv unterstützt, erweist ihr der russischen Konterrevolution vortreff-
liche Dienste. Die Freude aller Schwarzhunderter, aller Konterrevolutio-
näre über die entschiedene Wendung in eurer Politik ist das beste Zeichen
dafür. Ja, die russische Revolution steht an einem Wendepunkt. Die
russische Regierung hat durch ihre „sozialistischen“ Minister das zuwege
gebracht, was die imperialistischen Minister, Gutschkow und Miljukow,
nicht fertigbringen konnten: sie hat die Verfügungsgewalt über die rus-
sische. Armee den Generalstäben und Diplomaten gegeben, die im Namen
und auf der Grundlage der nicht aufgehobenen Geheimverträge handeln,
um der Ziele willen, die von Ribot und Lloyd George offen verkündet
worden sind. Doch konnte die Regierung diese Aufgabe nur lösen, weil die
Armee ihr vertraute und ihr folgte. Die Armee ging in den Tod, im
Glauben, sich für die Freiheit, für die Revolution und für einen baldigen
Frieden zu opfern.
Doch die Armee war dazu bereit, weil sie lediglich ein Teil des Volkes
ist, das in dieser Etappe der Revolution den Parteien der Sozialrevolu-
tionäre und Menschewiki folgte. Diese allgemeine und grundlegende Tat-
sache, das Vertrauen der Mehrheit zu der kleinbürgerlichen, von den
Kapitalisten abhängigen Politik der Menschewiki und Sozialrevolutio-
näre, ist bestimmend für die Stellung und das Verhalten unserer Partei.
Mit nicht nachlassender Energie werden wir weiter die Politik der
Regierung entlarven und nach wie vor die Arbeiter und Soldaten ent-
schieden warnen, unsinnige Hoffnungen auf isolierte, unorganisierte
Aktionen zu setzen.
Es handelt sich um eine Etappe in der allgemeinen Volksrevolution.
Die in Abhängigkeit vom Imperialismus geratenen Zereteli und Tscher-
106
now sind die Exponenten der Etappe der kleinbürgerlichen Illusionen,
der kleinbürgerlichen Phrasen, hinter denen sich der Imperialismus ver-
birgt, der gleiche zynische Imperialismus wie bisher.
Diese Etappe muß überwunden werden. Wir wollen helfen, sie mög-
lichst rasch und schmerzlos zu überwinden. Dies wird das Volk von den
letzten kleinbürgerlichen Illusionen befreien und wird zum Übergang
der Macht in die Hände der revolutionären Klasse führen.
„Pramda" Nr. 87, Nack dem Text der „ Prawda
4. Juli (21. Juni) 1917.
107
WODURCH UNTERSCHEIDET
IHR EUCH DENN VON PLECHANOW,
IHR HERREN SOZIALREVOLUTIONÄRE
UND MENSCHEWIKI?
Das „Delo Naroda“ hat das „Jedinstwo“ schon oft für sozial-imperia-
listisch erklärt. Die „Rabotschaja Gaseta“ hat den Wahlblock mit dem
„Jedinstwo“ offiziell verurteilt (nachdem die Wahlen zu fast allen Be-
zirksdumas vorbei waren).
Die jetzt begonnene Offensive zerreißt den Nebel von Phrasen und
zeigt dem Volk die ungeschminkte Wahrheit. Jedermann sieht, daß sich
in der ernsten, sachlichen Frage der begonnenen Offensive Plechanow und
die Führer der Sozialrevolutionäre und Menschewiki einig sind.
„Sozialimperialisten“ (nach dem Ausdrude des „Delo Naroda“) seid
ihr also alle, das „Jedinstwo“ genausogut wie Kerenski und Tschemow,
wie Zereteli und Skobelew.
4. Juli (21. Juni) 1917.
Nach dem Text der „ Pratvda “.
108
WIE SICH RODSJANKO RECHTFERTIGT
Die „Russkaja Wolja“ Nr. 143 bringt ein Interview mit Rödsjanko,
der es für „ungerecht“ hält, daß er (von der „Prawda“ und der „Rabo-
tschaja Gaseta“) beschuldigt wird, Malinowski gedeckt zu haben. Wie
sich aber herausstellt, hatte Dshunkowski schon am 22. April 1914 Ro-
dsjanko mitgeteilt, daß Malinowski ein Lockspitzel ist, aber er nahm
Rodsjanko das „Ehrenwort“ (! 1 1) ab, niemand etwas davon zu sagen.
Unglaublich, aber es ist so. Rodsjanko gibt einem Mann von der
Ochrana sein „Ehrenwort“ und macht den Dumamitgliedern keine Mit-
teilung über den Spitzel. Unsere Partei und die ganze Gesellschaft, in
deren Mitte der Spitzel Malinowski noch weiter sein Unwesen treibt,
bleiben im Irrtum befangen . . . denn Rodsjanko hat dem Mann der Och-
rana sein „Ehrenwort" gegeben, den Spitzel nicht zu verraten.
Und das kann man dulden?
Und es ist möglich, Rodsjanko nicht für einen Verbrecher zu halten?
.Prawda“ Nr. 87,
4. Juli (21. Juni) 1917.
Nach dem Text der . Prawda “.
WOHIN HABEN DIE SOZIALREVOLUTIONÄRE
UND DIE MENSCHEWIKI DIE REVOLUTION
GEBRACHT?
Sie haben die Revolution den Imperialisten unterworfen.
Die Offensive bedeutet Wiederaufnahme des imperialistischen Krieges.
Das Verhältnis, in dem die beiden miteinander kämpfenden gigantischen
Kapitalistenverbände zueinander stehen, hat sich im wesentlichen nicht
geändert. Rußland wird auch nach der Revolution vom 27. Februar un-
umschränkt von den Kapitalisten beherrscht, die durch Bündnisse und die
alten Geheimverträge des Zaren mit dem englisch-französischen imperia-
listischen Kapital verbunden sind. Die Wirtschaft und die Politik des
Krieges, der weitergeführt wird, sind die gleichen wie früher: dasselbe im-
perialistische Bankkapital herrscht im Wirtschaftsleben; dieselben Ge-
heimverträge, dieselbe Außenpolitik der Bündnisse der einen Imperia-
listengruppe gegen die andere.
Die Phrasen der Menschewiki und Sozialrevolutionäre sind und blei-
ben Phrasen, die in Wirklichkeit nur die Wiederaufnahme des imperia-
listischen Krieges süßlich beschönigen, was natürlich begeistertes Gebrüll
der Zustimmung bei allen Konterrevolutionären, bei der ganzen Bour-
geoisie und bei Plechanow auslöst, „der dienstbeflissen der bürgerlichen
Presse hinterherläuft“, wie sich die menschewistische „Rabotschaja
Gaseta" ausdrückt, die selbst dienstbeflissen hinter dem ganzen Rudel
der Sozialchauvinisten herläuft.
Nur darf man die besonderen Merkmale der gegenwärtigen Wieder-
aufnahme des imperialistischen Krieges nicht außer acht lassen. Sie ist
nach dreimonatigem Schwanken erfolgt, nachdem die Arbeiter- und
Bauemmassen den Eroberungskrieg tausendmal verurteilt hatten (wäh-
110
W. I. Lenin
rend sie gleichzeitig in Wirklichkeit die Regierung der annexionslüster-
nen, räuberischen Bourgeoisie Rußlands weiter unterstützten). Die Mas-
sen schwankten, als wollten sie sich anschicken, bei sich im Lande den Rat
zu befolgen, der im Aufruf an die Völker der ganzen Welt vom 14. März
den anderen Völkern erteilt worden war: „Weigert euch, als Werkzeug
der Eroberung und Vergewaltigung in den- Händen der Bankiers zu
dienen.“ In Wirklichkeit aber blieben die Massen bei uns im Lande, im
„revolutionär-demokratischen“ Rußland, eben ein Werkzeug der Erobe-
rung und der Vergewaltigung „in den Händen der Bankiers“.
Die Eigenart dieser Lage besteht darin, daß sie bei verhältnismäßig
sehr großer Organisationsfreiheit der. Massen von den Parteien der So-
zialrevolutionäre und Menschewiki geschaffen wurde. Gerade diese Par-
teien haben gegenwärtig die Mehrheit erobert, der Gesamtrussische So-
wjetkongreß und der Gesamtrussische Bauemsowjet haben das unwider-
legbar bewiesen.
Gerade diese Parteien sind jetzt für die Politik Rußlands verantwortlich.
Gerade diese Parteien sind verantwortlich für die Wiederaufnahme
des imperialistischen Krieges, verantwortlich für die neuen Hunderttau-
sende von Opfern, die in Wirklichkeit nur gebracht werden, damit die
einen Kapitalisten die anderen „niederringen“ können, sie sind verant-
wortlich für die weitere Verschärfung der Zerrüttung als unausbleibliche
Folge der Offensive.
Wir haben in reinster Form gesehen, wie sich die kleinbürgerlichen
Massen selbst betrügen und wie diese Massen von der Bourgeoisie be-
trogen werden mit Hilfe der Sozialrevolutionäre und der Menschewiki.
In Worten sind diese beiden Parteien die „revolutionäre Demokratie“. In
Wirklichkeit aber haben sie, gerade sie, das Schicksal des Volkes an die
konterrevolutionäre Bourgeoisie, die Kadetten, ausgeliefert; gerade sie
wandten sich von der- Revolution ab und der Fortsetzung des imperia-
listischen Krieges zu, sie wandten sich ab von der Demokratie und mach-
ten „Zugeständnisse“ an die Kadetten, sowohl in der Frage der Macht
(man denke nur an die von oben erfolgende „Bestätigung“ der von der
örtlichen Bevölkerung gewählten Machtorgane) wie auch in der Boden-
frage (Verzicht der Menschewiki wie der Sozialrevolutionäre auf ihr
eigenes Programm: Unterstützung der revolutionären Aktionen der
Bauern bis zur Konfiskation der Gutsbesitzerländereien) und in der
Wohin haben die Sozialrev. und die Menschewiki die Revolution ... 111
nationalen Frage (Verteidigung des kadettischen Antidemokratismus
gegenüber der Ukraine und Finnland).
Die kleinbürgerlichen Massen können nicht anders als zwischen Bour-
geoisie und Proletariat hin- und herschwanken. So war es in allen Län-
dern, besonders in der Zeit von 1789 bis 1871. So ist es auch in Ruß-
land. Die Menschewiki und Sozialrevolutionäre führten die Massen da-
hin, daß die konterrevolutionären Bourgeois sie ihrer Politik unterwerfen
konnten.
Darin besteht das Wesen der gegenwärtigen Lage. Darin liegt die Be-
deutung der Offensive. Darin liegt die Besonderheit: nicht Gewalt, son-
dern das Vertrauen zu den Sozialrevolutionären und den Menschewiki
hat das Volk irregeleitet.
Auf lange Zeit?
Nein, nicht auf lange Zeit. Die Massen werden aus den eigenen Er-
fahrungen lernen. Die traurigen Erfahrungen aus der neuen (jetzt begon-
nenen) Etappe des Krieges, aus der neuerlichen, durch die Offensive ver-
schärften Zerrüttung, werden unvermeidlich zum politischen Zusammen-
bruch der Parteien der Sozialrevolutionäre und Menschewiki führen. Es
ist Aufgabe der proletarischen Partei, in erster Linie den Massen zu hel-
fen, sich diese Erfahrungen anzueignen und sie richtig zu verwerten, sich
richtig auf diesen gewaltigen Zusammenbruch vorzubereiten, der den
Massen ihren wahren Führer, das organisierte städtische Proletariat, zei-
gen wird.
„Pramda" Nr. 88.
5. Mi (22. Juni) 1917.
Nach dem Text der .Pramda".
KANN MAN DIE ARBEITERKLASSE MIT DEM
.JAKOBINERTUM“ SCHRECKEN?
Die Zeitung des „sozialistischen Gedankens“ (nicht lachen I), der bür-
gerliche, chauvinistische „Den“, kommt in Nr. 91 auf den wirklich inter-
essanten Leitartikel der „Retsch“ vom 18. Juni zurück. Der „Den“ hat
diesen Leitartikel, in dem neben dem erbosten konterrevolutionären Bour-
geois gerade auch der Historiker hervortritt, überhaupt nicht begriffen.
Der „Den“ entnimmt dem Leitartikel die „feste Absicht der Kadetten,
aus der Koalitionsregierung auszutreten“.
Das ist nur leeres Gerede. Die Kadetten drohen, um die Zereteli und
Tschemow einzuschüchtem. Das ist nicht ernst zu nehmen.
Emst zu nehmen und wichtig ist, wie der Leitartikler der „Retsch“ am
18. Juni vom Standpunkt des Historikers aus die Frage der Macht gestellt
hat.
„Wenn“, so schrieb er, „bei der früheren Zusammensetzung der Re-
gierung wenigstens eine gewisse Führung der russischen Revolution mög-
lich war, so ist es ihr jetzt offenbar beschieden, sich weiterhin nach den
elementaren Gesetzen aller Revolutionen zu entwickeln . . . Die Frage
nach der Zweckmäßigkeit des Weiterbestehens einer Regierungskombi-
nation, die sich nicht bewährt hat, wird bereits nicht nur allein von den
Bolschewiki gestellt“ (man beachte: nicht nur allein von den Bolschewiki !),
und nicht nur von der Mehrheit des Sowjets . . . Diese Frage muß
auch von den kapitalistischen Ministem selbst gestellt werden.“
Es ist eine richtige Feststellung des Historikers, daß nicht nur allein die
Bolschewiki, sondern das ganze Verhältnis der Klassen zueinander, das
ganze Leben der Gesellschaft die Frage nach der „Zweckmäßigkeit des
Weiterbestehens einer Regierungskombination, die sich nicht bewährt
Kamt man die Arbeiterklasse mit dem „ Jakobinertum " sdtredten? 113
hat“, auf die Tagesordnung gesetzt haben. Schwankungen - das ist die
Wirklichkeit. Die Offensive ist ein möglicher Ausweg, der zum Sieg der
imperialistischen Bourgeoisie führen kann. Und der andere mögliche
Ausweg?
Der Historiker in der „Retsch“ antwortet auf diese Frage folgender-
„Wenn die Sowjets .alle Macht' ergriffen haben, werden sie sich bald davon
überzeugen, daß sie über sehr wenig Macht verfügen. Sie werden diesen Mangel
an Macht durch die in der Geschichte erprobten jungtürkischen oder jakobinischen
Methoden ersetzen müssen . . . Werden sie bereit sein, erneut die ganze Frage auf-
zurollen und bis zum Jakobinertum und zum Terror abzugleiten, oder werden sie
den Versuch machen, ihre Hände in Unschuld zu waschen? Das ist die Frage,
die sich in den nächsten Tagen entscheiden muß.“
Der Historiker hat recht. Ob in den nächsten Tagen oder nicht, jeden-
falls muß sich diese Frage sehr bald entscheiden. Entweder - Offensive,
Wendung zur Konterrevolution, Erfolg der imperialistischen Bourgeoi-
sie (auf wie lange wohl?), und Tschemow und Zereteli „waschen ihre
Hände in Unschuld“.
Oder - „Jakobinertum“. Die Historiker der Bourgeoisie sehen im Jako-
binertum ein Fallen („abgleiten“). Die Historiker des Proletariats sehen
im Jakobinertum einen der Höhepunkte im Befreiungskampf der unter-
drückten Klasse. Die Jakobiner gaben Frankreich die besten Vorbilder
der demokratischen Revolution und der Abwehr der gegen die Republik
verbündeten Monarchen. Es war den Jakobinern nicht beschieden, einen
vollständigen Sieg zu erringen, hauptsächlich deshalb, weil das Frank-
reich des 18. Jahrhunderts auf dem Kontinent von allzu rückständigen
Ländern umgeben war, und weil es in Frankreich selbst keine materiellen
Grundlagen für den Sozialismus gab, keine Banken, keine kapitalistischen
Syndikate, keine maschinelle Industrie und keine Eisenbahnen.
„Jakobinertum“ in Europa oder an der Grenze zwischen Europa und
Asien im 20. Jahrhundert wäre die Herrschaft der revolutionären Klasse,
des Proletariats; es könnte, unterstützt von der armen Bauernschaft und
gestützt auf die vorhandenen materiellen Grundlagen für das Voran-
schreiten zum Sozialismus, nicht nur all das' Große, Unvergängliche und
Unvergeßliche vollbringen, was die Jakobiner des 18. Jahrhunderts voll-
o, Werke. Band 25
114
W. I. Lenin
braditen, sondern auch den endgültigen Sieg der Werktätigen in der
ganzen Welt herbeiführen.
Es liegt in der Natur der Bourgeoisie, das Jakobinertum zu hassen,
und in der Natur des Kleinbürgertums, es zu fürchten. Die klassen-
bewußten Arbeiter und Werktätigen glauben an den Obergang der Macht
an die revolutionäre, unterdrückte Klasse, denn dies ist das Wesen des
Jakobinertums, der einzige Ausweg aus der Krise, die Rettung vor der
Zerrüttung und dem Krieg.
.Pratodar Nt. 90, Nach dem Text der . Pramda ".
7. Juli (24. Juni) 1917.
115
VON DER NOTWENDIGKEIT, EINEN VERBAND DER
LANDARBEITER RUSSLANDS ZU GRÜNDEN
ERSTER ARTIKEL
Die gegenwärtig in Petrograd tagende gesamtrussische Konferenz der
Gewerkschaften 44 wird sich mit einer Frage von außerordentlicher Be-
deutung befassen müssen. Es handelt sich um die Gründung eines gesamt-
russischen Verbandes der Landarbeiter.
Alle Klassen Rußlands organisieren sich. Die am meisten ausgebeu-
tete, in größter Not lebende, am stärksten zersplitterte und niederge-
drückte Klasse, die der landwirtschaftlichen Lohnarbeiter Rußlands, hat
man gleichsam vergessen. In einigen nichtrussischen Randgebieten, wie
z. B. im Lettischen Gebiet, bestehen Organisationen landwirtschaftlicher
Lohnarbeiter. In den allermeisten großrussischen und ukrainischen Gou-
vernements aber gibt es keine Klassenorganisation des Landproletariats.
Es ist die vornehmste und unbedingte Pflicht des Vortrupps der Prole-
tarier Rußlands - der Gewerkschaften der Industriearbeiter -, ihren Brü-
dern, den Landarbeitern, zu Hilfe zu kommen. Die Schwierigkeiten bei
der Organisierung der Landarbeiter sind gewaltig, das unterliegt keinem
Zweifel und wird durch die Erfahrungen in allen kapitalistischen Ländern
bestätigt.
Um so notwendiger ist es, so rasch und so energisch wie möglich die
politische Freiheit in Rußland zu nutzen, um unverzüglich einen gesamt-
russischen Verband der Landarbeiter zu gründen. Gerade die Konferenz
der Gewerkschaften kann und muß dies tun. Gerade die erfahreneren,
aufgeklärteren und klassenbewußteren Vertreter des Proletariats, die
jetzt auf der Konferenz versammelt sind, können und müssen sich mit
116
einem Appell an die Landarbeiter wenden, müssen sie auffordern, sich
dem Industrieproletariat anzuschließen, in die Reihen der sich selbstän-
dig organisierenden Proletarier einzutreten, sich in Gewerkschaften zu
organisieren. Gerade die Lohnarbeiter der Fabriken müssen die Initia-
tive ergreifen und die über ganz Rußland verstreuten Zellen, Gruppen
und Zweigorganisationen der Gewerkschaften ausnutzen, um den Land-
arbeiter zu selbständigem Leben, zu tätiger Teilnahme am Kampf um
die Verbesserung seiner Lage, zur Verteidigung seiner Klasseninteressen
zu erwecken.
Viele werden wahrscheinlich der Auffassung sein - und das ist wohl
sogar die zur Zeit vorherrschende Meinung -, daß gerade jetzt, da sich
die Bauernschaft in ganz Rußland organisiert und die Aufhebung des
Privateigentums an Grund und Boden sowie die „ausgleichende“ Boden-
nutzung proklamiert, die Gründung einer Landarbeitergewerkschaft nicht
zeitgemäß sei.
Das Gegenteil ist richtig. Gerade in einer solchen Zeit ist die Gründung
einer Landarbeitergewerkschaft besonders zeitgemäß und eine unauf-
schiebbare Notwendigkeit. Wer auf dem Klassenstandpunkt des Prole-
tariats steht, für den kann es keinen Zweifel geben an der Richtigkeit der
auf dem Stockholmer Parteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei
Rußlands im Jahre 1906 auf Initiative der Bolschewiki von den Mensche-
wiki gebilligten Leitsätze, die seitdem in das Programm der SDAPR
eingegangen sind. Diese Leitsätze lauten :
„Die Partei macht es sich in allen Fällen und bei jedem Stand der demokrati-
schen Agrarumgestaltungen zu ihrer Aufgabe, unentwegt eine selbständige Klas-
senorganisation des Landproletariats anzustreben, ihm den unversöhnlichen
Gegensatz zwischen seinen Interessen und den Interessen der Dorfbourgeoisie
klarzumachen, es davor zu warnen, seine Hoffnungen auf das System der Klein-
wirtschaft zu setzen, das beim Bestehen der Warenproduktion niemals imstande
sein wird, das Elend der Massen zu beseitigen, und schließlich auf die Notwendig-
keit der vollständigen sozialistischen Umwälzung hinzuweisen, als des einzigen
Mittels, jedes Elend und jede Ausbeutung zu beseitigen.“
Es gibt keinen einzigen klassenbewußten Arbeiter, kein einziges Ge-
werkschaftsmitglied, das die Richtigkeit dieser Leitsätze nicht anerkannt
Von der Notwendigkeit, einen Verband der Landarbeiter zu gründen 117
hätte. Sie zu verwirklichen, soweit es sich um eine selbständige Klassen-
organisation des Landproletariats handelt, das ist Sache eben der Ge-
werkschaften.
Wir hoffen, daß gerade in einer revolutionären Zeit, da unter den
werktätigen Massen im allgemeinen und unter den Arbeitern im beson-
deren das Streben lebendig ist, sich Geltung zu verschaffen, sich den Weg
zu bahnen und nicht zuzulassen, daß das neue Leben gestaltet wird, ohne
daß eben die Arbeiter die Fragen der Arbeit selbständig lösen - daß sich
gerade in einer solchen Zeit die Gewerkschaften nicht auf enge Berufs-
interessen beschränken werden, daß sie ihre schwächeren Brüder, die
Landarbeiter, nicht vergessen, sondern ihnen mit aller Energie durch die
Gründung eines Verbandes der Landarbeiter Rußlands helfen werden.
Im folgenden Artikel wollen wir versuchen, einige praktische Schritte
in dieser Richtung zu zeigen.
ZWEITER ARTIKEL
Im vorigen Artikel sind wir auf die grundsätzliche Bedeutung eines
Verbandes der Landarbeiter Rußlands eingegangen. Jetzt wollen wir
einige praktische Seiten dieser Frage berühren.
Dem Verband der Landarbeiter Rußlands mußten alle angehören, die
vorwiegend oder hauptsächlich oder audt nur teilweise als Lohnarbeiter
in landwirtschaftlichen Betrieben arbeiten.
Ob es notwendig ist, diese Verbände zu teilen in Verbände reiner
Landarbeiter und in Verbände von Arbeitern, die nur zum Teil Lohn-
arbeiter sind, wird die Erfahrung zeigen. Das ist jedenfalls nicht wesent-
lich. Wesentlich ist, daß die grundlegenden Klasseninteressen aller, die
ihre Arbeitskraft verkaufen, gleichartig sind, und daß die Zusammenfas-
sung aller, auch wenn sie nur zum Teil ihren Lebensunterhalt durch Lohn-
arbeit „bei fremden Menschen“ erwerben, unbedingt notwendig ist.
Die Lohnarbeiter in den Städten, in den Fabriken und Werken sind
durch Tausende, durch Millionen von Fäden mit den Lohnarbeitern auf
dem Lahde verknüpft. Ein Appell der städtischen Arbeiter an die Land-
arbeiter wird nicht ohne Widerhall bleiben. Doch darf man sich nicht auf
den Appell allein beschränken. Die Arbeiter in der Stadt haben viel mehr
118
W. I. Lenin
Erfahrung, Wissen, Mittel und Kräfte. Man muß einen Teil dieser Kräfte
dazu verwenden, den Landarbeitern zu helfen, sich aufzurichten.
Es muß ein Tag festgelegt werden, an dem alle organisierten Arbeiter
ihren Tageslohn zur Förderung und Festigung des Zusammenschlusses
der städtischen und der ländlichen Lohnarbeiter beisteuern. Ein bestimm-
ter Teil dieser Summe sollte als Hilfe der städtischen Arbeiter voll
und ganz zur Unterstützung der Klassenvereinigung der Landarbeiter
verwendet werden. Aus diesem Fonds sollten die Ausgaben bestritten
werden für die Herausgabe einer Reihe besonders gemeinverständlich ge-
haltener Flugschriften, für die Herausgabe einer wenn auch zunächst nur
wöchentlich erscheinenden Landarbeiterzeitung, für die Entsendung
wenigstens einer kleinen Zahl von Agitatoren und Organisatoren aufs
Land zur sofortigen Gründung von Landarbeiterverbänden an verschie-
denen Orten.
Nur die eigenen Erfahrungen solcher Verbände können helfen, den
richtigen Weg für die weitere Entwicklung zu finden. Die erste Aufgabe
eines jeden solchen Verbandes muß die Verbesserung der Lebenslage der-
jenigen sein, die in landwirtschaftlichen Betrieben ihre Arbeitskraft ver-
kaufen: die Durchsetzung höherer Löhne, besserer Wohnungs- und Er-
nährungsbedingungen usw.
Der irrigen Auffassung, als ob die bevorstehende Aufhebung des Pri-
vateigentums an Grund und Boden imstande sei, jedem Knecht und Tage-
löhner „Land zu geben“ und die eigentlichen Wurzeln der Lohnarbeit
in der Landwirtschaft zu beseitigen, muß der entschiedenste Kampf an-
gesagt werden. Das ist eine irrige Auffassung, eine äußerst schädliche
irrige Auffassung. Die Aufhebung des Privateigentums an Grund und
Boden ist eine gewaltige, unbedingt fortschrittliche Umgestaltung, die den
Interessen der ökonomischen Entwicklung sowie den Interessen des Pro-
letariats voll entspricht, die jeder Lohnarbeiter von ganzem Herzen und
mit allen Kräften unterstützen wird, die aber die Lohnarbeit noch keines-
wegs beseitigt.
Den Grund und Boden kann man nicht essen. Ohne Vieh und ohne
Geräte, ohne Saatgut und andere Vorräte sowie ohne Geld kann man den
Boden nicht bewirtschaften. Sich auf „Versprechungen“ zu verlassen,
von wem sie auch ausgehen mögen, auf Versprechungen, daß man den
Lohnarbeitern auf dem Lande „helfen“ würde, Vieh, Gerätschaften usw.
Von der Notwendigkeit, einen Verband der Landarbeiter zu gründen 119
anzuschaffen, das wäre der schlimmste Irrtum, eine unverzeihliche
Naivität.
Die Grundregel, das erste Gebot jeder Gewerkschaftsbewegung lautet:
Verlaß dich nicht auf den „Staat“, verlaß dich nur auf die Kraft deiner
Klasse. Der Staat ist die Organisation der herrschenden Klasse.
Verlaß dich nicht auf Versprechungen, verlaß dich nur auf die Kraft,
die im Zusammenschluß und im Bewußtsein deiner Klasse liegt!
Dem Verband der Landarbeiter muß daher sofort die Aufgabe gestellt
werden : nicht nur Kampf für die Verbesserung der Lebenslage der Ar-
beiter überhaupt, sondern auch ganz besonders Verteidigung ihrer Inter-
essen als Klasse bei der bevorstehenden großen Agrarumgestaltung.
„Die Arbeitshände müssen den Amtsbezirkskomitees zur Verfügung
gestellt werden“, so urteilen oft die Bauern und die Sozialrevolutionäre.
Der Standpunkt der Klasse der landwirtschaftlichen Lohnarbeiter ist ge-
rade entgegengesetzt : Die „Arbeitshände" müssen über die Amtsbezirks-
komitees verfügen können! Der Standpunkt des Eigentümers und der des
Lohnarbeiters treten durch eine solche Gegenüberstellung klar zutage.
„Der Grund und Boden dem ganzen Volke.“ Das ist richtig. Aber das
Volk ist in Klassen geteilt. Jeder Arbeiter weiß, sieht, fühlt und erlebt
diese Wahrheit, die von der Bourgeoisie absichtlich verschleiert und vom
Kleinbürgertum ständig außer acht gelassen wird.
Solange sich die Armen nicht zusammenschließen, wird ihnen niemand
helfen. Kein „Staat“ wird dem Lohnarbeiter auf dem Lande, dem Knecht,
dem Tagelöhner, dem armen Bauern, dem Halbproletarier helfen, wenn
er sich nicht selbst hilft „ Der erste Schritt dazu, das ist die selbständige
Klassenorganisation des Landproletariats.
Möge die gesamtrussische Konferenz der Gewerkschaften tatkräftig an
diese Sache herangehen, möge sie in ganz Rußland ihren Ruf vernehmen
lassen, möge sie ihre hilfreiche Hand, die starke Hand der organisierten
Vorhut des Proletariats, den Proletariern auf dem Lande entgegen-
strecken.
„ Pramda ' Nr. 90 und 91, Nach dem Text der .Pramda".
7. und 8. Juli (24. und 25. Juni) 1917.
. Unterschrift : N. Lenin.
EINE VERWORRENE REVOLUTION
„Die Bolschewiki sind an allem schuld“, darüber herrscht eine Mei-
nung, sowohl bei den Kadetten, die an der Spitze der Konterrevolution
stehen, als auch bei den „Sozialrevolutionären“ und Menschewiki, die
sich „revolutionäre Demokratie“ nennen, offenbar, weil sich dieser feine
Block tagtäglich über die Grundsätze der Demokratie und der Revolu-
tion hinwegsetzt.
„Die Bolschewiki sind an allem schuld“, an der zunehmenden Zer-
rüttung, gegen die nichts unternommen wird, an der schlechten Lebens-
mittelversorgung und an dem „Mißerfolg“ der Provisorischen Regierung
mit der Ukraine und mit Finnland. Man könnte fast meinen, irgendein
böser BolsciSwik habe sich bei den bescheidenen, gemäßigten und vor-
sichtigen Finnen eingeschlichen und das ganze Volk „aufgewiegelt“ 1
Das allgemeine Geheul des Hasses und der Wut über die Bolschewiki,
die schmutzige Verleumdungskampagne der schmierigen Herren Saslaw-
ski und der anonymen Schreiber von der „Retsch“ und der „Rabotschaja
Gaseta“ - das alles ist nur das unausbleibliche Bestreben der Repräsen-
tanten dieser verworrenen Revolution, wegen einer Reihe von „Mißerfol-
gen“ in ihrer Politik, „ihre Wut auszulassen“.
Die Kadetten sind die Partei der konterrevolutionären Bourgeoisie. Das
hat auch der in Rußland regierende Block der Sozialrevolutionäre und
Menschewiki zugegeben, der in der Resolution des Sowjetkongresses er-
klärte, daß der Widerstand der besitzenden Klassen wächst und die
Grundlage der Konterrevolution bildet. Zugleich aber befindet sich dieser
Block, der von der „Retsch“ tagtäglich der Charakterlosigkeit beschuldigt
wird, seinerseits im Block mit den Kadetten, einem sehr originellen Block,
Eine verworrene Revolution
121
der durch die Zusammensetzung der Provisorischen Regierung besiegelt
wird!
Zwei Blocks sind es, die in Rußland regieren, der Block der Sozialrevo-
lutionäre mit den Menschewiki und der Block dieses Blocks mit den Ka-
detten, die wiederum mit allen rechts von ihnen stehenden politischen
Parteien einen Block bilden. Hieraus ergibt sich unvermeidlich die Ver-
worrenheit der Revolution, denn alle Teile dieses regierenden „Blocks
der Blöcke“ bilden ein großes Durcheinander.
Die Kadetten glauben selbst nicht an ihr Republikanertum, und erst
recht nicht die Oktobristen und Monarchisten der übrigen Schattierun-
gen, die sich heute hinter den Kadetten verstecken und für sie stimmen.
Die Kadetten trauen den „Sozialblockisten“ nicht, sie gebrauchen die von ,
ihnen entsandten Minister gern als „Laufburschen“ zu allerhand „Be-
schwichtigungen“, aber gleichzeitig toben und schäumen sie vor Wut und /
empören sich über die „großen Ansprüche“ der Masse der Bauern und
zum Teil auch der Arbeiter, die sich jetzt den Sozialrevolutionären und
Menschewiki um ihrer großartigen Versprechungen willen („die Werk-
tätigen zufriedenzustellen, ohne den Kapitalisten weh zu tun“) anver-
traut haben und die Unverschämtheit besitzen, die wirkliche Erfüllung
dieser Versprechungen zu erwarten und zu verlangen I
Die Sozialblockisten trauen einander nicht, die Sozialrevolutionäre
trauen den Menschewiki nicht und umgekehrt. Bisher hat sich noch keine
der beiden „besseren Hälften“ dazu entschlossen, halbwegs klar, offen
und grundsätzlich vor aller Welt offiziell zu erklären, wie, warum, zu
welchem Zweck und wie weit sich die Anhänger des nach Struve ka-
strierten „Marxismus“ und die des „Rechtes auf Grund und Boden" ver-
einigt haben. Selbst innerhalb jeder einzelnen dieser „besseren Hälften"
geht die Einigkeit in die Brüche: bei den Sozialrevolutionären ist Keren-
ski auf dem Parteitag mit 136 gegen 134 Stimmen „durchgefallen“, was
das „Großmütterchen“ 45 bewog, aus dem ZK auszutreten, das sich ver-
anlaßt sah zu erklären, Kerenski sei lediglich wegen seiner Überlastung
mit ministeriellen Verpflichtungen (mit T schemow verhält es sich wohl an-
ders) nicht gewählt worden. Die „rechten“ Sozialrevolutionäre schimpfen
in der „Wolja Naroda“ auf ihre Partei und deren Parteitag, die linken
sitzen in der. „Semlja i Wolja“ 46 und erkühnen sich zu erklären, daß die
Massen den Krieg nicht wollen und ihn weiterhin für imperialistisch halten.
122
W.I. Lenin
Bei den Menschewiki ist der rechte Flügel in den „Den“ übergesiedelt,
an dessen Spitze Potressow steht, dem sogar das „Jedinstwo“ „verliebte
Blicke zuwirft“ (das noch gestern bei den Wahlen in Petrograd einen
Block mit der Gesamtpartei der Menschewiki bildete). Der linke Flügel
sympathisiert mit dem Internationalismus und gründet eine eigene Zei-
tung. So gibt es einen Block der Banken mit den Potressow über die Zei-
tung „Den“ und einen Block aller Menschewiki, einschließlich Potressow
und Martow, verbunden durch die „einige“ menschewistische Partei.
Wenn das keine Verworrenheit ist!
Die Position der „Vaterlandsverteidigung“ verhüllt nur schlecht diese
Verworrenheit der Revolution, denn sogar jetzt, sogar nach der Wieder-
aufnahme des imperialistischen Krieges, sogar bei dem durch die Offen-
sive verursachten Begeisterungstaumel, hat sich die „Offensive“ der An-
hänger Potressows gegen dessen Gegner in dem einen Block und der
Anhänger Kerenskis gegen dessen Gegner in dem anderen Block ver-
schärft.
Die „revolutionäre Demokratie“ glaubt nicht mehr an die Revolution,
sie hat Angst vor der Demokratie und fürchtet mehr als alles in der Welt
den Bruch mit den englischen und französischen Kapitalisten, so wie sie
auch die Unzufriedenheit der russischen Kapitalisten fürchtet. („Unsere
Revolution ist eine bürgerliche Revolution“, an diese von Dan, Zereteli
und Skobelew erheiternd entstellte „Wahrheit“ glaubt Minister Tscher-
now „selbst“.) Die Kadetten hassen die Revolution und die Demokratie.
Wenn das keine Verworrenheit ist!
Das allgemeine wilde Geheul des Hasses und der Wut über die Bol-
schewiki ist die gemeinsame Klage der Kadetten, Sozialrevolutionäre und
Menschewiki über ihre eigene Verworrenheit.
Sie haben die Mehrheit. Sie sind an der Macht. Sie bilden alle mitein-
ander einen Block. Und sie sehen, daß nichts dabei herauskommt!! Soll
man da nicht wütend über die Bolsdiewiki sein?
Die Revolution hat ungewöhnlich schwierige Fragen aufgerollt, Fragen
von ungeheurer Wichtigkeit, von Weltbedeutung. Man wird weder der
Zerrüttung Herr werden noch der furchtbaren Umklammerung des
imperialistischen Krieges entrinnen können, wenn man nicht wirklich
entschiedene revolutionäre Maßnahmen ergreift, die sich auf das selbst-
lose Heldentum der unterdrückten und ausgebeuteten Massen stützen.
Eine verworrene Revolution
123
wenn man nicht das Vertrauen und die Unterstützung dieser Massen für
ihre organisierte Vorhut, das Proletariat, gewinnt.
Die Massen versuchen vorerst einen „leichteren“ Ausweg zu finden:
über den Bloch der Kadetten mit dem Block der Sozialrevolutionäre und
Menschewiki.
Das ist aber kein Ausweg.
„Pramda" Nr. 91.
8. Jtdi (25. Juni) 1917.
Nach dem Text der „Pramda".
DIE KLASSENVERSCHIEBUNG
Jede Revolution, wenn sie eine echte Revolution ist, läuft auf eine
Klassenversdiiebung hinaus. Deshalb ist das beste Mittel, die Massen
aufzuklären und auch der Irreführung der Massen durch revolutionäre
Beteuerungen entgegenzutreten, die Analyse der in der jeweiligen Revo-
lution vor sich gegangenen und noch vor sich gehenden Klassenver-
schiebung.
Das gegenseitige Verhältnis der Klassen in Rußland während der letz-
ten Jahre des Zarismus hat sich mit aller Deutlichkeit in der Zeit von
1904 bis 1916 abgezeichnet. Eine kleine Handvoll fronherrlicher Guts-
besitzer, an ihrer Spitze Nikolaus II., hatte die Macht inne in engstem
Bündnis mit den Magnaten des Finanzkapitals, die für europäische Ver-
hältnisse märchenhafte Profite einstrichen und zu deren Gunsten die
außenpolitischen Raubverträge abgeschlossen wurden.
Die liberale Bourgeoisie, an ihrer Spitze die Kadetten, befand sich in
Opposition. Da sie das Volk mehr als die Reaktion fürchtete, suchte sie
durch Paktieren mit der Monarchie zur Macht zu gelangen.
Das Volk, d. h. die Arbeiter und Bauern mit ihren in die Illegalität
getriebenen Führern, war revolutionär und bildete die proletarische und
kleinbürgerliche „revolutionäre Demokratie“.
Die Revolution vom 27. Februar 1917 hat die Monarchie hinweg-
gefegt und die liberale Bourgeoisie an die Macht gebracht, die in direk-
tem Einverständnis mit den englischen und französischen Imperialisten
handelnd nur eine kleine Palastrevolution machen wollte. Auf keinen
Fall wollte sie weiter als bis zu einer konstitutionellen Zensusmon-
archie gehen. Und als die Revolution dann aber weiterging, die Mon-
archie völlig vernichtete und die Sowjets (der Arbeiter-, Soldaten- und
Bauemdeputierten) schuf, da wurde die liberale Bourgeoisie durch und
durch konterrevolutionär.
Jetzt, vier Monate nach dem Umsturz, tritt der konterrevolutionäre
Charakter der Kadetten, dieser führenden Partei der liberalen Bourgeoi-
sie, klar zutage. Das sehen alle. Alle müssen diese Tatsache anerkennen.
Aber bei weitem nicht alle sind bereit, dieser Wahrheit ins Gesicht zu
sehen und sich ihre Bedeutung klarzumachen.
Rußland ist heute eine demokratische Republik, die nach freier Ver-
einbarung politischer Parteien, die im Volke frei agitieren, regiert wird.
In den vier Monaten, die seit dem 27. Februar vergangen sind, haben sich
alle einigermaßen wichtigen Parteien zusammengeschlossen und formiert,
sie sind bei den Wahlen (zu den Sowjets und den örtlichen Körper-
schaften) in Erscheinung getreten und haben ihre Bindungen zu den ver-
schiedenen Klassen offenbart.
In Rußland ist gegenwärtig die konterrevolutionäre Bourgeoisie an der
Macht, der gegenüber die kleinbürgerliche Demokratie, nämlich die Par-
teien der Sozialrevolutionäre und Menschewiki, zur »Opposition Ihrer
Majestät“ geworden ist. Das Wesen der Politik dieser Parteien besteht
im Paktieren mit der konterrevolutionären Bourgeoisie. Die kleinbürger-
liche Demokratie steigt zur Macht empor, indem sie sich zunächst die ört-
lichen Körperschaften erobert (wie sich die Liberalen unter dem Zarismus
zuerst die Semstwos erobert haben). Diese kleinbürgerliche Demokratie
will die Madit mif der Bourgeoisie teilen, nicht aber die Bourgeoisie stür-
zen, ebenso wie die Kadetten die Macht mit der Monarchie teilen, nicht
aber die Monarchie stürzen wollten. Ebenso wie die Klassenverwandt-
schaft des Kapitalisten mit dem in den Verhältnissen des 20. Jahrhunderts
lebenden Gutsbesitzer beide veranlaßt hatte, sich in brüderlicher Eintracht
um den „angebeteten“ Monarchen zu scharen, so hat auch die tiefe Klas-
senverwandtschaft der kleinen und großen Bourgeois das Paktieren der
kleinbürgerlichen Demokratie (der Sozialrevolutionäre und der Mensche-
wiki) mit den Kadetten herbeigeführt.
Die Form des Paktierens hat sich geändert : unter der Monarchie war
sie grob, der Zar ließ die Kadetten nur auf den Hinterhof der Reichs-
duma. In der demokratischen Republik wurde das Paktieren europäisch
verfeinert: man läßt die Kleinbürger in unschädlicher Minderheit eine
unschädliche Rolle (für das Kapital) in der Regierung spielen.
126
W. I. Lenin
Die Kadetten haben den Platz der Monarchie eingenommen und die
Zereteli und Tschemow den der Kadetten. Die proletarische Demokratie
hat den Platz der wirklich revolutionären Demokratie eingenommen.
Der imperialistische Krieg hat die ganze Entwicklung außerordentlich
beschleunigt. Ohne den Krieg hätten die Sozialrevolutionäre und Men-
schewiki noch jahrzehntelang nach Ministerpöstchen seufzen müssen.
Aber derselbe Krieg beschleunigt die Entwicklung auch weiterhin, denn
der Krieg stellt die Fragen nicht reformistisch, sondern revolutionär.
Die Parteien der Sozialrevolutionäre und Menschewiki könnten Ruß-
land im Einvernehmen mit der Bourgeoisie so manche Reform geben, doch
die objektive Lage in der Weltpolitik ist revolutionär, Reformen bieten
keinen Ausweg.
Der imperialistische Krieg bedrückt und erdrückt die Völker. Vielleicht
ist die kleinbürgerliche Demokratie imstande, den Untergang für kurze
Zeit hinauszuschieben, doch nur das revolutionäre Proletariat kann die
Rettung vor dem Untergang bringen.
„Prämie" Nr. 92. Nach dem Text der .Prawda".
10. Juli (27. Juni) 1917.
WUNDER AN REVOLUTIONÄRER TATKRAFT
Unsere beinah-sozialistisdien Minister entwickeln eine beinah unglaub-
liche Tatkraft. Pesdiechonow hat erklärt, daß „der Widerstand der Ka-
pitalisten anscheinend gebrochen ist“ und daß bei uns im heiligen Ruß-
land alles, was da ist, „gleichmäßig“ verteilt werden solle. Skobelew hat
erklärt, daß man den Kapitalisten 100 Prozent ihres Profits nehmen werde.
Zereteli erklärte, daß die Offensive im imperialistischen Krieg vom Stand-
punkt der Demokratie wie des Sozialismus die gerechteste Sache sei.
Aber den Rekord in all diesen Äußerungen wunderbarer Tatkraft hat
zweifellos Minister Tschemow geschlagen. In der letzten Sitzung der Pro-
visorischen Regierung hat Tschemow die Herren Kadetten gezwungen,
seinen Bericht über die allgemeine Politik des ihm übertragenen Ressorts
entgegenzunehmen, und hat erklärt, er werde nicht weniger als zehn Ge-
setzentwürfe einbringen!
Sind das nicht Wunder an revolutionärer Tatkraft? Seit dem 6. Mai
vergingen knapp 6 Wochen, und in einer so kurzen Zeitspanne sind nicht
weniger als 10 Gesetzentwürfe versprochen worden! Und was für Ge-
setzentwürfe! Das ministerielle „Delo Naroda“ teilt mit, daß sie „in ihrer
Gesamtheit alle grundlegenden Erscheinungen des wirtschaftlichen Lebens
des Dorfes umfassen“.
Nicht mehr und nicht weniger als „alle Erscheinungen“ ... Ist das nicht
ein bißchen viel?
Eins gibt zu denken: Die ministerielle Zeitung widmet der Aufzäh-
lung einiger dieser großartigen Gesetzentwürfe über 100 Zeilen, ohne
auch nur über einen einzigen etwas Klares zu sagen. „Die einstweilige
Außerkraftsetzung einiger gesetzlicher Bestimmungen über die Bauern“ . . .
128
W. I. Lenin
welcher, bleibt unbekannt. Der Gesetzentwurf „über die Schlich tungs-
kammem“ ist am interessantesten. Zwischen wem und wie geschlichtet
werden soll, bleibt unbekannt. „Regelung der Pachtverhältnisse“, auch
hier völliges Dunkel. Es bleibt sogar ungewiß, ob es sich nicht um die
Pacht von Gutsbesitzerländereien handelt, die man entschädigungslos zu
enteignen versprochen hat.
„Eine Reform im Sinne der größeren Demokratisierung der örtlichen
Bodenkomitees“ . . . Wäre es nicht besser, ihr Herren Verfasser groß-
spuriger Versprechungen, ihr gäbt sofort eine Aufstellung von etwa einem
Dutzend örtlicher Bodenkomitees heraus, mit genauer Angabe über deren
jetzige nachrevolutionäre, nach eurem eigenen Geständnis dennoch nicht
ganz demokratische Zusammensetzung?
Das ist es ja gerade, daß die überschäumende Aktivität des Ministers
Tschemow wie der anderen obengenannten Minister den Unterschied
zwischen einem liberalen Beamten und einem revolutionären Demokraten
am besten veranschaulicht.
Der liberale Beamte erstattet seiner „Vorgesetzten Behörde“, d. h. den
Herren Lwow, Schingarjow und Co. sehr umfangreiche Berichte über
Hunderte von Gesetzentwürfen, die die Menschheit beglücken sollen,
dem Volke aber . . . dem Volke bietet er nur schöne Worte, Verspre-
chungen, Nosdrjowsche* Phrasen (wie Beschlagnahme von 100 Prozent
des Profits oder die „sozialistische“ Offensive an der Front u. dgl. m.).
Der revolutionäre Demokrat deckt - zugleich mit dem Bericht an seine
„Vorgesetzte Behörde“ oder sogar schon vorher - jeden Übelstand, jeden
Mangel vor dem Volk auf, wobei er an dessen Tatkraft appelliert.
„Bauern, entlarvt die Gutsbesitzer, deckt auf, wieviel sie euch in Form
von .Pachtgeld' abnehmen, wieviel sie euch in den .Schlich tungskammem'
oder in den örtlichen Bodenkomitees abzwacken, durch welche Schikanen
und Schwierigkeiten sie zu verhindern suchen, daß aller Boden unter den
Pflug kommt, daß das Gutsbesitzerinventar für die Bedürfnisse des Vol-
kes und besonders seines ärmsten Teils verwendet wird! Deckt das alles
selber auf, Bauern, und ich, .Minister des revolutionären Rußlands', .Mi-
nister der revolutionären Demokratie“, werde euch helfen, jede dieser
Enthüllungen an die Öffentlichkeit zu bringen, jedes Unrecht, das euch
* Nosdrjow - Gestalt aus dem Roman „Die toten Seelen“ von N. W. Gogol.
Die Red.
Wunder an revolutionärer Tatkraft 129
widerfährt, durch euren Drude von unten und durdi meinen Druck von
oben zu beseitigen! I !“ Würde ein wirklich revolutionärer Demokrat nicht
so sprechen und handeln?
Aber woher denn ! Hören wir, was die ministerielle Zeitung zum „Be-
richt“ Tschemows an die Herren Lwow und Co. zu sagen hat: „Ohne
zu leugnen, daß in einigen Gouvernements auf dem Lande eine ganze
Reihe von Ausschreitungen vorgekommen sind, ist W. M. Tscheraow der
Ansicht, daß das bäuerliche Rußland im großen und ganzen weit mehr
ruhiges Blut bewahrt hat, als zu erwarten war ..."
Was aber den einzigen klar genannten Gesetzentwurf über das „einst-
weilige Verbot des Kaufs und Verkaufs von Grund und Boden“ betrifft,
so wird kein einziges Wort darüber gesagt, warum der Gesetzentwurf
einstweilen aufgesdtobett wurde. Den Bauern hat man nämlich seit lan-
gem versprochen, Kauf und Verkauf sofort zu verbieten, man hatte das
bereits im Mai versprochen, aber am 25. Juni wird in der Presse bekannt-
gegeben, daß Tscheraow einen „Bericht“ abgegeben und daß die Provi-
sorische Regierung „noch keinen endgültigen Beschluß gefaßt habe“ 1 1 !
„Pratoda" Nr. 92, Nach dem Text der .Pramda".
10. Juli (27. Juni) 1917.
9 Lenin. Werke. Bd. 25
PHRASEN UND TATSACHEN
Minister Skobelew hat einen Aufruf an alle Arbeiter Rußlands ver-
öffentlicht. Im Namen „unseres“ (so heißt es wörtlich: unseres) soziali-
stischen Ideals, im Namen der Revolution, im Namen der revolutionären
Demokratie usw. usw. usf. werden den Arbeitern „Schlichtungskam-
mern“ gepredigt und alle „eigenmächtigen“ Handlungen entschieden ver-
urteilt.
Ach, wie schön der beinah-sozialistische Minister, der Menschewik
Skobelew, flötet:
„Ihr (die Arbeiter) habt allen Grund, darüber empört zu sein, wie sich die be-
sitzenden Klassen während des Krieges bereichert haben. Die Zarenregierung hat
vom Gelde des Volkes Milliarden verschwendet. Die Regierung der Revolution
muß sie der Volkskasse zurüdcgeben.“
Schön singt der Vogel ... wo wird er sich wohl niedersetzen !
Der Aufruf des Herrn Skobelew ist am 28. Juni veröffentlicht worden.
Die Koalitionsregierung wurde am 6. Mai gebildet. Und während dieser
ganzen Zeit, in der die Zerrüttung fortschreitet und sich dem Lande
eine unerhört schwere Katastrophe mit Siebenmeilenschritten nähert, hat
die Regierung keinen einzigen ernsthaften Schritt gegen die Kapitalisten
unternommen, die Milliarden“ eingeheimst haben! Um diese Milliarden
der „ Volkskasse zurückzugeben“, hätte man am 7. Mai ein Gesetz über
die Aufhebung des Geschäfts- und Bankgeheimnisses und über die sofor-
tige Durchführung der Kontrolle über die Banken und die Syndikate der
Kapitalisten erlassen sollen, weil es sonst nicht nur un-mög-lich ist, diese
Milliarden „zurückzugeben", sondern sie überhaupt aufzufinden.
Hält der menschewistische Minister Skobelew die Arbeiter wirklich für
kleine Kinder, die man mit unmöglich zu erfüllenden Versprechungen ab-
speisen kann (die „Milliarden“ „zurückzugeben“ ist unmöglich, seien wir
froh, wenn -es gelingt, dem Plündern der Staatskasse ein Ende zu machen
und wenigstens ein paar hundert Millionen wiederzuerlangen), während
man es Woche um Woche unterläßt, das tatsächlich Mögliche und Not-
wendige durchzuführen?
Ausgerechnet an demselben Tage, an dem der menschewistische Mini-
ster Skobelew wieder einmal sein Wunderhom effektvollster republika-
nischer, revolutionärer und „sozialistischer“ Phrasen vor den Arbeitern
ausgeschüttet hat, an diesem selben Tage hatte Gen. Awilow, der die
Vaterlandsverteidiger (d. h. die Chauvinisten) mit den Arbeitern „ver-
einigen“ will, den überaus glücklichen, selten glücklichen Einfall, in der
„Nowaja Shisn“ einen Artikel zu veröffentlichen, der zwar keine Schluß-
folgerungen enthält, aber Tatsachen.
Nichts in der Welt ist so beredt wie diese einfachen Tatsachen.;
Am 5. Mai wurde die Koalitionsregierung gebildet. In einer feierlichen
Erklärung verspricht sie . . . die Kontrolle und sogar die „Organisierung
der Produktion“. Am 16. Mai nimmt das Exekutivkomitee des Petrö-
grader Sowjets „Direktiven“ für seine Minister an und fordert, „unver-
züglich (hört! hört!) an die energischste Durchführung (so steht es tat-
sächlich wörtlich da!) der staatlichen Regulierung der Produktion zu
gehen“ usw. usw. usf.
Die energische Durchführung beginnt.
Am 19. Mai erfolgt der Rücktritt Konowalows mit einer sehr „ener-
gischen“ Erklärung gegen... die „extremen Sozialisten“! Am 1. Juni
findet die Gesamtrussische Konferenz der Vertreter der Industrie und des
Handels statt. Die Konferenz spricht sich ganz entschieden gegen die
Kontrolle aus. Die nach dem Rüdetritt Konowalows verbliebenen drei
Vizeminister „gehen energisch an die Durchführung“: Der erste Vize-
minister, Stepanow, unterstützt im Konflikt mit den Bergbauindustriel-
len des Donezbeckens (die durch passive Resistenz die Produktion zu-
grunde richten) ... die Unternehmer. Hierauf lehnen die Unternehmer
alle Schlichtungsvorschläge Skobelews ab.
Der zweite Vizeminister, Paltschinski, sabotiert die „Konferenz über
Brennstoff probleme“ .
132
W. I. Lenin
Der dritte Vizeminister, Sawwin, bringt „eine plumpe, nicht einmal
geistreiche Karikatur“ einer Regulierung der Produktion in Form einer
„Konferenz von Vertretern verschiedener Ressorts“ zustande.
Am 10. Juni reicht der erste Vizeminister, Stepanow, der Provisori-
schen Regierung einen „Bericht“ ein ... in dem gegen das Programm des
Exekutivkomitees polemisiert wird.
Am 21. Juni nimmt der Sowjetkongreß noch eine Resolution an . . .
Von unten her werden spontan Versorgungskomitees geschaffen. Von
oben wird ein oberster „Wirtschaftsrat“ versprochen. Der zweite Vize-
minister, Paltschinski, erklärt: „Wann er (der Wirtschaftsrat) seine Tätig-
keit beginnen wird, ist schwer zu sagen“ ...
Das klingt wie Hohn, es sind aber Tatsachen.
Die Kapitalisten verhöhnen die Arbeiter und das Volk und setzen ihre
Politik der verschleierten Aussperrungen und der Verheimlichung ihrer
skandalösen Profite fort, während sie die Skobelew, Zereteli und Tscher
now vorschicken, um die Arbeiter mit Phrasen zu „beschwichtigen".
„Pratoda" Nr. 94,
12. Juli (29. Juni) 1917.
Nach dem Text der .Pranda".
133
WIE DIE HERREN KAPITALISTEN
IHRE GEWINNE VERSCHLEIERN
(Zur Frage der Kontrolle)
Wie viel wird doch über die Kontrolle gesprochen, und wie wenig
Inhalt ist in all dem! Wie gesdiidct umgeht man das Wesen der Sache
mit allgemeinen Phrasen, mit wortreichen Floskeln und mit großartigen
„Projekten“, die dazu verurteilt sind, ewig Projekte zu bleiben!
Das Wesen der Sache aber besteht darin, daß ohne Aufhebung des
Geschäfts- und Bankgeheimnisses, ohne den unverzüglichen Erlaß eines
Gesetzes, das den Arbeiterorganisationen Einsicht in die Geschäftsbücher
zugesteht, alle Reden und alle Projekte über Kontrolle leeres Geschwätz
sind.
Hier eine kleine, aber lehrreiche Illustration dazu. Ein Genosse, der
Bankangestellter ist, macht uns folgende Angaben, die zeigen, wie die
Gewinne in den offiziellen Bilanzberichten verschleiert werden.
Im „Westnik Finansow“ [Finanzbote] Nr. 18 vom 7. Mai 1917 wurde
der Bilanzbericht der Petrograder Diskonto- und Kreditbank veröffent-
licht. In diesem Bericht ist ein Reingewinn der Bank in Höhe von 13 Mill.
Rubel ausgewiesen (die genaue Summe beträgt 12,96 Mill. Wir werden
im Text die abgerundeten und in Klammem die genauen Summen angeben).
Sieht man sich jedoch den Bericht genauer an, so wird der Sachkundige
sofort erkennen, daß das bei weitem nicht der gesamte Gewinn ist, daß
ein erheblicher Teil des Gewinns unter anderen Posten raffiniert ver-
steckt wurde, so daß keine „Steuer“, keine .Zwangsanleihe“ und über-
haupt keine Finanzmaßnahme diesen Gewinn je erfassen kann, wenn das
Geschäfts- und Bankgeheimnis nicht völlig aufgehoben wird. In der Tat,
auf dem Konto eines besonderen Reservefonds ist eine Summe von
5,5 Mill- Rubel ausgewiesen. Es ist nämlich gang und gäbe, den Gewinn
auf die sogenannte Reserve oder den Reservefonds zu verbuchen, um ihn
zu verheimlichen. Wenn ich, der Millionär, einen Gewinn von 17 Mill.
erhalten und davon 5 Mill. „reserviert“ (d. h„ einfach gesagt, beiseite
134
W. I. Lettin
gelegt) habe, so braudie idi nur diese 5 Mill. als „Reservefonds“ einzu-
tragen, und alles ist in bester Ordnung! Alle Gesetze über „staatliche
Kontrolle“, „staatliche Besteuerung des Gewinns“ usw. sind umgangen!!
Weiter: Auf dem Konto der eingegangenen Zinsen und Provisionen
wird in demselben Beridit eine Summe von etwas weniger als 1 Million
Rubel (825 000) angeführt. „Es fragt sich“, schreibt uns der Bankange-
stellte, „aus welchen Summen überhaupt der Gewinn der Bank besteht,
wenn die eingegangenen Zinsen nicht auf dem Gewinnkonto geführt
werden??“
Dann: Auf dem Konto des Gewinnsaldos der vergangenen Jahre ist ein
Betrag von 300 000 Rubel ausgewiesen, der in der allgemeinen Gewinn-
summe nicht enthalten ist!! So ist also zusammen mit der vorher genann-
ten Summe wiederum ein reichliches Milliönchen Profit verheimlicht wor-
den. Desgleichen ist ein Betrag von 224 000 Rubel, „an die Aktionäre
nicht ausgezahlte Dividenden“, in der allgemeinen Gewinnsumme eben-
falls nicht enthalten, obwohl jedermann weiß, daß die Dividenden aus
dem Reingewinn gezahlt werden.
Weiterhin dem Bericht ist noch eine Summe von 3,8 Millionen Rubel
als „durchlaufende Posten“ vorhanden. „Was das für durchlaufende
Posten sind“, schreibt uns der Genosse, „dürfte wohl kaum jemand fest-
stellen können, der nicht direkt an der Sache beteiligt ist. Man kann nur
eins sagen: unter der Bezeichnung .durchlaufende Posten' kann man bei
der Aufstellung der Bilanz einen Teil des Gewinns verbergen, um ihn
dann später , an die richtige Stelle' umzubuchen.“
Ergebnis: Als Gewinn ist ein Betrag von 13 Millionen Rubel ausge-
wiesen worden, während er in Wirklichkeit wahrscheinlich 19 bis 24 Mil-
lionen Rubel beträgt, d. h. bis zu 80 Prozent des Grundkapitals, das sich
auf 30 Millionen Rubel beläuft.
Ist es nicht klar, daß die Drohungen der Regierung gegen die Kapita-
listen, daß die von der Regierung den Arbeitern gegebenen Versprechun-
gen, die Regierungsprojekte und Gesetze über das Einziehen von 90 Pro-
zent des Gewinns der Großkapitalisten leere Redensarten, nichts als leere
Redensarten sind, solange das Geschäfts- und Bankgeheimnis nicht auf-
gehoben ist? -
„Pramda Nr. 94, 12. Juli (29. Juni) 1917.
Nach dem Text der „Pramda".
DIE KRISE RÜCKT NÄHER-
DIE ZERRÜTTUhTG^GREIFT UM SICH
Tag für Tag muß Sturm geläutet werden. Alle möglichen dummen
Leute haben uns den Vorwurf gemacht, daß wir es mit der Übergabe der
gesamten Staatsmacht an die Sowjets der Soldaten-, Arbeiter- und Bau-
erndeputierten allzu »eilig“ hätten, daß es „gemäßigter und geziemender“
sei, gesittet die gesittete Konstituierende Versammlung „abzuwarten“.
Jetzt können sogar die dümmsten von diesen kleinbürgerlichen Ein-
faltspinseln sehen, daß das Leben nicht wartet, daß nicht wir „eilen“,
sondern daß die Zerrüttung eilt.
Die kleinbürgerliche Feigheit, verkörpert in den Parteien der Sozial-
revolutionäre und Menschewiki, hat beschlossen: Lassen wir vorläufig
die Geschäfte, in den Händen der Kapitalisten, vielleicht „wartet“ die
Zerrüttung bis zur Einberufung der Konstituierenden Versammlung!
Die Tatsachen zeigen jeden Tag von neuem, daß die Zerrüttung wohl
kaum bis zur Konstituierenden Versammlung warten dürfte, daß die
Katastrophe früher hereinbrechen wird.
Nehmen wir nur die heute veröffentlichten Tatsachen. Die ökono-
mische Abteilung des Exekutivkomitees des Petrograder Sowjets der Sol-
daten- und Arbeiterdeputierten hat beschlossen, „der Provisorischen Re-
gierung zur Kenntnis zu bringen“, daß „die Metallindustrie des Moskauer
Gebiets (15 Gouvernements) sich in einer akuten Krise befindet“, daß
„die Betriebsleitung der Goujon-Werke offenkundig die Produktion
desorganisiert und bewußt auf die Stillegung des Betriebes hinarbeitet“,
daß daher die „Staatsmacht“ (die die Sozialrevolutionäre und Mensche-
wiki gerade in den Händen der Partei der Goujon gelassen haben, der
Partei der konterrevolutionären Kapitalisten, die eine Aussperrungs-
136
W.I. Lenin
Politik betreiben) „die Leitung des Betriebes übernehmen . . . und Be-
triebskapital zur Verfügung stellen muß“.
Das dringend erforderliche Betriebskapital beträgt etwa 5 Millionen
Rubel.
Die Beratung der ökonomischen Abteilung und einer Delegation der
Versorgungsabteilung des Moskauer Sowjets der Arbeiterdeputierten
„lenkt die Aufmerksamkeit der Provisorischen Regierung“ (arme, unschul-
dige, kindlich-unwissende Provisorische Regierung 1 Sie hat es nicht ge-
wußt! Sie ist unschuldig! Sie wird es erfahren und die Dan und Tschere-
wanin, die Awksentjew und Tschemow werden ihr gut Zureden, werden
ihr ins Gewissen reden!) „auf die Tatsache, daß die Moskauer Betriebs-
konferenz und das provisorische Büro des Versorgungskomitees des Mos-
kauer Gebiets bereits die Stillegung der Kolomnaer Lokomotivfabrik so-
wie der Werke in Sormowo und der Brjansker Werke in Beshezk ver-
hindern mußten. Dennoch arbeitet das Sormowoer Werk wegen eines
Streiks der Arbeiter gegenwärtig nicht, und jeden Tag können die übrigen
Werke stillgelegt werden . . .“
Die Katastrophe wartet nicht. Sie rüdct mit erschreckender Schnellig-
keit näher. Über das Donezgebiet schreibt heute A. Sandomirski. der
zweifellos über die Tatsachen sehr gründlich unterrichtet ist, in der „No-
waja Shisn“ :
„Immer mehr Betriebe werden in den ausweglosen Kreis hineingerissen: Kohle
und Metall, Lokomotiven und überhaupt rollendes Material fehlen, und die Pro-
duktion kommt zum Erliegen. Zur gleichen Zeit aber brennt die Kohle in den
Fabriken häuft sich das Metall an, während man es dort, wo es benötigt wird,
nicht bekommen kann."
Die von den Sozialrevolutionären und Menschewiki unterstützte Re-
gierung hemmt geradezu den Kampf gegen die Zerrüttung: A. Sando-
mirski teilt als Tatsache mit, daß Paltschinski, der Vizeminister für Han-
del und faktisch der Kollege von Zereteli und Tschemow, auf eine Be-
schwerde der Industriellen hin die „eigenmächtigen“ (!!) Kontrollkom-
missionen verboten (! !) hat; so reagierte man auf eine vom Donez-Komi-
tee eingeleitete Umfrage, durch die die Metallbestände festgestellt wer-
den sollten.
Man vergegenwärtige sich, was das für ein Irrenhaus ist: das Land
geht zugrunde, dem Volk drohen Hungersnot und Zusammenbruch, es
Die Krise rückt näher - die Zerrüttung greift um sich
137
mangelt an Kohle und Eisen, obwohl sie zu haben sind, das Donez-Komi-
tee veranstaltet über die Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten
eine Umfrage nach den Metallbeständen, d. h., es sucht Eisen für das
Volk; aber der Diener der Industriellen, der Diener der Kapitalisten,
Minister Paltschinski, verbietet in Gemeinschaft mit den Zereteh und
Tscheraow die Umfrage. Und die Krise wädist weiter an, die Katastrophe
rückt immer näher.
Woher und wie soll das Geld beschafft werden? Es ist natürlich leicht,
5 Millionen für einen Betrieb zu „verlangen“, man muß aber sehen, daß
für alle Betriebe bedeutend mehr erforderlich sein wird.
Ist es nicht klar, daß ohne die Maßnahme, die wir seit Anfang April
fordern und verfechten, ohne die Verschmelzung aller Banken zu einer,
ohne die Kontrolle über diese Bank und ohne die Aufhebung des Ge-
schäftsgeheimnisses kein Geld beschafft werden kann?
Die Goujon und andere Kapitalisten arbeiten mit Unterstützung der
Paltschinski „bewußt“ (dieses Wort stammt von der ökonomischen Ab-
teilung) auf die Stillegung der Betriebe hin. Die Regierung steht auf ihrer
Seite. Die Zereteli und Tschemow sind nichts weiter als Dekoration oder
bloße Schachfiguren.
Wäre es nicht immerhin an der Zeit, Herrschaften, zu begreifen, daß
sich die Parteien der Sozialrevolutionäre und Menschewiki als Parteien
vor dem Volk für die Katastrophe verantworten müssen?
. 1 Prawda ’ Nr. 95,
13. Juli (30. Juni) 1917.
Nach dem Text der .Prawda".
138
WIE SOLL MAN ES TUN?
Die „Rabotschaja Gaseta" ist wegen der politischen -Bedeutung der
Offensive beunruhigt. Einer ihrer Mitarbeiter wirft einem anderen sogar
vor, seine gewundenen Phrasen liefen letzten Endes auf das Eingeständ-
nis hinaus, daß die russische revolutionäre Armee objektiv ihr Blut
gegenwärtig nicht für einen Frieden ohne Annexionen, sondern für die
Eroberungspläne der Ententebourgeoisie vergieße. („Rabotschaja Gaseta"
Nr. 93, S. 2, Feuilleton, Spalte 1.)
Gerade diese „objektive“ Bedeutung der Offensive ist es, die die Ar-
beitermassen, die zum Teil noch den Menschewiki fplgen, unweigerlich
beunruhigen muß. Das spiegelt sich auch in den Spalten der „Rabotschaja
Gaseta" wider. Da es das Blatt nicht bis zum offenen Bruch mit den
Arbeitern kommen lassen will, so versucht es, die „Offensive“ irgendwie
mit dem revolutionären proletarischen Kampf für den Frieden in Ver-
bindung zu bringen. Das Pech der überschlauen Redaktion besteht nur
darin, daß hier keine andere als eine negative Verbindung hergestellt
werden kann.
Man kann sich schwerlich Leute vorstellen, die noch kläglicher und
konfuser sind als diese ehrenwerten Redakteure, die vor den Geistern
zurückschrecken, die sie selbst im Verein mit den Sozialrevolutionären
gerufen haben.
Einerseits erklärt die „Rabotschaja Gaseta“ : „. . . gegenwärtig wird
im Westen die Bedeutung der russischen Offensive ganz falsch aufgefaßt.
Die englischen und französischen bürgerlichen Zeitungen sehen in ihr
einen Verzicht auf die .utopischen“ Pläne des Sowjets. Chauvinistische
Resolutionen werden unter der Flagge von Grußadressen an Kerenski
Wie soll man es tun?
139
und die vorrückende revolutionäre Armee angenommen. Unter dem Dröh-
nen der Kriegstrommeb, die die russische Offensive begleiten, werden
die Verfolgungen verstärkt, denen die Gesinnungsfreunde der russischen
Demokratie ausgesetzt sind, die dasselbe Friedensprogramm wie diese
vertreten.“
Ein sehr wertvolles Geständnis ! Zumal, wenn es aus den Spalten einer
ministeriellen Zeitung kommt, die noch gestern unsere Voraussage dieser
unausbleiblichen Folgen der Offensive als bolschewistische Böswilligkeit
bezeichnet hat. Es stellt sich heraus, daß es sich nicht um unsere „Bös-
willigkeit“ handelt, sondern darum, daß die Politik, die sich die Führer
des Sowjets zu eigen gemacht haben, ihre eigene Logik hat und daß
diese Logik außerhalb und innerhalb Rußlands zur Stärkung der anti-
revolutionären Kräfte führt.
Eben diese unangenehme Tatsache möchte die „Rabotsdiaja Gaseta“
gern irgendwie vertuschen. Die Mittel, welche die Redaktion vorschlägt,
sind denkbar einfach: „Es ist dringend notwendig, daß das Zentralexeku-
tivkomitee des Kongresses der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendepu-
tierten und der Sowjet der Bauemdeputierten eine eindeutige, katego-
rische Erklärung abgeben, daß die Kriegsziele für die russische Demo-
kratie die gleichen bleiben wie bisher" usw. usf. Man sieht, wie entschlos-
sen die Menschewiki gegen den imperialistischen Krieg kämpfen: sie sind
bereit, noch eine dringende kategorische Erklärung abzugeben. Wie viele
dieser „dringendsten“, „kategorischsten“ und „leidenschaftlichsten“ Er-
klärungen hat es schon gegeben. Wie oft wird man noch diese kategorisch-
sten Erklärungen aufs dringlichste wiederholen müssen, um durch Worte
wenigstens ein klein wenig die Taten jener Regierung zu mildem, die die
ministerielle „Rabotschaja Gaseta“ restlos unterstützt.
Nein, meine Herren, durch noch so „kategorische“ Worte, Deklara-
tionen und Noten werdet ihr die Tatsachen nicht abschwächen, die ihr
selbst feststellt. Diesen Tatsachen können nur Taten gegenübergestellt
werden, Taten, die wirklich den Bruch mit der Politik der Fortsetzung
des imperialistischen Krieges bedeuten würden. Die Regierung Lwow-
Tereschtschenko-Schingarjow-Kerenski-Zereteli kann das nicht tun.
Durch ihre feige, erbärmliche Politik gegenüber Finnland und der
Ukraine vermag sic nur zu bestätigen, daß sie völlig unfähig ist, die
„kategorischsten“ Erklärungen über den „Frieden ohne Annexionen“ und
140
über das. „Recht“ auf Selbstbestimmung zu verwirklichen. Unter diesen
Umständen aber werden alle diese verheißenen Deklarationen zum Sym-
bol für die Betäubung der Massen. Betäubung, der Massen durch hoch-
trabende Deklarationen und nicht „proletarischer Kampf für den Frieden“ -
das ist das Programm der „Rabotschaja Gaseta“, das ist ihre wirkliche
Antwort auf das Anwachsen der antirevolutionären Kräfte im Zusam-
menhang mit der Offensive.
„ Pramda " Nr. 95,
13. Juli (30. Juni) 1917.
Nach dem Text der „ Pramda ".
WIE UND WARUM HAT MAN DIE BAUERN
BETROGEN?
Bekanntlich hat man, als die Bauemdeputierten ganz Rußlands zum
Gesamtrussischen Sowjet der Bauemdeputierten in Petrograd zusammen-
traten, den Bauern versprochen - die Sozialrevolutionäre haben es ver-
sprochen, die Regierung hat es versprochen -, den Kauf und Verkauf von
Grund und Boden sofort zu verbieten.
Minister Perewersew wollte anfangs das Versprechen tatsächlich ein-
halten und verfügte durch ein Telegramm, Abmachungen über den Kauf
und Verkauf von Boden einstweilen einzustellen. Dann aber hat sich
irgendeine unsichtbare Hand in die Sache eingemisdit, und Minister Pere-
wersew machte sein Telegramm an die Notare rückgängig, d. h., er er-
laubte von neuem den Kauf und Verkauf von Boden.
Die Bauern wurden unruhig. Wenn wir nicht irren, haben sie wohl
sogar eine besondere Delegation zur Regierung entsandt.
Die Bauern wurden beruhigt, man redete ihnen gut zu wie kleinen
Kindern. Man versicherte ihnen, daß unverzüglich ein Gesetz erlassen
werde, das den Kauf und Verkauf von Grund und Boden verbietet, daß
„■nur", um ein solches Gesetz verabschieden zu können, die vorläufige
Verordnung Perewersews „vorübergehend aufgehoben“ worden sei.
Die Sozialrevolutionäre beruhigten die Bauern und speisten sie mit
Versprechungen ab. Die Bauern glaubten ihnen, beruhigten sich und fuh-
ren nach Hause.
Eine Woche nach der anderen verging.
Am 24. Juni (erst am 24. Juni) erscheint in den Zeitungen die Mel-
dung, daß Minister Tschemow, der Führer der Partei der Sozialrevolu-
tionäre, der Regierung einen Gesetzentwurf (erst einen Gesetzentwurf!)
142
W. I. Lenin
über das Verbot der den Kauf und Verkauf von Grund und Boden be-
treffenden Abmachungen unterbreitet habe.
Am 29. Juni veröffentlichten die Zeitungen die Meldung über eine
„private Konferenz“ der Reichsduma, die am 28. Juni stattgefunden hat.
In dieser Konferenz behandelte Herr Rodsjanko nach Mitteilung der
„Retsch" (die Zeitung der Partei, die in der Provisorischen Regierung die
Mehrheit hat) folgendes :
„Im Schlußwort ging er auf die Frage des Kaufs und Verkaufs von Grund
und Boden im Zusammenhang mit den neuen“ (o ja. außerordentlich neuen! im
höchsten Grade neuen!) „Maßnahmen der Regierung ein. Er wies nach, daß im
Falle eines Verbots des Kaufs und Verkaufs von Boden, dieser seinen Wert
verliere“ (für wen? - offenbar für die Gutsbesitzer!! Aber die Bauern wollen
ja gerade den Gutsbesitzern das Land wegnehmen!), „der Kredit seine Deckung
verliere und den Grundeigentümern" (den ehemaligen Grundeigentümern, Herr
Rodsjanko !) „bleibe dann jeder Kredit verschlossen. Aus welchen Mitteln - fragte
M. W. Rodsjanko - soll der Grundeigentümer den Banken seine Schulden be-
zahlen? In den meisten Fällen sind die Termine bereits abgelaufen, und ein
solcher Gesetzentwurf wird zur sofortigen Liquidierung des Grundeigentums auf
gesetzlicher Grundlage führen, ohne daß Versteigerungen stattfinden.
Auf Grund dessen schlug M. W. Rodsjanko der Konferenz vor, das Provi-
sorische Komitee zu beauftragen, die Frage zu prüfen, um nadi Möglichkeit
die Einführung dieses Gesetzes zu verhüten, das nicht für den privaten Grund-
besitz. sondern für den Staat verhängnisvoll sei."
Hier also kam die „unsichtbare Hand“ zum Vorschein! Da ist sie, die
„raffinierte Mechanik“ der Koalitionsregierung, der Koalition mit den
beinah-sozialistischen Ministern, entschleiert durch den ehemaligen Vor-
sitzenden der ehemaligen Reichsduma, den ehemaligen Gutsbesitzer und
Vertrauten Stolypins des Henkers, den ehemaligen Beschützer des Lock-
spitzels Malinowski - den Herrn Rodsjanko, der aus der Schule geplau-
dert hat.
Nehmen wir sogar an, daß jetzt, nachdem sich dieser Herr Rodsjanko
so ungeschickt verplappert hat, das Gesetz über das Verbot des Kaufs
und Verkaufs von Boden endlich erlassen wird. Endlich !
Doch darum handelt es sich nicht allein. Es geht darum, daß wir alle
an Hand dieses krassen Beispiels begreifen und den Massen der Bauern
helfen zu begreifen, wie und warum die Bauern betrogen worden sind.
Wie und warum hat man die Bauern betrogen?
143
Denn diese Tatsache bleibt unanfechtbar und unzweifelhaft bestehen:
Die Bauern wurden betrogen, man führte nicht unverzüglich das durch,
was man ihnen auf dem Gesamtrussischen Sowjet der Bauemdeputierten
unverzüglich durchzuführen versprochen hatte.
Wie hat man die Bauern betrogen? Man hat sie mit Versprechungen
abgespeist. Eben darin besteht die „raffinierte Mechanik“ aller Koalitions-
regierungen der Welt, d. h. bürgerlicher Regierungen mit Beteiligung von
Verrätern am Sozialismus. Die ehemaligen Sozialisten dienen in diesen
Regierungen, ganz gleich, ob sie sich dessen bewußt sind oder nicht, als
Werkzeug der Kapitalisten zum Betrug der Massen.
Warum konnte man die Bauern betrügen? Weil die Werkzeuge des
Betrugs, die Sozialrevolutionäre - wir nehmen den für sie günstigsten
Fall an - die raffinierte Mechanik der Klassenherrschaft und der Klassen-
politik in der heutigen Regierung Rußlands selbst nidit begriffen haben.
Die Sozialrevolutionäre haben sich von Phrasen hinreißen lassen. In
Wirklichkeit aber, wie das der „Fall" Rodsjanko sehr anschaulich bestä-
tigt hat. in Wirklichkeit wird Rußland von einem Block zweier Blocks,
einer Koalition zweier Koalitionen regiert.
Der eine Block ist der Blöde der Kadetten mit den monarchistischen
Gutsbesitzern, unter denen die erste Geige eben Herr Rodsjanko spielt.
Dieser Block ist vor den Augen ganz Rußlands als politische Realität da-
durch bestätigt worden, daß bei den Wahlen in Petrograd alle Zeitungen
der Schwarzhunderter, alle Zeitungen, die rechts von den Kadetten ste-
hen, die Kadetten unterstützt haben. Dieser Block hat durch die Schuld
der Sozialrevolutionäre und der Menschewiki die Mehrheit in der Re-
gierung. Dieser Block verschleppte das Verbot des Kaufs und Verkaufs
von Grund und Boden, dieser Block unterstützt die Gutsbesitzer und die
Kapitalisten und ihre Aussperrungspolitik.
Der andere Block ist der Block der Sozialrevolutionäre und Mensche-
wiki, die das Volk mit leeren Versprechungen betrogen haben. Skobelew
und Zereteli, Peschechonow und Tschemow haben Versprechungen über
Versprechungen gemacht. Versprechungen kann man leicht machen. Die
Methode der „sozialistischen“ Minister, das Volk mit Versprechungen
abzuspeisen, ist in allen fortgeschrittenen Ländern der Welt versucht
worden und hat überall zum Fiasko geführt. Die Eigenart Rußlands
besteht darin, daß dieses Fiasko der Parteien der Sozialrevolutionäre und
144
Menschewiki wegen der revolutionären Lage im Lande schärfere For-
men annehmen und schneller, als es sonst der Fall ist, eintreten wird.
Möge jeder Arbeiter und jeder Soldat an Hand dieses für die Bauern
besonders lehrreichen Beispiels die Bauemmassen gründlich darüber auf-
klären, wie und warum man sie betrogen hat!
Nicht im Block (Bündnis) mit den Kapitalisten, sondern nur im Bünd-
nis mit den Arbeitern werden die Bauern ihre Ziele erreichen können.
„ Prawda " Nr. 96.
14. (1.) Juli 1917.
Nach dem Text der .Prawda' .
145
WER TRÄGT DIE VERANTWORTUNG?
Herr N. Rostow führt in der ministeriellen „Rabotschaja Gaseta“
einige Auszüge aus Soldatenbriefen an, die von der außerordentlichen
Unwissenheit zeugen, die im Dorf herrscht. Alle Briefe, sagt der Ver-
fasser, der, wie er mitteilt, in der Agitationsabteilung des Exekutivkomi-
tees des Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten über ein didces
Paket von Briefen aus allen Ecken und Enden des Landes verfügt, alle
Briefe enthalten einen einzigen Schrei: Zeitungen, sdiidct Zeitungen!
Der mensdiewistische Verfasser greift sich an den Kopf und ruft be-
stürzt: „Wenn es ihnen (den Bauern) nicht klar wird, daß die Revolution
für sie von großem Nutzen ist, so werden sie sich gegen die Revolution
wenden . . Die Bauern leben „nach wie vor im Dunkel der Unwissen-
heit“.
Etwas spät besinnt sich der mensdiewistische Regierungsbeamte auf
seinen Packen Briefe. Seit dem 6. Mai, an dem die Menschewiki zu La-
kaien der Kapitalisten wurden, sind mehr als sieben Wochen vergangen,
und während dieser ganzen Zeit fluteten bürgerliche, konterrevolutionäre
Lügen und Verleumdungen gegen die Revolution ungehindert über das
flache Land, sie ergossen sich aus den Spalten der bürgerlichen Zeitun-
gen, die jetzt vorherrschen, sie wurden verbreitet von den direkten und
indirekten Dienern und Anhängern der Kapitalistenregierung, die von
den Menschewiki unterstützt wird.
Hätten die Menschewiki und Sozialrevolutionäre die Revolution nicht
verraten, die konterrevolutionären Kadetten nicht unterstützt, so wäre
die Macht schon seit Anfang Mai in den Händen des Exekutivkomitees,
und dies hätte sofort das Staatsmonopol auf Privatinserate in den Zeitun-
10 Lenin, Werke. Bd. 25
146 W. I. Lettin
gen einführen können und hätte so die Möglichkeit gehabt, Dutzende
Millionen von Zeitungsexemplaren unentgeltlich zur Verteilung zu brin-
gen und aufs flache Land zu schicken. Die großen Druckereien und die
Papiervonäte würden dann in den Händen des Exekutivkomitees für die
Aufklärung der Landbevölkerung „arbeiten“ und nicht für deren Ver-
dummung durch irgendein Dutzend bürgerlicher, konterrevolutionärer
Zeitungen, die sich faktisch im Zeitungswesen eine vorherrschende Posi-
tion verschafft haben.
Das Exekutivkomitee hätte sodann die Reichsduma auflösen und das
hierbei ersparte Geld des Volkes - ganz zu schweigen von vielen anderen
Quellen - zur Entsendung von tausend, wenn nicht mehreren tausend
Agitatoren aufs Land verwenden können.
Während der Revolution ist Zögern mitunter gleichbedeutend mit
glattem Verrat. Für die Verzögerung des Übergangs der Macht an die
Arbeiter, Soldaten und Bauern, für die Verzögerung revolutionärer Maß-
nahmen zur Aufklärung der in Unwissenheit lebenden Landbevölkerung
tragen die Sozialrevolutionäre und die Menschewiki die volle Verant-
wortung. Sie haben in dieser Hinsicht die Revolution verraten. Sie haben
es dahin gebracht, daß die Arbeiter und Soldaten in ihrem Kampf gegen
die konterrevolutionäre bürgerliche Presse und Agitation jetzt gezwun-
gen sind, sich mit „Handwerklerei“ zu begnügen, während sie die Mög-
lichkeit und die Pflicht gehabt hätten, dafür Mittel des Staates einzu-
setzen.
.Pramda" Nr. 96.
14. tV) Juli 1917.
Nach dem Text der „ Pramda "
147
WORAUF MÖGEN DIE KADETTEN
BEI IHREM AUSTRITT AUS DER REGIERUNG
GERECHNET HABEN? 47
Diese Frage drängt sich von selbst auf. Um auf die Ereignisse richtig
mit einer bestimmten Taktik zu antworten, muß man diese Ereignisse
richtig verstehen. Wie ist nun der Austritt der Kadetten zu verstehen?
Verärgerung? Grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten wegen der
Ukraine? Natürlich nicht. Wer die Kadetten der Grundsätzlichkeit oder
die Bourgeoisie der Fähigkeit verdächtigte, aus Verärgerung zu handeln,
würde sich lächerlich machen.
Nein. Der Austritt der Kadetten kann nur als Resultat einer Berech-
nung aufgefaßt werden. Worin besteht das Wesen dieser Berechnung?
Darin, daß zum Regieren eines Landes, das eine große Revolution
vollbracht hat und sich nicht beruhigen kann, noch dazu während eines
imperialistischen Krieges im Weltausmaß, die gigantisch kühne, historisch
große und von grenzenlosem Enthusiasmus getragene Initiative und
Schwungkraft der wahrhaft revolutionären Klasse notwendig ist. Ent-
weder man unterdrückt diese Klasse mit Gewalt - dies propagieren die
Kadetten seit langem, schon seit dem 6. Mai oder man vertraut sich
der Führung dieser Klasse an. Entweder man ist im Bunde mit dem im-
perialistischen Kapital, dann muß man die Offensive durchführen, muß
ein willfähriger -Diener des Kapitals sein, muß sich unter dessen Joch
beugen und muß die Utopien einer entschädigungslosen Aufhebung des
Grundeigentums fahrenlassen (siehe die Reden Lwows gegen das Pro-
gramm Tschemows, nach dem Bericht der „Birshowka“) - oder man ist
-gegen das imperialistische Kapital, dann muß man unverzüglich allen
Völkern genaue Friedensbedingungen vorschlagen, denn alle Völker sind
durch den Krieg erschöpft, dann muß man den Mut haben und ver-
10*
148
W.I. Lettin
stehen, das Banner der proletarischen Weltrevolution gegen das Kapital
zu erheben, muß dies nicht in Worten, sondern in Wirklichkeit tun und
die Revolution in Rußland selbst auf das entschiedenste vorantreiben.
Wie in kommerziellen Dingen, in Finanzangelegenheiten, bei der Wah-
rung der Interessen des Kapitals, sind die Kadetten auch in der Politik
gerissene Geschäftsleute. Die Kadetten haben richtig in Betracht gezogen,
daß die Lage objektiv revolutionär ist. Zu Reformen sind sie bereit,
und die Macht mit den Reformisten Zereteli und Tschemow zu teilen
sagt ihnen zu. Aber Reformen helfen nichts. Einen Weg der Reformen,
der aus der Krise, aus dem Krieg und aus der Zerrüttung herausführt,
gibt es nicht.
Die Kadetten rechnen, vom Standpunkt ihrer Klasse, dem Standpunkt
der Klasse der imperialistischen Ausbeuter richtig: Mit unserem Austritt
stellen wir sozusagen ein Ultimatum. Wir wissen, daß die Zereteli und
Tschemow jetzt der wahrhaft revolutionären Klasse nicht vertrauen, daß
sie eine wahrhaft revolutionäre Politik jetzt nicht betreiben wollen. Wir
werden sie einschüchtem. Ohne die Kadetten, das heißt ohne die „Hilfe“
des englisch-amerikanischen Weltkapitals, das heißt auch gegen dieses
Weltkapital den Weg der Revolution einsdilagen. Das machen die Zere-
teli und Tschemow nicht mit, dazu entschließen sie sich nicht! Sie werden
uns schon nachgeben!
Doch wenn nicht, so wird die Revolution gegen das Kapital, selbst
wenn sie beginnen sollte, nicht gelingen, und wir werden zurückkehren.
So rechnen die Kadetten. Wir wiederholen: Vom Standpunkt der Aus-
beuterklasse ist die Berechnung richtig.
Ständen die Zereteli und Tschemow auf dem Standpunkt der aus-
gebeuteten Klasse und nicht auf dem des schwankenden Kleinbürgertums,
so würden sie auf die richtigen Berechnungen der Kadetten mit dem rich-
tigen Anschluß an die Politik des revolutionären Proletariats antworten.
Geschrieben am 3. (16.) Juli 1917.
Veröffentlicht am 28. (15.) Juli 1917 Nach dem Manuskript,
im „ Proletarskoje Delo‘ Nr. 2.
ALLE MACHT DEN SOWJETS!.
„Wirf die Natur zur Tür hinaus - sie kommt zum Fenster wieder her-
ein . . .“ Wie man sieht, müssen die herrschenden Parteien, die Sozial-
revolutionäre und Menschewiki, diese einfache Wahrheit immer wieder
am eigenen Leibe „erfahren“. Haben sie es auf sich genommen, „revo-
lutionäre Demokraten" zu sein, sind sie in die Stellung revolutionärer
Demokraten geraten, so müssen sie die Schlußfolgerungen ziehen, die für
jeden revolutionären Demokraten bindend sind.
Demokratie ist die Herrschaft der Mehrheit. Solange der Wille der
Mehrheit noch nicht klar zum Ausdrude gekommen war, konnte man
ihn wenigstens noch mit einer Spur von Glaubwürdigkeit als nicht be-
kannt hinstellen und dem Volk unter dem Aushängeschild einer „demo-
kratischen“ Regierung eine Regierung aus konterrevolutionären Bour-
geois vorsetzen. Doch dies konnte nur ein kurzes Hinhalten sein. In den
wenigen, seit dem 27. Februar vergangenen Monaten hat sich der Wille
der Mehrheit der Arbeiter und Bauern, der erdrückenden Mehrheit der
Bevölkerung des Landes, nicht nur in allgemeiner Form offenbart. Dieser
Wille hat auch in Massenorganisationen seinen Ausdruck gefunden, in
den Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauemdeputierten.
Wie kann man denn dagegen sein, die gesamte Macht im Staate die-
sen Sowjets zu übergeben? Das bedeutet nichts anderes als Verzicht auf
die Demokratie! Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger,^ als dem
Volke eine solche Regierung aufzwingen, die ganz offenkundig auf
demokratische Weise, d. h. durch wirklich freie, wirklich allgemeine
Volkswahlen weder entstehen noch sich an der Macht halten kann.
Wie seltsam das auch auf den ersten Blick scheinen mag, aber es ist
150
W. I. Lenin
Tatsache: gerade diese äußerst einfache, offensichtliche, handgreifliche
Wahrheit haben die Sozialrevolutionäre und Menschewiki vergessen!
Ihre Lage ist so schief, hat sie so irre, so wirr gemacht, daß sie nicht
mehr imstande sind, diese ihnen abhanden gekommene Wahrheit wieder-
zu„finden“. Nach den Wahlen in Petrograd und in Moskau, nach der
Einberufung des Gesamtrussischen Bauemsowjets und nach dem Sowjet-
kongreß haben in ganz Rußland die Klassen und Parteien so klar, so
deutlich, so unverkennbar ihren Willen offenbart, daß sich in dieser Hin-
sicht niemand, es sei denn er hat den Verstand verloren oder hat sich in
eine schiefe Lage hineinmanövriert, dem geringsten Irrtum hingeben
kann.
Kadettische Minister, eine kadettische Regierung oder eine kadettische
Politik zu dulden ist eine Herausforderung an die Demokratie und den
Demokratismus. Hier ist die Quelle der politischen Krisen nach dem
27. Februar, hier ist die Quelle der Unsicherheit und der Schwankungen
unseres Regierungssystems. Auf Schritt und Tritt, täglich, ja selbst stünd-
lich appelliert man im Namen der maßgebenden staatlichen Körperschaf-
ten und Kongresse an den revolutionären Geist des Volkes und an seinen
Demokratismus, und gleichzeitig stellt sowohl die allgemeine Politik der
Regierung als auch speziell ihre Außenpolitik und insbesondere ihre
Wirtschaftspolitik eine Abkehr vom revolutionären Geist und eine Ver-
letzung des Demokratismus dar.
So kann es nicht weitergehen.
Es ist unvermeidlich, daß die Labilität einer solchen Lage bald aus die-
sem, bald aus jenem Anlaß zutage tritt. Das hartnäckig nicht sehen wol-
len ist keine sehr kluge Politik. Mag die Entwicklung auch ruckweise und
sprunghaft vor sich gehen, sie wird dennoch dahin führen, daß der längst
von unserer Partei verkündete Übergang der Macht an die Sowjets Wirk-
lichkeit wird.
Geschrieben nicht später als am
4. (17.) Juli 1917.
Veröffentlicht am 18. (5.) Juli 1917 Nach dem Text der m Pratvda ".
in der . Pramda “ Nr. 99.
WO IST DIE MACHT
UND WO DIE KONTERREVOLUTION?
Diese Frage beantwortet man gewöhnlich sehr einfach : Es gibt gar keine
Konterrevolution, oder wir wissen nicht, wo sie ist. Die Macht hingegen
kennen wir sehr wohl: sie liegt in den Händen der Provisorischen Re-
gierung, die vom Zentralexekutivkomitee (ZEK) des Gesamtrussischen
Kongresses der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten kontrol-
liert wird. Das ist che übliche Antwort
Wie die meisten Krisen jeder Art, die alles Konventionelle nieder-
reißen, alle Illusionen zerstören, hat auch die gestrige politische Krise 48
nur Trümmer der Illusionen hinterlassen, wie sie in den von uns ange-
führten, heute üblichen Antworten auf die Grundfragen jeder Revolution
zum Ausdruck kommen.
Es existiert ein ehemaliges Mitglied der II. Reichsduma, Alexinski ; die
Sozialrevolutionäre und Menschewiki, die herrschenden Parteien in den
Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauemdeputierten weigerten sich,
ihn zum Exekutivkomitee des Sowjets der Arbeiter- und Soldatendepu-
tierten zuzulassen, solange er sich nicht rehabilitiert, d. h„ solange er seine
Ehre nicht wiederhergestellt hat.
Worum handelt es sich? Weshalb hat das Exekutivkomitee Alexinski
das Vertrauen öffentlich und in aller Form versagt und von ihm verlangt,
seine Ehre wiederherzustellen, ihn also für ehrlos erklärt?
Weil Alexinski sich durch, Verleumdungen so „berühmt“ gemacht hat,
daß ihn in Paris die Journalisten der verschiedensten Parteien zum Ver-
leumder erklärten. Alexinski versuchte nicht, vor dem Exekutivkomitee
seine Ehre wiederherzustellen, sondern zog es vor, sich in der Plechanow-
schen Zeitung „Jedinstwo“ zu verstecken, wo er zuerst unter Initialen
und dann, dreister geworden, auch offen auftrat.
152
Gestern, am 4. Juli, ging mehreren Bolschewiki von Bekannten die
Warnung zu, Alexinski habe dem Komitee der Journalisten in Petrograd
irgendeine neue verleumderische Gemeinheit mitgeteilt. Die meisten der
Benachrichtigten schenkten der Warnung nicht die geringste Beachtung,
da sie für Alexinski und seine „Arbeit“ nur Ekel und Verachtung übrig
haben. Ein Bolschewik jedoch, Dshugaschwili (Stalin), Mitglied des Zen-
tralexekutivkomitees, der als georgischer Sozialdemokrat den Gen.
Tschcheidse seit langem kennt, erzählte diesem in der Sitzung des ZEK
von dem neuen niederträchtigen Verleumdungsfeldzug Alexinskis.
Es war spät nachts, doch Tschcheidse erklärte, das ZEK werde die Ver-
breitung von Verleumdungen durch Leute, die das Gericht und eine Un-
tersuchung durch das ZEK scheuen, nicht gleichgültig hinnehmen. In sei-
nem eigenen Namen als Vorsitzender des ZEK und im Namen Zeretelis
als Mitglied der Provisorischen Regierung wandte sich Tschcheidse sofort
telefonisch an alle Redaktionen mit der Forderung, von einer Veröffent-
lichung der Verleumdungen Alexinskis Abstand zu nehmen. Tschcheidse
sagte Stalin, daß sich die meisten Zeitungen bereit erklärt hätten, seine
Bitte zu erfüllen, und daß nur das „Jedinstwo“ und die „Retsch“ sich eine
Zeitlang „ausgeschwiegen“ haben (das jedinstwo“ haben wir nicht zu
Gesicht bekommen, und die „Retsch“ hat die Verleumdung nicht ver-
öffentlicht). So landete denn die Verleumdung schließlich in den Spalten
eines kleinen, dem größten Teil des lesenden Publikums völlig unbekann-
ten, gelben Blättchens, dem „Shiwoje Slowo“®, Nr. 51 (404), als dessen
Redakteur und Herausgeber ein gewisser A. M. Umanski zeichnet.
Die Verleumder werden sich jetzt vor Gericht zu verantworten haben.
Von dieser Seite aus ist die Angelegenheit einfach und unkompli-
ziert.
Die Unsinnigkeit der Verleumdung ist ganz offensichtlich: irgendein
Fähnrich des 16. Sibirischen Schützenregiments namens Jermolenko sei
„am 25. April zu uns hinter die Front der 6. Armee herübergeschickt“ (?)
„worden, um für den raschen Abschluß eines Separatfriedens mit Deutsch-
land zu agitieren“. Es handelt sich offenbar um ein aus der Gefangen-
schaft entflohenes Subjekt, von dem das im „Shiwoje Slowo“ abgedruckte
„Dokument“ hinzufügt: „Diesen Auftrag hat Jermolenko auf Drängen
seiner Kameraden angenommen“ ! !
Schon daran kann man ermessen, welches Vertrauen ein Subjekt ver-
Wo ist die Macht und mo die Konterrevolution?
153
dient, das ehrlos genug ist, einen solchen „Auftrag“ anzunehmen! Der
Zeuge ist ein ehrloser Mann. Das ist eine Tatsache.
Was hat nun dieser Zeuge ausgesagt?
Seine Aussage war so : „Die Offiziere des deutschen Generalstabs
Schiditzki und Lübers teilten ihm mit, daß in Rußland eine ebensolche
Agitation von dem Agenten des deutschen Generalstabs und Vorsitzen-
den der Ukrainischen Sektion des .Bundes zur Befreiung der Ukraine“ 50
A. Skoropis-Joltuchowski und von Lenin betrieben werde. Lenin habe
den Auftrag, mit allen Kräften das Vertrauen des russischen Volkes zur
Provisorischen Regierung zu erschüttern."
Die deutschen Offiziere haben also Jermolenko, um ihn für seine ehr-
lose Handlung zu gewinnen, was Lenin betrifft, schamlos angelogen, der,
wie jeder weiß und wie die gesamte Partei der Bolschewiki offiziell er-
klärt hat, einen Separatfrieden mit Deutschland stets und auf das entschie-
denste. unwiderruflich und unbedingt abgelehnt hat!! Der Schwindel der
deutschen Offiziere ist so offensichtlich, so plump und so unsinnig, daß
kein denkender Mensch auch nur für einen Augenblick daran zweifeln
kann, daß das ein Schwindel ist. Ein politisch denkender Mensch wird erst
recht nicht daran zweifeln, daß es widersinnig ist, Lenin mit irgendeinem
Joltuchowski (?) und dem „Bund zur Befreiung der Ukraine“ in Zusam-
menhang zu bringen; ein Widersinn, der um so augenfälliger ist, als so-
wohl Lenin wie alle Internationalisten gerade während des Krieges wie-
derholt öffentlich erklärt haben, daß sie mit diesem verdächtigen sozial-
patriotischen „Bund“ nichts gemein haben!
Die plumpe Lüge des von den Deutschen gekauften Jermolenko oder
der deutschen Offiziere verdiente nicht die geringste Aufmerksamkeit,
würde nicht das „Dokument“ weitere „eben eingetroffene Mitteilungen“
- unbekannt an wen, wie, von wem, wann - hinzufügen, wonach „das
Geld für die Agitation“ „über“ „Vertrauenspersonen“, die „Bolschewiki“
Fürstenberg (Hanecki) und Kozlowski, „gehe“ (an wen? Das „Doku-
ment“ hütet sich, direkt zu sagen, daß Lenin beschuldigt oder verdäch-
tigt werde!! Das Dokument schweigt sich darüber aus, an men das Geld
„gehe“ I). Angeblich liegen auch Beweise für Geldüberweisungen durch die
Banken vor, und angeblich habe „die Militärzensur einen ständigen (!)
telegrafischen Verkehr politischen und finanziellen Charakters zwischen
deutschen Agenten und den bolschewistischen Führern festgestellt“ ! !
154
W. I. Lenin
Wiederum eine plumpe Lüge, deren Widersinn in die Augen springt.
Wäre auch nur ein einziges Wort daran wahr, wie ist dann zu erklären,
1., daß Hanecki erst kürzlidi freie Einreise nach Rußland und dann wie-
der freie Ausreise erhielt? 2., daß weder Hanecki noch Kozlowski ver-
haftet wurden, bevor die Nachricht von ihrem „Verbrechen“ in der Presse
erschien? Hätte denn der Generalstab, wenn er wirklich halbwegs ver-
trauenswürdige Nachrichten über Geldüberweisungen, Telegramme usw.
besäße, die Verbreitung von Gerüchten hierüber durch die Alexinski und
die gelbe Presse zugelassen, ohne Hanecki und Kozlowski zu verhaften?
Ist es nicht klar, daß wir nichts weiter als ein plumpes Machwerk von
Zeitungsverleumdem niedrigsten Schlages vor uns haben?
Wir fügen hinzu, daß weder Hanecki noch Kozlowski Bolschewiki
sind, sondern Mitglieder der Polnischen Sozialdemokratischen Partei,
daß Hanecki - Mitglied des ZK dieser Partei - uns vom Londoner Par-
teitag (1903) her bekannt ist, den die polnischen Delegierten verließen,
usw. Die Bolschewiki haben weder von Hanecki noch von Kozlowski
irgendwelche Gelder erhalten. Das alles ist purer, plump aufgelegter
Schwindel.
Worin besteht die politische Bedeutung dieses Schwindels? Erstens
darin, daß die politischen Gegner der Bolschewiki ohne Lüge und Ver-
leumdung nicht auskommen können. Dermaßen niederträchtig und ge-
mein sind diese Gegner.
Zweitens darin, daß wir auf die in der Überschrift dieses Artikels ge-
stellte Frage Antwort erhalten.
Der Bericht über die „Dokumente“ ist bereits am 16. Mai an Kerenski
abgegangen. Kerenski ist Mitglied der Provisorischen Regierung und auch
des Sowjets, d. h. beider „Regierungsgewalten“. Zwischen dem 16. Mai
und dem 5. Juli liegt sehr viel Zeit. Wäre die Regierungsgewalt eine
wirkliche Macht, dann könnte sie, dann müßte sie selbst die „Doku-
mente“ untersuchen, die Zeugen Verhören und die Verdächtigen ver-
haften. Die Regierungsgewalt, beide „Regierungsgewalten“ , die Provi-
sorische Regierung wie das Zentralexekutivkomitee, konnten dies tun und
hätten dies tun müssen.
Beide Regierungsgewalten unternehmen nichts. Der Generalstab aber
steht, wie sich herausstellt, in irgendwelchen Beziehungen zu Alexinski,
der wegen seiner Verleumdungen nicht zum Exekutivkomitee des Sowjets
Wo ist die Macht und'too die Konterrevolution ?
155
zugelassen wurde! Der Generalstab läßt gerade zu der Zeit, zu der die
Kadetten aus der Regierung austreten - wahrsdieinlich ganz zufällig
seine offiziellen Dokumente Alexinski zur Veröffentlichung in die Hand
spielen!
Die Regierung unternimmt nichts.: Weder Kerenski noch die Provi-
sorische Regierung oder das Exekutivkomitee des Sowjets denken auch
nur daran, Lenin, Hanecki und Kozlowski als verdächtig zu verhaften.
Gestern nacht, am 4. Juli, ersuchen Tschcheidse und Zereteli die Zeitun-
gen, die offenkundige Verleumdung nicht zu veröffentlichen. Zugleich
aber schickt Polowzew etwas später, spät nachts, Offiziersschüler und
Kosaken, um die Redaktion der „Prawda“ zu demolieren, um deren
Erscheinen zu verhindern, ihre Herausgeber zu verhaften und die Ge-
schäftsbücher zu beschlagnahmen (angeblich, um nachzuprüfen, ob nicht
Eintragungen über verdächtige Gelder zu finden sind) ; und zur selben
Zeit wird in dem gelben Schmutzblättchen niedrigsten Kalibers „Shiwoje
SIowo“ eine gemeine Verleumdung veröffentlicht, um die Leidenschaften
aufzuputschen, um die Bolschewiki mit Dreck zu bewerfen und eine Po-
gromstimmung zu erzeugen, um das Vorgehen Polowzews, der Offiziers-
schüler und Kosaken, die die Redaktion der „Prawda“ demoliert haben,
besser rechtfertigen zu können.
Wer seine Augen vor der Wahrheit nicht verschließt, kann nicht im
Irrtum befangen bleiben. Wo gehandelt werden muß, da unternehmen
beide Regierungsgewalten nichts: das Zentralexekutivkomitee, weil es den
Kadetten „vertraut“ und- Angst hat, sie zu verärgern, und die Kadetten
unternehmen als' Regierungsmacht nichts, weil sie es vorziehen, hinter den
Kulissen tätig zu sein.
Da haben wir sie, die hinter den Kulissen tätige Konterrevolution: es
sind das die Kadetten, gewisse Kreise des Generalstabs (das „höhere
Offizierskorps der Armee“, wie es in der Resolution unserer Partei heißt)
und die anrüchige, halb auf Schwarzhunderterpositionen stehende Presse.
Sie sind es, die nicht untätig bleiben, die einmütig Zusammenarbeiten“ ;
das sind die Kreise, die Pogromstimmungen nähren, Pogrome anstiften,
auf Demonstranten schießen lassen usw. usf.
Wer nicht absichtlich seine Augen vor der Wahrheit verschließt, kann
nicht länger im Irrtum befangen bleiben.
Es gibt keine wirkliche Regierungsmacht, und es wird keine geben.
156
W. I. Lenin
solange die Macht nidit in die Hände der Sowjets übergeht und damit
die Grundlage geschaffen wird, eine wirkliche Regierungsmacht zu errich-
ten. Die Konterrevolution nutzt es aus, daß keine wirkliche Macht vor-
handen ist, vereinigt die Kadetten mit gewissen höheren Offizieren der
Armee und mit der Schwarzhunderterpresse. Das ist die traurige Wirk-
lichkeit, aber es ist die Wirklichkeit.
Arbeiter und Soldaten! An euch ist es jetzt, diszipliniert, standhaft
und wachsam zu sein !
Geschrieben am 5. (18.) JuU 1917.
Veröffentlicht am 19. (6.) JuU 1917
im . Listok , Prawdy ' “ (Blatt der .Pramda“).
Nach dem Text des
.Listok .Pramdy ' '.
157
DIE NIEDERTRÄCHTIGEN LÜGEN DER
SCHWARZHUNDERTERPRESSE UND ALEXINSKIS
Die Zeitung „Shiwoje Slowo“, ein ausgesprochenes Schwarzhunderter-
blatt, veröffentlicht heute eine gemeine, schmutzige Verleumdung gegen
Lenin.
Die „Prawda“ kann nicht erscheinen, da ihre Redaktion in der Nacht
zum 5. Juli von Offiziersschülern demoliert worden ist; eine ausführliche
Widerlegung der schmutzigen Verleumdung wird dadurch verzögert.
Vorläufig erklären wir, daß die Meldung des „Shiwoje Slowo“ eine
Verleumdung ist, daß Tsdidieidse in der Nacht zum 5. Juli alle großen
Zeitungen telefonisch ersucht hat, die verleumderischen Pogromartikel
nicht zu drucken. Die großen Zeitungen kamen dem Ersuchen Tschcheid-
ses nach, und am 5. Juli hat keine einzige Zeitung, mit Ausnahme des
schmutzigen „Shiwoje Slowo“, die gemeine Verleumdung abgedruckt.
Was Alexinski angeht, so ist er als Verleumder schon so berüchtigt,
daß er zum Exekutivkomitee des Sowjets nicht zugelassen wurde, solange
er sich nicht rehabilitiert, d. h. seine Ehre miederhergesteilt hat.
Bürger! Glaubt nicht den schmutzigen Verleumdern, Alexinski und
dem „Shiwoje Slowo" !
Schon aus folgendem ist auf den ersten Blick zu ersehen, daß das „Shi-
woje Slowo“ eben Verleumdungen in Umlauf setzt; „Shiwoje Slowo“
schreibt, daß am 16. Mai ein Brief (unter Nr. 3719) mit der Anschuldi-
gung gegen Lenin vom Stab an Kerenski abgegangen sei. Es ist klar, daß
Kerenski verpflichtet gewesen wäre, Lenin sofort verhaften zu lassen und
eine offizielle Untersuchung einzuleiten, wenn er auch nur einen Augen-
blick an die Ernsthaftigkeit der Anschuldigungen oder Verdächtigungen
geglaubt hätte.
Geschieben am5.( 18.) futi 1917.
Veröffentlicht am 19. (6.) Juli 1917 Nach dem Text des
im .Listok .Pramdy' ". „ Listok , Pramdy ' ".
VERLEUMDUNGEN UND TATSACHEN
Wegen der Demonstration am 3. und 4. Juli werden die Bolsdiewiki
mit endlosen Beschimpfungen und Verleumdungen überschüttet.
Man versteigt sich bis zu der Beschuldigung, die Bolsdiewiki hätten
„versucht, sich der Stadt zu bemächtigen“, sie wollten die Sowjets „ver-
gewaltigen“, sie hätten einen „Anschlag auf die Regierungsgewalt der
Sowjets“ verübt und so weiter und so fort.
Die Tatsachen aber besagen, daß die Bolsdiewiki, obwohl die Massen
bewaffnet waren, sich nicht nur keines Stadtteils, sondern auch keines ein-
zigen Gebäudes, keiner einzigen Institution bemächtigt haben (obwohl
sie das gekonnt hätten) und auch nicht versucht haben, das zu tun.
Die Tatsachen besagen, daß der einzige politische Fall von Gewalt-
anwendung gegen eine Institution in der Nacht zum 5. Juli erfolgte: da
wurde die Redaktion der „Prawda“ von Offiziersschülern und Kosaken
auf Befehl Polowzews demoliert, was ohne Wissen und Willen des So-
wjets geschah.
Das ist eine Tatsache.
Das eben ist eine wohlüberlegte, böswillige Gewaltanwendung einer
ganzen Institution gegenüber, das eben ist ein „Anschlag“ und eine „Ver-
gewaltigung“ nicht in Worten, sondern in der Tat. Wäre dieser Anschlag
auf gesetzlicher Grundlage erfolgt, dann hätte entweder die Provisorische
Regierung oder der Sowjet diesen Schritt gutgeheißen, doch keine der
Regierungsgemalten hat dies getan. Die Gewalttäter gegen die „Prawda“
haben weder im Sowjet noch bei der Provisorischen Regierung Unter-
stützung gefunden.
Die Bolsdiewiki forderten die Soldaten, als diese mit der Demonstra-
tion begonnen hatten, auf, friedlich und organisiert zu handeln.
159
'Weder die Provisorische Regierung noch der Sowjet haben die Offi-
ziersschüler, die Kosaken und Polowzew aufgefordert, friedlich, organi-
siert und nach Recht und Gesetz zu handeln.
Aber, sagt man uns, es gab doch eine Schießerei.
Ja, eine Schießerei gab es. Doch wer hat geschossen? Wer kann es
wagen, ohne Untersuchung jemand die Schuld an der Schießerei zu
geben?
Doch laßt uns einen Zeugen aus dem bürgerlichen Lager anführen.
Dieser Zeuge ist die Zeitung „Birshewyje Wedomosti", Abendaus-
gabe vom 4. Juli. Diesen Zeugen wird wohl niemand der Sympathie für
die Bolschewiki verdächtigen können! Dieser Zeuge bekundet folgendes:
„Punkt 2 Uhr mittags erdröhnte an der Ecke Sadowaja-Newski, als die be-
waffneten Demonstranten vorbeimarschierten und das in erheblicher Zahl ver-
sammelte Publikum ruhig zuschaute, von der rechten Seite der Sadomaja her ein
ohrenbetäubender Schuß, worauf dann Salvenfeuer einsetzte."
Also auch der Augenzeuge des bürgerlichen Blattes ist gezwungen,
die Wahrheit zu bestätigen, nämlich, daß man von der rechten Seite der
Sadomaja her begonnen hatte zu schießen!! Ist dies nicht ein klarer Be-
weis dafür, daß auf die Demonstranten geschossen worden ist?
Ist es denn schwer zu begreifen, daß die Demonstranten, wenn es ihr
Bestreben, ihre Absicht gewesen wäre, gewaltsam vorzugehen, eine be-
stimmte Institution aufs Korn genommen hätten (ebenso wie Polowzew
die Offiziersschüler und Kosaken gegen die „Prawda“ geschickt hat)?
Umgekehrt, wenn es unter den Matrosen Tote gab und wenn die Zeugen
des bürgerlichen Blattes aussagen, daß die Schießerei „von der rechten
Seite der Sadowaja her“ begonnen hat, „als die bewaffneten Demon-
stranten vorbeimarschierten“, ist das nicht ein schlagender. Beweis, daß
gerade die Schmarzhunderter, gerade die Gegner der Demokratie, gerade
die den Kadetten nahestehenden Kreise, nach Gewalttaten trachteten, Ge-
walttaten herbeiführen wollten?
Geschrieben am 5. (18.) Juli 1917.
Veröffentlicht am 19. (6.) Juli 1917
im .Listök .Pramdy ' ".
Nach dem Text des
„ Listok , Pramdy '
160
DEM WESEN DER DINGE NAHE
In der Sitzung des Zentralexekutivkomitees am Abend des 4. Juli ist
der Bürger Tschaikowski in seiner Rede dem Wesen der Dinge erstaun-
lich nahe gekommen.
Er wandte sich gegen die Übernahme der Macht durch den Sowjet und
führte unter anderem das folgende, sozusagen „ausschlaggebende“ Argu-
ment an: Wir müssen den Krieg führen, doch den Krieg kann man nicht
ohne Geld führen, Geld aber werden die Engländer und Amerikaner
nicht geben, wenn die „Sozialisten“ die Macht haben, Geld werden sie
nur geben, wenn sich die Kadetten an der Macht beteiligen.
Das kommt dem Wesen der Dinge sehr nahe.
Es ist unmöglich, am imperialistischen Krieg teilzunehmen, ohne sich
an dem kapitalistischen Unternehmen der Versklavung des Volkes durch
Anleihen bei den Herren Kapitalisten zu „beteiligen“.
Um sich wirklich gegen den imperialistischen Krieg zu erheben, muß
man alle Fäden, durch die man mit dem Kapital verbunden, an das Kapi-
tal gekettet ist, zerreißen und furchtlos die Aufsicht über die Banken, die
Aufsicht über die Produktion und deren Regulierung in die Hände der
Arbeiter und Bauern legen.
Die Engländer und Amerikaner werden nur Geld geben, wenn die
Kadetten Bürgschaft leisten, das ist auch unsere Meinung. Von zwei Din-
gen eins: entweder den Kadetten, dem Kapital, dienen, imperialistische
Anleihen häufen (und keinen Anspruch auf die Bezeichnung „revolutio-
näre“ Demokratie erheben, sich mit der zutreffenden Bezeichnung impe-
rialistische Demokratie abfinden) oder mit den Kadetten brechen, mit den
Kapitalisten, mit dem Imperialismus brechen, wirkliche Revolutionäre
auch in den Fragen des Krieges werden.
Tschaikowski ist dem Wesen der Dinge sehr nahe gekommen.
Geschrieben am 5. (18.) JüU 1917.
Veröffentlicht am 19. (6.) Juli 1917
im „ Listok , Pramdy ".
Nach dem Text des
Listok .Pramdy' ".
161
EINE NEUE DREYFUS-AFFÄRE?
Wollen etwa gewisse »Spitzen“ unseres Generalstabs eine neue Drey-
f us- Affäre 51 in Szene setzen?
Diesen Gedanken läßt die unverschämt freche, wüste Verleumdung
aufkommen, die im „Shiwoje Slowo“ veröffentlicht wurde und die wir
schon an anderer Stelle eingehend behandelt haben.
Der französische Generalstab bedeckte sich in der Dreyfus-Affäre vor
der ganzen Welt mit traurigem, schimpflichem Ruhm, er griff zu unzu-
lässigen, unehrlichen und direkt verbrecherischen (niederträchtigen) Mit-
teln, um Dreyfus zu beschuldigen.
Unser Generalstab trat „in der Affäre“ gegen die Bolschewiki, wie es
scheint, zum erstenmal öffentlich hervor in der ... - es ist sonderbar und
kaum glaublich, aber doch bezeichnend - in der Schwarzhunderterzei-
tung „Shiwoje Slowo“, in der die offenkundige Verleumdung veröffentlicht
worden ist, Lenin sei ein Spion. Diese Meldung beginnt mit folgenden
Worten:
„Mit Post vom 16. Mai 1917 unter Nr. 3719 übersandte der Chef des Stabes
des Oberbefehlshabers dem Kriegsminister ein Vemehmungsprotokoll“ (Verneh-
mung von Jermolenko).
Ist es bei einigermaßen richtiger Führung der Angelegenheit etwa
denkbar, daß Vemehmungsprotokolle, die der Stab anfertigt, vor der
Einleitung des Ermittlungsverfahrens oder vor der Verhaftung der Ver-
dächtigen in der Schwarzhunderterpresse veröffentlicht werden?
Der Stab ist für den Geheimdienst zuständig, das ist unbestreitbar. Ist
aber etwa ein Geheimdienst denkbar, wenn von einem Dokument, das
am 16. Mai abgesandt wurde und das Kerenski schon längst erhalten
hat, nicht Kerenski Gebrauch macht, sondern ein Schwarzhunderter-
Winkelblatt??
Wodurch unterscheidet sich das dem Wesen nach von den Methoden
in der Dreyfus-Affäre?
.Lislok ,Pran>dy‘ “, 39. (6.) Juli 1917. Nach dem Text des „ Listok ,Praivdy' *.
Lenin. Werke, Bd. 25
AUFRUF DES VOLLZUGSAUSSCHUSSES DES
PETERSBURGER KOMITEES DER SDAPR(B)
In Durchführung des gestern veröffentlichten Beschlusses des ZK der
SDAPR (der Beschluß wurde auch vom Petersburger Komitee unter-
zeichnet) ruft der Vollzugsausschuß des Petersburger Komitees der SDAPR
die Arbeiter auf, die Arbeit morgen, d. h. am 7. Juli früh, wiederaufzu-
nehmen.
Diesem Beschluß schließt sich die Beratung der Vertreter der Betriebs-
belegschaften des Wiborger Stadtteils an.
Der V ottzugsaussdiuß
des Petersburger Komitees der SDAPR
Geschrieben am 6. (19.) Juli 1917.
Zuerst veröffentlicht 1928
im Lenin-Sammelband VII.
Nach dem Manuskript.
EINE DREYFUSIADE
Das Alte verbindet sich mit dem Neuen, so war es schon immer bei
den vom Zarismus angewandten Methoden zur Ausbeutung und Unter-
drückung, und so ist es auch im republikanischen Rußland geblieben.
Ihre politische Hetze gegen die Bolschewiki, die Partei des internationalen
revolutionären Proletariats, spickt die konterrevolutionäre Bourgeoisie
mit den niederträchtigsten Verleumdungen und führt in der Presse einen
„Feldzug“, der ganz von der gleichen Art ist wie der Feldzug der fran-
zösischen klerikalen und monarchistischen Zeitungen in der Dreyfus-
Affäre.
Unter allen Umständen muß Dreyfus der Spionage angeklagt wer-
den! - das war damals die Parole. Unter allen Umständen muß irgend-
einer der Bolschewiki der Spionage angeklagt werden! - das ist jetzt die
Parole. Gemeinste Verleumdungen, Unterstellungen und faustdicke
Lügen, auf raffinierte Art den Leser in Verwirrung bringen - all dieser
Methoden bedient sich mit ungewöhnlichem Eifer die gelbe, die bürger-
liche Presse überhaupt. Insgesamt ergibt sich ein wüstes Geheul, das bis
zur Raserei ansteigt und bisweilen nicht nur Beweisgründe, sondern sogar
artikulierte Laute vermissen läßt.
Hier einige der Methoden unserer neuesten republikanischen Drey-
fusiade. Erst wurden drei Haupt„argumente“ „aufgefahren“ : Jermolenko,
Kozlowskis 20 Millionen, Parvus wird mit in die Sache hinemgezogen.
Tags darauf bringt das Haupthetzblatt „Shiwoje Slowo“ bereits zwei
„Berichtigungen“ : es erklärt, daß der „Führer" der Bolschewiki nicht be-
stochen worden ist, er sei jedoch ein Fanatiker, und aus den 20 Millio-
nen läßt es Zwanzigtausend werden. Ein anderes Blatt erklärt die Aus-
sagen Jermolenkos bereits für nebensächlich.
Im „Listok ,Prawdy‘ “ vom 6. Juli haben wir schon die ganze Unsin-
n*
164
nigkeit der Aussagen Jermolenkos nadigewiesen * Es ist klar, sich darauf
zu berufen, wäre peinlich.
In demselben „Listok“ ist ein Brief Kozlowskis abgedruckt, der die
Verleumdung widerlegt. Nach dieser Widerlegung werden die 20 Millio-
nen auf Zwanzigtausend herabgesetzt - statt einer genauen Summe wie-
derum eine „Abrundung“ !
Man will Parvus mit hineinziehen und bemüht sich mit aller Gewalt,
irgendeinen Zusammenhang zwischen ihm und den Bolschewiki zu kon-
struieren. In Wirklichkeit jedoch haben gerade die Bolschewiki schon im
Genfer „Sozial-Demokrat“ 52 Parvus als Renegaten bezeichnet**, sie haben
ihn als einen deutschen Plechanow schonungslos verurteilt und ein für
allemal jede Beziehung zu solchen Sozialchauvinisten unmöglich gemacht.
Gerade die Bolschewiki haben es in Stockholm in einer Festsitzung mit
den schwedischen linken Sozialisten 53 kategorisch abgelehnt, mit Parvus
zu sprechen, ja ihn überhaupt irgendwie zuzulassen und sei es auch nur
als Gast.
Hanedd betrieb Handelsgeschäfte als Angestellter einer Firma, an der
Parvus beteiligt war. Die Handelskorrespondenz und der Zahlungsver-
kehr gingen natürlich durch die Zensur und lassen sich in vollem Umfang
nachprüfen. Man bemüht sich, diese kommerziellen Dinge mit der Politik
zu verknüpfen, obwohl man dafür keinerlei Beweise erbringen kann! !
Man versteigt sich zu solch einer Lächerlichkeit, der „Prawda“ einen
Vorwurf daraus zu machen, daß ihre Telegramme an die sozialistischen
Zeitungen Schwedens und aller anderen Länder (die selbstverständlich
ebenfalls durch die Zensur gingen und der Zensur vollständig bekannt
sind) von den deutschen Zeitungen bisweilen mit Entstellungen nach-
gedruckt wurden! Als ob man der „Prawda“ den Nachdruck oder die bös-
willigen Entstellungen zur Last legen könnte !
Eine wahre Dreyfusiade, ein Lügen- und Verleumdungsfeldzug, von
wütendem politischem Haß genährt . . . Doch wie schmutzig müssen die
Quellen sein, aus denen diejenigen schöpfen, die, statt den ideologischen
Kampf zu führen, Verleumdungen verbreiten!
Geschrieben am 6./7. (19./20.) Juli 1917.
Zuerst veröffentlicht 1925 im Lenin-Sammelband IV. Nach dem Manuskript.
* Siehe den vorliegenden Band, S. 151-156. Die Red.
** Siehe Werke. Bd. 21. S. 428/429. Die Red.
165
ZUR WIDERLEGUNG DUNKLER GERÜCHTE
Im „Listok ,Prawdy‘“ vom 6. Juli ist eine ausführliche Widerlegung
der von der Schwarzhunderterpresse verbreiteten niederträchtigen Ver-
leumdungen gegen Lenin und andere veröffentlicht worden * Eine eben-
solche Widerlegung wurde in kürzerer Form als besonderes Flugblatt im
Namen des ZK unserer Partei veröffentlicht.
Ergänzend hierzu müssen wir lediglich noch auf die an uns gerich-
teten Fragen antworten, ob die Gerüchte über die Verhaftung Lenins,
Kamen ews. Sinowjews und anderer auf Wahrheit beruhen. Nein, diese
Gerüchte sind unwahr. Alle hier genannten Bolschewiki, gegen die von
der niederträchtigen verleumderischen Presse besonders gehetzt wird, sind
Mitglieder des Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitees des Sowjets der
Arbeiter- und Soldatendeputierten. Wir ersuchen alle ehrlichen Bürger
erneut, den schmutzigen Verleumdungen und dunklen Gerüchten keinen
Glauben zu schenken.
Geschrieben am 7. (20.) Juli 1917.
Zuerst veröffentlicht 1928 Nach dem Manuskript,
im Lenin-Samtnelband VII.
Siehe den vorliegenden Band, S. 151—156. Die Red.
166
DREI KRISEN 54
Je gehässiger in diesen Tagen über die Bolschewiki gelogen wird, je
wütender sie verleumdet werden, um so ruhiger müssen wir uns, die
Lügen und Verleumdungen widerlegend, in den historischen Zusammen-
hang der Ereignisse und in die politische, das heißt klassen-
mäßige Bedeutung des gegenwärtigen Verlaufs der Revolution hinein-
denken.
Um die Lügen und Verleumdungen zu widerlegen, brauchen wir hier
nur den Hinweis auf den „Listok .Prawdy'“ vom 6. Juli zu wiederholen
und die Aufmerksamkeit der Leser besonders auf den weiter unten ver-
öffentlichten Artikel zu lenken, der den dokumentarischen Nachweis da-
für erbringt, daß die Bolschewiki am 2. Juli gegen eine Aktion agitier-
ten (nach dem Eingeständnis der Zeitung der Partei der Sozialrevolutio-
näre) ; daß sich am 3. Juli die Erregung der Massen bis zur Siedehitze
gesteigert hatte und die Aktion entgegen unseren Ratschlägen begann;
daß wir am 4. Juli in einem Flugblatt (das von derselben Zeitung der
Sozialrevolutionäre, dem „Delo Naroda“, nachgedruckt wurde) zu einer
friedlichen und or ganisier ten Demonstration aufriefen und
daß wir in der Nacht des 4. Juli den Beschluß faßten, der Demonstration
ein Ende zu setzen. Verleumdet nur drauf los, Verleumder! - ihr werdet
diese Tatsachen, die entscheidende Bedeutung dieser Tatsachen in ihrem
ganzen Zusammenhang niemals aus der Welt schaffen !
Gehen wir nun zur Frage des historischen Zusammenhangs der Ereig-
nisse über. Als wir bereits Anfang April dagegen auftraten, die Provisori-
sche Regierung zu unterstützen, fielen sowohl die Sozialrevolutionäre als
auch die Menschewiki über uns her. Doch was hat das Leben bewiesen?
Drei Krisen
167
Was haben die drei politischen Krisen vom 20. und 21. April, vom
10. und 18. Juni sowie vom 3. und 4. Juli bewiesen?
Sie haben erstens die wachsende Unzufriedenheit der Massen mit der
bürgerlichen Politik der bürgerlichen Mehrheit der Provisorischen Regie-
rung bewiesen.
Es ist nicht uninteressant festzustellen, daß das „Delo Naroda“, die
Zeitung der an der Regierung beteiligten Partei der Sozialrevolutionäre,
ungeachtet all seiner Feindseligkeit gegenüber den Bolschewiki, in seiner
Ausgabe vom 6. Juli gezwungen ist zuzugeben, daß die Bewegung vom
3. und 4. Juli tiefgehende ökonomische und politische Ursachen hat. Die
dumme, plumpe und gemeine Lüge, daß diese Bewegung künstlich her-
vorgerufen worden sei, daß die Bolschewiki für die Aktion agitiert hätten,
wird mit jedem Tage immer offensichtlicher.
Die allgemeine Ursache, die allgemeine Quelle, die allgemeine tiefe
Wurzel aller drei erwähnten politischen Krisen ist klar, besonders, wenn
man sie alle drei im Zusammenhang betrachtet, so wie die Wissenschaft
die Politik zu betrachten gebietet. Es ist ganz unsinnig anzunehmen, drei
Krisen dieser Art könnten künstlich hervorgerufen werden.
Zweitens ist es lehrreich zu untersuchen, was diese Krisen miteinander
gemeinsam haben und welche Besonderheiten jede dieser Krisen hat.
Gemeinsam ist die überquellende Unzufriedenheit der Massen, ihre
Erregung gegen die Bourgeoisie und deren Regierung. Wer dieses
Wesen der Sache vergißt oder verschweigt oder in seiner Bedeu-
tung herabsetzt, der sagt sich los von den elementaren Wahrheiten des
Sozialismus über den Klassenkampf.
Der Kampf der Klassen in der russischen Revolution - darüber sollen
doch einmal die Leute nadidenken, die sich Sozialisten nennen, die einiges
darüber wissen, wie der Klassenkampf in den europäischen Revolutionen
vor sich ging.
Das Besondere an diesen Krisen ist die Art ihres Auftretens : Im ersten
Fall (am 20. und 21. April) bricht sie stürmisch-spontan hervor, über-
haupt nicht organisiert, es kommt zu einer Schießerei der Schwarzhun-
derter gegen die Demonstranten und zu unerhört wüsten, verlogenen
Anschuldigungen gegen die Bolschewiki. Dem Ausbruch folgt die poli-
tische Krise.
Im zweiten Fall setzen die Bolschewiki eine Demonstration an, die sie
168
W.I. Lenin
nach dem scharfen Ultimatum und dem direkten Verbot durch den So-
wjetkongreß wieder absagen; bei der gemeinsamen Demonstration am
18. Juni überwiegen unverkennbar die bolschewistischen Losungen. Die
politische Krise wäre, nach dem eigenen Eingeständnis der Sozialrevolu-
tionäre und Menschewiki am Abend des 18. Juni, bestimmt ausgebrochen,
wenn die Offensive an der Front das nicht verhindert hätte.
Die dritte Krise entfaltet sich am 3. Juli ganz spontan entgegen den
Anstrengungen der Bolschewiki, die diese am 2. Juli unternommen hatten,
um die Krise einzu dämmen, und sie führt nach ihrem Höhepunkt am
4. Juli zu einem Höhepunkt der Konterrevolution am 5. und 6. Juli. Die
Schwankungen bei den Sozialrevolutionären und Menschewiki kommen
darin zum Ausdrude, daß sich Spiridonowa und eine Reihe anderer Sozial-
revolutionäre für den Übergang der Macht an die Sowjets aussprechen,
und im selben Sinne äußern sich auch die internationalistischen Mensche-
wiki, die bisher dagegen auftraten.
Schließlich besteht die letzte und vidiricht lehrreichste Schlußfolge-
rung, die wir aus der Betrachtung der Ereignisse in ihrem Zusammen-
hang ziehen können, darin, daß uns alle drei Krisen eine gewisse, in
der Geschichte unserer Revolution neue Form von Demonstrationen kom-
plizierteren Typs vor Augen führen, gekennzeichnet durch wellenförmige
Bewegung, rasches Ansteigen und jähes Abflauen, Verschärfung von Re-
volution und Konterrevolution, wobei die Elemente der Mitte für längere
oder kürzere Zeit „hinweggespült“ werden.
Der Form nach war die Bewegung während jeder dieser drei Krisen
eine D emonstr ation. Eine gegen die Regierung gerichtete Demon-
stration - das wäre formdl die genaueste Bezeichnung für die Ereignisse.
Doch der springende Punkt ist gerade, daß es sich um keine gewöhnliche
Demonstration handelt, es handelt sich um etwas, das bedeutend mehr
ist als eine Demonstration und weniger als eine Revolution. Es ist der
Ausbruch von Revolution und Konterrevolution zugleich, es ist das
heftige, mitunter fast plötzliche „Hinwegspülen“ der Elemente der Mitte
in Verbindung mit einem stürmischen Hervortreten der proletarischen
und der bürgerlichen Elemente.
In dieser Hinsicht ist es überaus charakteristisch, daß alle, die eine
mittlere Position einnehmen, beiden konsequenten Klassenkräften, den
proletarischen und den bürgerlichen, jede dieser Bewegungen zum Vor-
Drei Krisen
wurf machen. Man sehe sich die Sozialrevolutionäre und die Mensche-
wiki an: sie sind außer sich und schreien aus Leibeskräften, daß die Bol-
schewiki durch ihren Extremismus der Konterrevolution helfen, doch zu-
gleich müssen sie immer wieder zugeben, daß die Kadetten (mit denen
sie eine Regierungskoalition bilden) konterrevolutionär sind. „Wir müs-
sen uns“, schrieb gestern das „Delo Naroda“, „durch einen tiefen Graben
von allen rechtsstehenden Elementen, einschließlich des kriegerisch ge-
stimmten Jedinstwo - “ (mit dem, fügen wir hinzu, die Sozialrevolutio-
näre bei den Wahlen einen Blöde gebildet hatten) „abgrenzen, das ist
unsere dringendste Aufgabe.“
Man vergleiche damit das Jedinstwo“ von heute (7. Juli) ; da sieht
sich Plechanow in seinem Leitartikel gezwungen, die unbestreitbare Tat-
sache festzustellen, daß sich die Sowjets (d. h. die Sozialrevolutionäre
und Menschewiki) „zwei Wochen Bedenkzeit“ genommen haben und
daß, wenn die Macht an die Sowjets übergehen sollte, dies „gleichbedeu-
tend wäre mit dem Sieg der Leninleute“. „Wenn die Kadetten nicht dem
Grundsatz huldigen: je schlimmer, desto besser . . .“, schreibt Plechanow,
„so werden sie selbst zugeben müssen, daß sie“ (mit ihrem Austritt aus
der Regierung) „einen schweren Fehler begangen haben und den Lenin-
leuten die Arbeit erleichterten.“
Ist das nicht kennzeichnend? - die Elemente der Mitte bezichtigen die
Kadetten, daß sie den Bolschewiki die Arbeit erleichtern, und die Bol-
schewiki, daß sie den Kadetten die Arbeit erleichtern!! Ist es denn so
schwer zu begreifen, daß wir an die Stelle der politischen Bezeichnungen
die der Klassen setzen müssen und dann die Träumereien des Klein-
bürgertums vom Verschwinden des Klassenkampfes zwischen dem Prole-
tariat und der Bourgeoisie vor uns haben? Das Wehklagen des Klein-
bürgertums über den Klassenkampf zwischen Proletariat und Bourgeoi-
sie? Ist es denn so schwer zu begreifen, daß keine Bolschewiki der Welt
je imstande gewesen wären, auch nur eine „Volksbewegung“, geschweige
denn drei „hervorzurufen“, wenn nicht sehr tiefgehende ökonomische
und politische Ursachen das Proletariat in Bewegung gebracht hätten? -
daß alle Kadetten und Monarchisten zusammen nicht in der Lage gewesen
wären, irgendeine Bewegung „von rechts“ zustande zu bringen, wenn
nicht ebenso tiefe Ursachen die konterrevolutionäre Einstellung der Bour-
geoisie als Klasse erzeugt hätten?
170
W. I. Lenin
Während der Bewegung vom 20. und 21. April zieh man sowohl uns
wie die Kadetten des Starrsinns, der Überspitzung sowie der Verschär-
fung der Spannungen; man ging so weit, daß man die Bolschewiki (so
unsinnig das auch ist) beschuldigte, die Schießerei auf dem Newski-Pro-
spekt angezettelt zu haben; doch als die Bewegung verebbt war, da schrie-
ben dieselben Sozialrevolutionäre und Menschewiki in ihrem gemein-
schaftlichen, offiziellen Organ „Iswestija“, die „Volksbewegung“ habe
„die Imperialisten Miljukow u. a. hinweggefegt“, d. h„ sie priesen
die Bewegung!! Ist das etwa nicht kennzeichnend? Zeigt das etwa nicht
besonders klar, daß das Kleinbürgertum den Mechanismus, das Wesen
des Klassenkampfes des Proletariats gegen die Bourgeoisie nicht be-
greift?
Die objektive Lage ist so: Die übergroße Mehrheit der Bevölkerung
Rußlands ist ihrer Lebenslage und noch mehr ihrem Denken nach klein-
bürgerlich. Doch im Lande herrscht das Großkapital, es herrscht in erster
Linie mit Hilfe der Banken und der Syndikate. Es gibt bei uns ein städti-
sches Proletariat, das entwickelt genug ist, um seinen eigenen Weg zu
gehen, aber noch nicht imstande ist, unverzüglich die Mehrheit der Halb-
proletarier auf seine Seite zu ziehen: Aus dieser grundlegenden, auf den
Klassenverhältnissen beruhenden Tatsache ergibt sich die Unvermeidlich-
keit solcher Krisen wie der drei von uns untersuchten, ergeben sich ebenso
ihre Formen.
Die Formen der Krisen können sich in Zukunft natürlich ändern, doch
das Wesen der Sache bleibt imverändert, zum Beispiel auch dann, wenn im
Oktober eine Sozialrevolutionäre Konstituierende Versammlung zusam-
mentreten sollte. Die Sozialrevolutionäre haben den Bauern versprochen;
1. Aufhebung des Privateigentums an Grund und Boden; 2. Übergabe des
Bodens an die Werktätigen; 3. Beschlagnahme. der Gutsbesitzerländereien
und ihre entschädigungslose Übergabe an die Bauern. Diese gewaltigen
Umgestaltungen zu verwirklichen ist absolut unmöglich, wenn nicht ganz
entschiedene revolutionäre Maßnahmen gegen die Bourgeoisie ergriffen
werden, Maßnahmen, die nur bei Anschluß der armen Bauernschaft an
das Proletariat, nur bei Nationalisierung der Banken und Syndikate
durchgeführt werden können.
Die vertrauensseligen Bauern, die einstweilen noch glauben, daß man
diese schönen Dinge durch Paktieren mit der Bourgeoisie erreichen könne.
Drei Krisen
171
werden unweigerlich enttäuscht und ... mit dem scharfen Klassenkampf
des Proletariats gegen die Bourgeoisie für die tatsächliche Verwirklichung
der Versprechungen der Sozialrevolutionäre (gelinde gesprochen) „unzu-
frieden“ sein. So war es und so wird es sein.
Geschieben am 7. (20.) Juli 1917.
Veröffentlicht am 19. Juli 1917 Nach dem Manuskript,
in der Zeitschrift „ Rabotniza ‘ Nr. 7.
SOLLEN SICH DIE FÜHRER DER BOLSCHEWIKI
DEM GERICHT STELLEN? 55
Nach Privatgesprächen zu urteilen, gibt es über diese Frage zwei Mei-
nungen.
Die Genossen, die „der Atmosphäre der Sowjets“ erliegen, neigen häufig
zu der Ansicht, daß man sich stellen soll.
Die, die den Arbeitennassen näher stehen, sind offensichtlich dafür, daß
man sich nicht stellen soll.
Prinzipiell läuft diese Frage in erster Linie auf die Beurteilung dessen
hinaus, was man als konstitutionelle Illusionen zu bezeichnen pflegt.
Wenn man der Ansicht ist, daß in Rußland eine rechtmäßige Regierung
und ein rechtmäßiges Gericht bestehen und möglich sind, daß die Ein-
berufung der Konstituierenden Versammlung wahrscheinlich ist, dann
kann man zu dem Schluß kommen, daß man sich stellen soll.
Doch eine solche Ansicht ist durch und durch falsch. Gerade die letzten
Ereignisse nach dem 4. Juli haben sehr anschaulich gezeigt, daß die Ein-
berufung der Konstituierenden Versammlung (ohne eine neue Revolu-
tion) unwahrscheinlich ist, daß es in Rußland weder eine rechtmäßige
Regierung noch ein rechtmäßiges Gericht gibt und (jetzt) auch nicht geben
kann.
Das Gericht ist ein Organ der Staatsmacht. Das vergessen die Libe-
ralen mitunter. Ein Marxist aber darf das keinesfalls vergessen.
Doch wo ist die Staatsmacht - wer übt sie aus?
Eine Regierung gibt es nicht. Sie wechselt von Tag zu Tag. Sie ist
untätig.
Tätig ist eine Militärdiktatur. Da ist es lächerlich, von einem „Gericht“
auch nur zu sprechen. Es handelt sich gar nicht um ein „Gericht“, sondern
Sollen sich die Führer der Bolschetmki dem Geruht stellen?
173
um eine Episode des Bürgerkriegs. Das ist es, was diejenigen, die befür-
worten, daß man sich stellen soll, leider nidit begreifen wollen.
Perewersew und Alexinski als Initiatoren dieses „Falles“!! Ist es da
nicht lächerlich, von einem Gericht zu sprechen? Ist es nicht naiv zu glau-
ben, daß unter diesen Umständen irgendein Gericht etwas klären, unter-
suchen, feststellen kann??
Die Staatsmacht befindet sich in den Händen einer Militärdiktatur,
und wenn keine neue Revolution ausbricht, kann sich diese Macht für
eine gewisse Zeit festigen, vor allem für die Dauer des Krieges.
„Ich habe nichts Gesetzwidriges getan. Das Gericht ist gerecht und wird
der Sache auf den Grund gehen. Die Gerichtsverhandlung wird öffentlich
sein. Dem Volk wird alles klar werden. Ich werde mich stellen.“
Diese Überlegung ist geradezu kindlich naiv. Nicht ein Gerichtsverfah-
ren, sondern eine Hetze gegen die Internationalisten, das ist es, was die
Staatsmacht braucht. Die Internationalisten hinter Schloß und
Riegel halten - das ist es, was die Herren Kerenski und Co. brauchen. So
war es (in England und Frankreich), und so wird es (in Rußland) sein.
Die Internationalisten müssen nach Kräften illegal arbeiten, sie dür-
fen aber nicht die Dummheit begehen, sich freiwillig dem Gericht zu
stellen !
Geschrieben am 8. (21.) fuli 1917.
Zuerst veröffentlicht 1925 in der Nach dem Manuskript.
Zeitschrift „Proletarskaja Remoluzija *
(Die proletarische Revolution) Nr. 1 (36).
DIE POLITISCHE LAGE 56
(Vier Thesen)
1. Die Konterrevolution hat sidi organisiert, gefestigt und faktisch die
Macht im Staat in ihre Hände genommen.
Die umfassende Organisierung und Festigung der Konterrevolution
besteht in dem wohldurchdachten und bereits verwirklichten Zusammen-
schluß der drei Hauptkräfte der Konterrevolution: 1. die Partei der Ka-
detten, d. h. die wahre Führerin der organisierten Bourgeoisie, hat durch
ihren Austritt aus der Regierung dieser ein Ultimatum gestellt und da-
mit der Konterrevolution den Weg für den. Sturz der Regierung frei
gemacht; 2. der Generalstab und die Kommandospitzen der Armee haben
mit der mehr oder weniger bewußten Hilfe Kerenskis, den sogar die
angesehensten Sozialrevolutionäre jetzt einen Cavaignac nennen, die tat-
sächliche Staatsmacht ergriffen und sind dazu übergegangen, gegen revo-
lutionäre Truppenteile an der Front mit Waffengewalt vorzugehen, revo-
lutionäre Truppen und Arbeiter in Petrograd und Moskau zu entwaffnen,
in Nishni-Nowgorod niederzuschlagen und zu unterdrücken, die Bol-
schewiki zu verhaften und ihre Zeitungen nicht nur ohne Gerichtsver-
fahren, sondern auch ohne Regierungsverfügung mundtot zu machen.
Tatsächlich übt in Rußland jetzt eine Militärdiktatur die eigentliche Staats-
macht aus; diese Tatsache wird noch verschleiert durch eine Reihe von
Institutionen, die den Worten nach revolutionär, in Wirklichkeit aber
ohnmächtig sind. Diese Tatsache steht unzweifelhaft fest und hat eine
so grundlegende Bedeutung, daß man, ohne sie begriffen zu haben, die
politische Lage nicht verstehen kann. 3. Die monarchistische Schwarz-
hunderterpresse und die bürgerliche Presse, die bereits von der wütenden
Hetze gegen die Bolschewiki zur Hetze gegen die Sowjets, gegen den
„Brandstifter“ Tschemow usw. übergegangen sind, haben überaus klar
gezeigt, daß der wahre Inhalt der Politik der Militärdiktatur, die heute
herrscht und von den Kadetten und Monarchisten unterstützt wird, darin
besteht, die Auseinandeijagung der Sowjets vorzubereiten. Viele Führer
Die politische Lage
175
der Sozialrevolutionäre und Menschewiki, d. h. der jetzigen Mehrheit der
Sowjets, haben dies in den letzten Tagen bereits zugegeben und ausge-
sprochen, aber als echte Kleinbürger setzen sie sich über diese harte Wirk-
lichkeit mit hohlen tönenden Phrasen hinweg.
2. Die Führer der Sowjets und der Parteien der Sozialrevolutionäre und
Menschewiki, an ihrer Spitze Zereteli und Tschemow, haben die Sache
der Revolution endgültig verraten, haben sie. den Konterrevolutionären
ausgeliefert und sich und ihre Parteien sowie die Sowjets zum Feigenblatt
der Konterrevolution gemacht.
Diese Tatsache wird dadurch bewiesen, daß die Sozialrevolutionäre
und Menschewiki die Bolschewiki preisgegeben haben und stillschwei-
gend die Demolierung ihrer Zeitungsredaktionen guthießen, ohne auch
nur den Mut zu finden, dem Volke direkt und offen zu sagen, was sie da
tun und warum sie es tun. Sie legalisierten die Entwaffnung der Arbeiter
und der revolutionären Regimenter und beraubten sich dadurch jeder
realen Macht. Sie sind zu hohlen Schwätzern geworden, die der Reak-
tion helfen, die Aufmerksamkeit des Volkes so lange zu „fesseln“, bis
die Reaktion ihre letzten Vorbereitungen getroffen hat, um die Sowjets
auseinanderjagen zu können. Ohne diesen vollständigen und endgültigen
Bankrott der Parteien der Sozialrevolutionäre und Menschewiki, der
jetzigen Mehrheit der Sowjets, erkannt zu haben, ohne erkannt zu haben,
daß ihr „Direktorium" und die sonstige Maskerade bloße Fiktion sind,
kann man die ganze jetzige politische Lage überhaupt nicht verstehen.
3. Alle Hoffnungen auf eine friedliche Entwicklung der russischen Re-
volution sind endgültig geschwunden. Die objektive Lage ist so : entweder
voller Sieg der Militärdiktatur oder Sieg des bewaffneten Aufstands der
Arbeiter, was nur möglich ist, wenn dieser Aufstand mit einer machtvollen
Erhebung der Massen gegen die Regierung und gegen die Bourgeoisie
zusammenfällt, hervorgerufen durch die wirtschaftliche Zerrüttung und
die Verlängerung des Krieges.
Die Losung „Alle Macht den Sowjets!" war die Losung der friedlichen
Entwicklung der Revolution, die möglich war im April, im Mai und im
Juni, bis zum 5.-9. Juli, d. h. bis zum Übergang der tatsächlichen Macht
an die Militärdiktatur. Jetzt ist diese Losung bereits falsch, denn sie zieht
nicht in Betracht, daß sich dieser Übergang der Macht vollzogen hat und
daß die Sozialrevolutionäre und Menschewiki die Revolution in der Tat
176
glatt verraten haben. Weder Abenteuer noch Revolten, weder verein-
zelter Widerstand noch aussichtslose Versuche, sich einzeln der Reaktion
zur Wehr zu setzen, können der Sache dienen, sondern nur das klare
Erkennen der Lage, die Ausdauer und Standhaftigkeit der Avantgarde
der Arbeiter, die Vorbereitung der Kräfte zum bewaffneten Aufstand,
für dessen Sieg jetzt außerordentlich schwierige Bedingungen bestehen,
der aber dennoch bei Zusammentreffen der hier erwähnten Tatsachen
und Strömungen möglich ist Keinerlei konstitutionelle und republika-
nische Illusionen, keine Illusionen mehr über einen friedhchen Weg, kei-
nerlei zersplitterte Aktionen, sich jetzt nicht von Scbwarzhundertem
und Kosaken provozieren lassen, sondern die Kräfte sammeln, sie um-
organisieren und beharrlich vorbereiten zum bewaffneten Aufstand, wenn
der Verlauf der Krise die Möglichkeit bietet, ihn bei wirkbcher Massen-
beteiligung, mit Unterstützung des ganzen Volkes durchzuführen. Daß
der Boden an die Bauern übergeht, ist jetzt ohne den bewaffneten Auf-
stand nicht mehr möglich, denn die Konterrevolution hat sidv an die
Macht gelangt, mit den Gutsbesitzern als Klasse vereinigt.
Das Ziel des bewaffneten Aufstands kann nur der Übergang der Macht
an das von der armen Bauernschaft unterstützte Proletariat sein, um das
Programm unserer Partei zu verwirklichen.
4. Die Partei der Arbeiterklasse muß, ohne die Legalität preiszugeben,
doch ohne diese auch nur einen Augenblick zu überschätzen, die legale
Arbeit mit der illegalen vereinen, wie in den Jahren 1912-1914.
Nicht eine Stunde lang darf die legale Arbeit aufgegeben werden, aber
man darf auch nicht die geringsten konstitutionellen und „friedlichen“ Illu-
sionen hegen. Sofort sind überall illegale Organisationen oder Zellen für
die Herausgabe von Flugblättern usw. zu gründen. Die Umorganisierung
muß sofort konsequent und beharrlich auf der ganzen Linie erfolgen.
Wir müssen so Vorgehen, wie in den Jahren 1912-1914, wo wir es
verstanden haben, vom Sturz des Zarismus durch Revolution und be-
waffneten Aufstand zu sprechen, ohne die legale Basis zu verlieren, weder
in der Reichsduma noch in den Versicherungskassen oder in den Gewerk-
schaften usw.
Geschrieben am 10. (23.) Juli 1917.
Veröffentlicht am 2. August (20. JuU) 1917 Nach dem Manuskript,
im .Proletarskoje Delo" Nr. 6. Unterschrift: W.
177
BRIEF AN DIE REDAKTION
DER „NOWAJA SHISN“
Erlauben Sie, Genossen, daß wir Ihre Gastfreundschaft in Anspruch
ndimen, da unser Parteiorgan sein Erscheinen unfreiwillig einstellen
mußte. Eine gewisse Sorte von Zeitungen hat eine wütende Hetze gegen
uns entfacht und uns der Spionage oder der Beziehungen zu einer feind-
lichen Regierung beschuldigt.
Mit welch unerhörter . . . Leichtfertigkeit (ein unangemessenes, viel zu
schwaches Wort) diese Hetze betrieben wird, zeigen die folgenden ein-
fachen Tatsachen: Erst schrieb das „Shiwoje Slowo“, Lenin sei ein Spion,
aber dann erklärte es in Form einer „Berichtigung“, die an der Sache gar
nichts änderte, daß er der Spionage nicht beschuldigt werde 1 Erst werden
die Aussagen Jermolenkos ins Feld geführt, dann ist man gezwungen
zuzugeben, daß es geradezu peinlich und beschämend ist, in derartigen
Aussagen eines solchen Menschen einen Beweis zu sehen.
Der Name Parvus wird mit in die Sache verwickelt, doch es wird ver-
schwiegen, daß keiner Parvus mit so schonungsloser Schärfe verurteilt
hat wie bereits 1915 der Genfer „Sozial-Demokrat“, den wir redigierten
und der in dem Artikel „Auf den Hund gekommen“ Parvus als „Rene-
gaten“, „Stiefellecker Hindenbuigs“ usw. gebrandmarkt hat.* Jeder, der
nicht gerade Analphabet ist, weiß oder kann leicht erfahren, daß von
irgendwelchen politischen oder sonstigen Beziehungen zwischen uns und
Parvus überhaupt nicht die Rede sein kann.
Der Name irgendeiner Frau Sumenson wird herangezogen, mit der wir
nicht nur nie etwas zu tun gehabt, sondern die wir auch nie gesehen
haben. Die Handelsgeschäfte Haneckis und Kozlowskis werden mit hin-
eingezogen, ohne daß auch nur eine einzige Tatsache angeführt wird,
wieso eigentlich, wo, wann und wie diese Geschäfte ein Deckmantel für
Spionage gewesen sein sollen. Nicht nur, daß wir uns niemals weder
»Siehe Werke, BA 21, S.428/429. Die Red.
178
direkt noch indirekt an Handelsgeschäften beteiligt haben, wir haben
überhaupt von keinem der genannten Genossen weder für uns persönlich
noch für die Partei auch nur eine Kopeke erhalten.
Man geht so weit, daß man uns den - übrigens entstellten - Nachdruck
von Telegrammen der „Prawda“ durch deutsche Zeitungen zur Last legt,
dabei aber zu erwähnen „vergißt“, daß die „Prawda“ im Ausland ein
Bulletin in deutscher und französischer Sprache herausgibt und daß jedem
der Nachdruck aus diesem Bulletin freisteht! 57
Dies alles geschieht unter Mitwirkung oder sogar auf Initiative eines
Alexinski, der zum Sowjet nicht zugelassen wurde, der, mit anderen Wor-
ten, für einen' notorischen Verleumder erklärt worden ist!! Ist es denn
möglich, nicht zu begreifen, daß ein solches Vorgehen gegen uns ein
heimtückischer Justizmord ist? Die Erörterung im Zentralexekutivkomi-
tee über die Voraussetzungen, unter denen Mitglieder des Zentralexeku-
tivkomitees überhaupt gerichtlich belangt werden können, bringt zweifel-
los etwas Ordnung in die Sache. Wollen die Parteien der Sozialrevolutio-
näre und Menschewiki an einem Justizmord mitwirken? Wollen sie
daran mitwirken, daß man uns vor Gericht stellt, sogar ohne Angabe
darüber, ob wir der Spionage oder des Aufruhrs beschuldigt werden? -
überhaupt daran, daß jemand vor Gericht gestellt wird ohne jede juri-
stisch genaue Qualifikation des Verbrechens? Wollen sie mitwirken an
einem offenkundigen Tendenzprozeß, der Personen daran hindern könnte,
für die Konstituierende Versammlung zu kandidieren, von denen bekannt
ist, daß sie von ihren Parteien als Kandidaten in Aussicht genommen
sind? Wollen diese Parteien den Vorabend der Einberufung der Konsti-
tuierenden Versammlung in Rußland zum Beginn einer Dreyfusiade auf
russischem Boden machen?
Die nahe Zukunft wird auf diese Fragen antworten. Wir betrachten es
als Pflicht der freien Presse, offen diese Fragen zu stellen.
Von der bürgerlichen Presse sprechen wir nicht. Selbstverständlich
glaubt Miljukow ebensowenig, daß wir Spione sind oder daß wir deut-
sches Geld bekommen haben, wie Markow und Samyslowski glaubten,
daß die Juden Kinderblut trinken.
Doch die Miljukow und Co. wissen, was sie tun.
„Nomaja Shisn * Air. 71,
11. (24.) Juli 1917.
Nach dem Text der
„Nomaja Shisn“.
179
BRIEF AN DIE REDAKTION
DES „PROLETARSKOJE DELO“
Genossen!
Wir haben unsere Absicht, uns der Anordnung der Provisorischen
Regierung über unsere Verhaftung zu unterwerfen, geändert, und zwar
aus folgenden Gründen.
Aus dem am Sonntag in der Zeitung „Nowoje Wremja“ veröffent-
lichten Brief des ausgeschiedenen Justizministers Perewersew ist es voll-
kommen klar geworden, daß die »Spionagesache“ Lenin und andere mit
vollem Vorbedacht von der Partei der Konterrevolution konstruiert wor-
den ist.
Perewersew gibt ganz offen zu, daß er ungeprüfte Anschuldigungen
in Umlauf gesetzt hat, um gegen unsere Partei die Wut der Soldaten
(wörtlich so) zu entfachen. Das gibt der gestrige Justizminister zu, ein
Mann, der sich eben noch Sozialist nannte! Perewersew ist gegangen. Ob
aber der neue Justizminister von den Methoden eines Perewersew, eines
Alexinski keinen Gebrauch machen wird, vermag niemand zu sagen.
Die konterrevolutionäre Bourgeoisie versucht eine neue Dreyfus- Affäre
in Szene zu setzen. Sie glaubt ebensowenig an unsere „Spionagetätigkeit“,
wie die Führer der russischen Reaktion, die die Beilis-Affäre 58 inszenierten,
daran glaubten, daß die Juden Kinderblut trinken. Es gibt zur Zeit in
Rußland keinerlei Garantien für eine Rechtsprechung.
Das Zentralexekutivkomitee, das sich für das bevollmächtigte Organ
der russischen Demokratie hält, hatte eine Kommission zur Untersuchung
der Spionageaffäre gebildet, aber unter dem Drude der konterrevolutio-
nären Kräfte hat es diese Kommission wieder aufgelöst. Den Befehl über
unsere Verhaftung wollte es weder direkt bestätigen noch aufheben. Es
12 *
W. I. Lenin
wusch sich die Hände in Unschuld und lieferte uns faktisch der Konter-
revolution aus.
Die gegen uns erhobene Beschuldigung der „Verschwörung“ und der
„moralischen“ „Anstiftung“ zum Aufruhr trägt bereits einen ganz be-
stimmten Charakter. Eine juristisch genaue Qualifikation unseres angeb-
lichen Verbrechens gibt weder die Provisorische Regierung noch der So-
wjet. die beide sehr gut wissen, daß es ganz unsinnig ist, bei einer Be-
wegung wie der vom 3. bis 5. Juli von einer „Verschwörung“ zu sprechen.
Die Führer der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre versuchen ganz
einfach, die auch sie bereits bedrängende Konterrevolution zu besänfti-
gen, indem sie ihr auf ihr Geheiß hin eine Reihe unserer Parteimitglieder
ausliefern. Von irgendwelcher Gesetzlichkeit oder selbst von solchen ver-
fassungsmäßigen Garantien, wie sie in geordneten bürgerlichen Ländern
existieren, kann jetzt in Rußland gar keine Rede sein. Sich jetzt den Be-
hörden ausliefem hieße sich den Miljukow, Alexinski und Perewersew
ans Messer liefern, den wutschäumenden Konterrevolutionären, für die
alle Anschuldigungen gegen uns nichts weiter sind als eine bloße Episode
im Bürgerkrieg.
Nach dem, was in den Tagen vom 6. bis 8. Juli geschehen ist, kann
kein russischer Revolutionär noch konstitutionelle Illusionen hegen. Ein
entscheidender Zusammenstoß zwischen Revolution und Konterrevolu-
tion ist im Gange. Wir werden nach wie vor auf der Seite der Revolution
kämpfen.
Wir werden unseren Kräften entsprechend den revolutionären Kampf
des Proletariats wie bisher unterstützen. Einzig und allein die Konsti-
tuierende Versammlung wird, wenn sie Zusammentritt, nicht von der
Bourgeoisie einberufen Zusammentritt, zuständig sein, zu dem Befehl der
Provisorischen Regierung über unsere Verhaftung ihr Wort zu sprechen.
„ Proletarskoje Delo" Nr. 2.
28. (15.) Juli 1917.
Nach dem Text des
„ Proletarskoje Delo".
ZU DEN LOSUNGEN
Es ist allzuoft vorgekommen, daß bei einer schroffen Wendung der
Geschichte selbst fortgeschrittene Parteien sich in der neuen Lage mehr
oder weniger lange Zeit nicht zurechtfinden können und Losungen wie-
derholen, die gestern richtig waren, heute aber jeden Sinn verloren haben,
die ebenso „plötzlich“ ihren Sinn verloren haben, wie die schroffe Wen-
dung der Geschichte „plötzlich“ eingetreten ist.
Derartiges kann sich offenbar auch mit der Losung wiederholen, die
den Übergang der gesamten Staatsmacht an die Sowjets fordert. Diese
Losung war richtig während der unwiderruflich vergangenen Periode
unserer Revolution, sagen wir vom 27. Februar bis zum 4. Juli. Diese
Losung hat ganz offensichtlich jetzt aufgehört, richtig zu sein. Hat man
das nicht begriffen, so kann man auch die brennenden Fragen der Gegen-
wart nicht begreifen. Jede einzelne Losung muß aus der Gesamtheit
der Besonderheiten einer bestimmten politischen Lage abgeleitet werden.
Die politische Lage in Rußland unterscheidet sich aber jetzt, nach dem
4. Juli, grundlegend von der Lage in der Zeit vom 27. Februar bis zum
4. Juli.
Damals, in dieser vergangenen Periode der Revolution, bestand im
Staate die sogenannte „Doppelherrschaft“, die materiell wie formal den
unbestimmten Übergangszustand der Staatsmacht zum Ausdruck brachte.
Vergessen wir nicht, daß die Frage der Macht die Grundfrage jeder Revo-
lution ist.
Damals befand sich die Staatsmacht in einem labilen Zustand. Auf
Grund eines freiwilligen gegenseitigen Übereinkommens teilten sich die
Provisorische Regierung und die Sowjets in <Jie Staatsmacht. Die Sowjets
182
waren Delegationen der Masse der freien, d. h. keiner Gewalt von außen
unterworfenen, bewaffneten Arbeiter und Soldaten. Daß die Waffen in
den Händen des Volkes waren, daß jede Gewalt von außen über das Volk
fehlte, eben darin bestand das Wesen der Sache. Das war es, was der
ganzen Revolution den friedlidien Weg der Vorwärtsentwicklung eröff-
nete und sicherte. Die Losung „Übergang der gesamten Macht an die
Sowjets !“ war die Losung des nächsten Schrittes, des unmittelbar durch-
führbaren Schrittes auf diesem friedlichen Weg der Entwicklung. Das war
die Losung der friedlichen Entwicklung der Revolution, wie sie vom
27. Februar bis zum 4. Juli möglich und natürlich sehr wünschenswert
war, jetzt aber absolut unmöglich ist.
Allem Anschein nach haben nicht alle Anhänger der Losung „Über-
gang der gesamten Macht an die Sowjets!“ zur Genüge erfaßt, daß das
die Losung der friedlichen Vorwärtsentwicklung der Revolution war.
Friedlich nicht nur in dem Sinne, daß sich niemand, keine Klasse, keine
ernsthafte Kraft damals (vom 27. Februar bis zum 4. Juli) dem Über-
gang der Macht an die Sowjets hätte widersetzen und ihn verhindern
können. Das ist noch nicht alles. Die friedliche Entwicklung wäre damals
möglich gewesen, sogar in der Beziehung, daß der Kampf der Klassen
und Parteien innerhalb der Sowjets, wenn die ganze Fülle der Staatsmacht
rechtzeitig an die Sowjets übergegangen wäre, sich möglichst friedlich und
schmerzlos hätte abspielen können.
Diese letztere Seite der Sache wird ebenfalls noch nicht genügend be-
achtet. Die Sowjets waren, ihrer Klassenzusammensetzung nach, Organe
der Bewegung der Arbeiter und Bauern, waren die fertige Form ihrer
Diktatur. Hätten sie die ganze Fülle der Macht innegehabt, so wäre der
Hauptmangel der kleinbürgerlichen Schichten, ihr Hauptfehler, die Ver-
trauensseligkeit gegenüber den Kapitalisten, in der Praxis überwunden
worden, wäre der Kritik der aus ihren eigenen Maßnahmen gewonnenen
Erfahrungen unterzogen worden. Der Wechsel der an der Macht stehen-
den Klassen und Parteien hätte innerhalb der Sowjets, auf dem Boden
ihrer Alleinherrschaft und Allgewalt, friedlich vor sich gehen können;
die Verbindung aller Parteien der Sowjets mit den Massen hätte fest und
unerschütterlich bleiben können. Man darf keinen Augenblick außer acht
lassen, daß nur diese enge, frei in die Breite und Tiefe wachsende Ver-
bindung der Parteien der Sowjets mit den Massen dazu hätte verhelfen
Zu den Losungen
183
können, die Illusionen des kleinbürgerlichen Paktierens mit der Bourgeoi-
sie friedlich zu überwinden. Der Übergang der Macht an die Sowjets
hätte an und für sich das Verhältnis der Klassen nicht geändert und hätte
es auch nicht ändern können, er hätte an dem kleinbürgerlichen Charak-
ter der Bauernschaft nichts geändert. Doch mit dem Übergang wäre recht-
zeitig ein bedeutender Schritt getan worden zur Loslösung der Bauern
von der Bourgeoisie, zu ihrer Annäherung an die Arbeiter und dann auch
zum Zusammenschluß mit ihnen.
So hätte es sein können, wenn die Macht rechtzeitig an die Sowjets
übergegangen wäre. So wäre es für das Volk am leichtesten und vorteil-
haftesten gewesen. Dieser Weg wäre der schmerzloseste gewesen, und
darum mußte man mit aller Energie für ihn kämpfen. Doch jetzt ist die-
ser Kampf, der Kampf f ür den rechtzeitigen Übergang der Macht an die
Sowjets, zu Ende. Der friedliche Weg der Entwicklung ist unmöglich
gemacht worden. Es beginnt ein nichtfriedlicher, äußerst schmerzvoller
Weg.
Der Umschwung vom 4. Juli besteht eben darin, daß sich seitdem die
objektive Lage schroff geändert hat. Der labile Zustand der Macht ist zu
Ende, die Macht ist an der entscheidenden Stelle in die Hände der Kon-
terrevolution übergegangen. Die Entwicklung der Parteien auf dem Boden
des Paktierens der kleinbürgerlichen Parteien der Sozialrevolutionäre
und Menschewiki mit den konterrevolutionären Kadetten hat dazu ge-
führt, daß diese beiden kleinbürgerlichen Parteien faktisch zu Komplicen
und Helfershelfern der konterrevolutionären Henker geworden sind. Die
blinde Vertrauensseligkeit der Kleinbürger gegenüber den Kapitalisten
hat die Kleinbürger im Verlauf der Entwicklung des Kampfes der Par-
teien dazu gebracht, die Konterrevolutionäre bewußt zu unterstützen.
Der Zyklus der Entwicklung in den Beziehungen der Parteien zueinander
ist vollendet. Am '27. Februar hatten sich alle Klassen gegen die Mon-
archie zusammengefunden. Nach dem 4. Juli hat sich die konterrevolutio-
näre Bourgeoisie, Hand in Hand mit den Monärchisten und Schwarz-
hundertern, die kleinbürgerlichen Sozialrevolutionäre und Menschewiki
einverleibt, nachdem sie diese zum Teil eingeschüchtert hatte, und sie hat
die wirkliche Staatsmacht in die Hände der Cavaignac gelegt, in die
Hände einer Militärclique, die die Gehorsamsverweigerer an der Front
erschießt und die Bolschewiki in Petrograd niederschlägt.
184
W.I. Lenin
Die Losung, die den Übergang der Madit an die Sowjets fordert, würde
sich jetzt wie eine Donquichotterie oder wie Hohn ausnehmen. Diese
Losung hieße, objektiv gesehen, das Volk betrügen, ihm die Illusion ein-
geben, als ob auch jetzt die Sowjets die Machtübernahme bloß zu wün-
schen oder zu beschließen brauchten, um die Macht zu erhalten, als ob
es im Sowjet noch Parteien gäbe, die sich nicht besudelt hätten durch
Handlangerdienste für die Henker, als ob man das Geschehene unge-
schehen machen könnte.
Es wäre der größte Irrtum zu glauben, das revolutionäre Proletariat
könnte, sozusagen um sich an den Sozialrevolutionären und Mensche-
wiki für deren Mithilfe bei der Niederschlagung der Bolschewiki, bei den
Erschießungen an der Front und bei der Entwaffnung der Arbeiter zu
„rächen“, es „ablehnen“, sie gegen die Konterrevolution zu unterstützen.
Die Frage so stellen würde erstens bedeuten, spießbürgerliche Moral-
begriffe auf das Proletariat übertragen (denn wenn es der Sacke nützt.
wird das Proletariat stets nicht nur das schwankende Kleinbürgertum,
sondern auch die Großbourgeoisie unterstützen) ; zweitens wäre es. und
das ist das Wichtigste, ein spießbürgerlicher Versuch, den politischen Kern
der Sache durch „Moralisieren“ zu verschleiern.
Dieser Kern der Sache besteht darin, daß man jetzt die Macht schon
nicht mehr auf friedlichem Wege übernehmen kann. Man kann die Macht
erst erlangen, nachdem man die jetzigen wirklichen Machthaber, näm-
lich die Militärclique, die Cavaignac, die sich auf die nach Petrograd ge-
holten reaktionären Truppen, auf die Kadetten und Monarchisten stützen,
in entschlossenem Kampf besiegt hat.
Der Kern der Sache besteht darin, daß diese neuen Machthaber, die
über die Staatsgewalt verfügen, nur von den revolutionären Volksmassen
besiegt werden können, Voraussetzung für deren Bewegung ist aber nicht
nur, daß sie vom Proletariat geführt werden, sondern auch, daß sie den
Parteien der Sozialrevolutionäre und Menschewiki, die die Sache der Re-
volution verraten haben, den Rücken kehren.
Wer in die Politik eine spießbürgerliche Moral hineinträgt, der urteilt
so: Zugegeben, die Sozialrevolutionäre und Menschewiki haben einen
„Fehler“ begangen, als sie die Cavaignac unterstützten, die das Prole-
tariat und die revolutionären Regimenter entwaffnen; aber man muß
ihnen die Möglichkeit geben, den Fehler zu „berichtigen“, man darf
Zu den Losungen
185
ihnen die Berichtigung des „Fehlers“ „nicht erschweren“; man muß das
Schwanken des Kleinbürgertums zur Seite der Arbeiter hin erleichtern.
Eine derartige Überlegung wäre kindliche Naivität oder einfach Dumm-
heit, wenn nicht gar ein neuer Betrug an den Arbeitern. Ein Schwanken
der kleinbürgerlichen Massen zur Seite der Arbeiter hin bestände doch
nur darin, eben gerade darin, daß diese Massen sich von den Sozial-
revolutionären und Menschewiki abwendeten. Ihren „Fehler“ berichtigen
könnten die Parteien der Sozialrevolutionäre und Menschewiki jetzt nur,
wenn sie Zereteli und Tschemow, Dan und Rakitnikow für Helfershelfer
der Henker erklärten. Für eine solche „Berichtigung“ des „Fehlers“ sind
wir voll und ganz . . .
Die Grundfrage der Revolution ist die Frage der Macht, sagten wir.
Man muß hinzufügen; Gerade die Revolutionen zeigen uns auf Schritt
und Tritt, wie verschleiert wird, wer die wirkliche Macht hat, zeigen uns,
wie die formale und die reale Macht auseinandergehen. Gerade darin be-
steht eine der wichtigsten Besonderheiten jeder revolutionären Periode. Im
März und April 1917 wußte man nicht, ob sich die reale Macht in den
Händen der Regierung oder in den Händen des Sowjets befindet.
Jetzt aber ist es besonders wichtig, daß die klassenbewußten Arbeiter
die Grundfrage der Revolution nüchtern betrachten: In wessen Händen
befindet sich gegenwärtig die Staatsmacht? Man überlege, welches ihre
materiellen Äußerungen sind, man nehme nicht Phrasen für Taten, und
die Antwort wird nicht schwerfallen.
Der Staat, das sind vor allem Formationen bewaffneter Menschen mit
sachlichen Anhängseln wie z. B. Gefängnissen - schrieb Friedrich Engels. 59
Jetzt sind das die Offiziersschüler und reaktionären Kosaken, die man
eigens nach Petrograd gebracht hat; es sind jene, die Kamenew und
andere hinter Schloß und Riegel halten, die die Zeitung „Prawda“ ver-
boten haben, die die Arbeiter und einen ganz bestimmten Teil der Sol-
daten entwaffnet haben, die einen ebenso ganz bestimmten Teil der Sol-
daten erschießen, die einen ebenso ganz bestimmten Teil der Fronttrup-
pen füsilieren. Eben diese Henker, sie sind die reale Macht. Die Zereteli
und Tschemow sind Minister ohne Macht, Marionetten, Führer von Par-
teien, die die Henker unterstützen. Das ist eine Tatsache. Und an dieser
Tatsache wird dadurch nichts geändert, daß Zereteli wie auch Tschemow
persönlich das Henkertum sicherlich „nicht billigen“, daß ihre Zeitungen
186
W. I. Lenin
sich zaghaft dagegen verwahren. Eine solche Modifizierung der politischen
Aufmachung ändert nichts am Wesen der Sache.
Verbot der Zeitung von 150000 Petrograder Wählern, die Ermordung
des Arbeiters Woinow durch Offiziersschüler (am 6. Juli), weil er den
„Listok ,Prawdy“‘ aus der Druckerei hinausgetragen hatte - ist das etwa
kein Henkertum? - ist das etwa nicht das Werk von Cavaignacs? Weder
die Regierung noch die Sowjets seien „schuld“ daran, wird man uns
sagen.
Um so schlimmer für die Regierung und die Sowjets, antworten wir,
denn dann sind sie also Nullen, sind sie Marionetten, dann haben nidht
sie die reale Macht.
Das Volk muß vor allem und in erster Linie die Wahrheit kennen, es
muß wissen, in wessen Händen sich in Wirklichkeit die Staatsmacht
befindet. Man muß dem Volke die ganze Wahrheit sagen: Die Macht ist
in den Händen einer Militärclique von Cavaignacs (Kerenski, gewisse
Generale,. Offiziere usw.), die unterstützt werden von der Bourgeoisie als
Klasse - an ihrer Spitze die Kadettenpartei -, von allen Monarchisten,
die durch die gesamte Schwarzhunderterpresse, durch das „Nowoje
Wremja“, das „Shiwoje Slowo* usw. usf. wirken.
Diese Macht muß gestürzt werden, sonst sind alle Worte vom Kampf
gegen die Konterrevolution hohle Phrasen, „Selbstbetrug und Betrug am
Volke“.
Diese Macht wird jetzt auch von den Ministem Zereteli und Tsdier-
now sowie von deren Parteien unterstützt: das Volk muß aufgeklärt
werden über deren Henkerrolle und über die Unausbleiblichkeit eines
solchen „Finales“ dieser Parteien nach ihren „Fehlem“ vom 21. April,
5. Mai, 9. Juni und 4. Juli, nachdem sie die Politik der Offensive gebil-
ligt hatten, eine Politik, die den Sieg der Cavaignac im Juli zu neun
Zehnteln im voraus entschieden hat.
Die ganze Agitation im Volke muß so umgestellt werden, daß sie der
konkreten Erfahrung der jetzigen Revolution und besonders der Julitage
Rechnung trägt, d. h„ daß sie klar und deutlich die wirklichen Feinde
des Volkes, die Militärclique, die Kadetten und die Schwarzhunderter
anprangert, daß sie che kleinbürgerlichen Parteien, die Parteien der So-
zialrevolutionäre und Menschewiki, die die Rolle von Helfershelfern
der Henker gespielt haben und noch spielen, rückhaltlos entlarvt.
Zu den Losungen 187
Die ganze Agitation im Volke muß so umgestellt werden, daß den
Bauern klar wird, wie völlig aussichtslos es ist, Land zu bekommen, so-
lange die Macht der Militärclique nidit gestürzt ist, solange die Parteien
der Sozialrevolutionäre und Menschewiki nicht entlarvt sind und ihnen
das Vertrauen des Volkes noch nidit entzogen ist. Das wäre unter den
„normalen“ Bedingungen der kapitalistischen Entwicklung ein sehr lang-
wieriger und schwieriger Prozeß, aber der Krieg und die wirtschaftliche
Zerrüttung werden die Sache enorm beschleunigen. Das sind solche „Be-
schleuniger“, die einen Monat, ja selbst eine Woche einem Jahre gleich-
setzen können.
Wahrscheinlich könnten gegen die obigen Ausführungen zwei Ein-
wände erhoben werden: erstens, jetzt von entschiedenem Kampf sprechen
hieße zersplitterte Aktionen fördern, die gerade der Konterrevolution
helfen würden; zweitens, der Sturz der Konterrevolution bedeute den-
noch den Übergang der Macht an die Sowjets.
Als Erwiderung auf den ersten Einwand sagen wir: Die Arbeiter Ruß-
lands sind bereits klassenbewußt genug, um nicht auf eine Provokation zu
einem offensichtlich für sie ungünstigen Zeitpunkt hereinzufallen. Jetzt
in Aktion treten und Widerstand leisten würde bedeuten, der Konter-
revolution helfen, das ist unbestreitbar. Daß der Entscheidungskampf
nur möglich ist bei einem neuen Aufschwung der Revolution, der brei-
teste Massen erfaßt, ist ebenfalls unbestreitbar. Aber es genügt nicht,
vom Aufschwung der Revolution, von ihrer Hochflut, von der Hilfe der
westeuropäischen Arbeiter usw. schlechthin zu sprechen, es gilt, einen
bestimmten Schluß aus unserer Vergangenheit zu ziehen, es gilt, eben
unsere Erfahrungen zu beherzigen. Tut man das, so ergibt sich gerade
die Losung, die zum Entscheidungskampf gegen die Konterrevolution
aufruft, die die Macht an sich gerissen hat.
Der zweite Einwand läuft gleichfalls auf ein Ersetzen konkreter Wahr-
heiten durch viel zu allgemeine Betrachtungen hinaus. Nichts, keine Kraft
außer dem revolutionären Proletariat ist imstande, den Sturz der bür-
gerlichen Konterrevolution herbeizuführen. Eben das revolutionäre Pro-
letariat muß, nach der Erfahrung vom Juli 1917, die Staatsmacht selb-
ständig in seine Hände nehmen - anders ist der Sieg der Revolution nicht
möglich. Die Macht in den Händen des Proletariats, das von der armen
Bauernschaft oder den Halbproletariem unterstützt wird, dies ist der ein-
188 W. I. Lenin
zige Ausweg, und wir haben bereits beantwortet, welche Umstände die
Entwicklung außerordentlich beschleunigen können.
Sowjets können und müssen in dieser neuen Revolution in Erscheinung
treten, aber nickt die jetzigen Sowjets, nicht Organe des Paktierens mit
der Bourgeoisie, sondern Organe des revolutionären Kampfes gegen die
Bourgeoisie. Daß wir auch dann für den Aufbau des ganzen Staates nach
dem Typ der Sowjets eintreten werden, das stimmt. Das ist nicht eine
Frage der Sowjets schlechthin, sondern eine Frage des Kampfes gegen die
gegenwärtige Konterrevolution und gegen den Verrat der gegenwärtigen
Sowjets.
Das Ersetzen des Konkreten durch Abstraktes ist einer der Haupt-
fehler, einer der gefährlichsten Fehler in der Revolution. Die gegenwär-
tigen Sowjets haben versagt, haben vollkommen Schiff bruch erlitten, weil
in ihnen die Parteien der Sozialrevolutionäre und Menschewiki herr-
schen. Gegenwärtig gleichen diese Sowjets Hammeln, die, zur Schlacht-
bank geführt, unter dem Messer stehend, jämmerlich blöken. Heute sind
die Sowjets ohnmächtig und hilflos gegenüber der siegreichen und ihren
Sieg weiter ausbauenden Konterrevolution. Die Losung: Übergabe der
Macht an die Sowjets, kann aufgefaßt werden als „einfache“ Aufforde-
rung, daß die Macht an die gegenwärtigen Sowjets übergehen soll, aber
das sagen, dazu auffordern hieße jetzt das Volk betrügen. Nichts ist ge-
fährlicher als Betrug.
Der Zyklus der Entwicklung des Kampfes der Klassen und Parteien
in Rußland vom 27. Februar bis zum 4. Juli ist vollendet. Es beginnt ein
neuer Zyklus, in den nicht die alten Klassen, nicht die alten Parteien und
nicht die alten Sowjets eintreten, sondern die im Feuer des Kampfes
erneuerten, durch den Verlauf des Kampfes gestählten, geschulten und
umgeformten. Man darf nicht rückwärts-, sondern muß vorwärtsschauen.
Man darf nicht mit den alten, sondern muß mit den neuen Klassen- und
Parteikategorien der Zeit nach dem Juli operieren. Man muß beim Be-
ginn des neuen Zyklus davon ausgehen, daß die bürgerliche Konter-
revolution gesiegt hat, daß sie gesiegt hat, weil die Sozialrevolutionäre
und Menschewiki mit ihr paktieren, und daß sie nur durch das revolutio-
näre Proletariat besiegt werden kann. In diesem neuen Zyklus wird es
natürlich noch mannigfaltige Etappen geben sowohl bis zum endgültigen
Sieg der Konterrevolution als auch bis zur endgültigen (kampflosen) Nie-
d erläge der Sozialrevolutionäre und Menschewiki und bis zum neuen Auf-
schwung der neuen Revolution. Darüber wird man jedoch erst später
sprechen können, wenn diese Etappen im einzelnen festere Umrisse an-
nehmen . . .
Geschrieben Mitte Juli 1917.
1917 als Broschüre vom Kronstädter
Komitee der SDAPRJB) herausgegeben.
Nadi dem Text der Broschüre.
WOFÜR WIR DEM FÜRSTEN G. J. LWOW
DANKBAR SIND
Das bisherige Haupt der Provisorischen Regierung, Fürst G. J. Lwow,
hat in dem Abschiedsinterview, das er Vertretern des Joumalistenkomi-
tees bei der Provisorischen Regierung gab, wertvolle Eingeständnisse ge-
macht, die ihm die Dankbarkeit der Arbeiter sichern.
.In meinem Optimismus", sagte Lwow, .werde ich besonders durch die Er-
eignisse bestärkt, die sidi in den letzten Tagen im Lande abgespielt haben. Unser
.tiefer Durchbruch' der Front Lenins ist meiner Überzeugung nach für Rußland
von unvergleichlich größerer Bedeutung ab der Durchbruch der Deutschen an
unserer Südwestfront.“
Wie sollten die Arbeiter dem Fürsten für diese nüchterne Einschätzung
des Klassenkampfes nicht dankbar sein? Die Arbeiter werden nicht nur
dankbar sein, sie werden von Lwow lernen.
Mit welch großer Maulfertigkeit und maßloser Heuchelei haben alle
Bourgeois und Gutsbesitzer wie auch die hinter ihnen einhertrottenden
Sozialrevolutionäre und Menschewiki Reden gegen den .Bürgerkrieg“
geschwungen ! Man betrachte sich das wertvolle Eingeständnis des Für-
sten Lwow, und man wird sehen, daß er die innere Lage Rußlands mit
größter Seelenruhe gerade vom Standpunkt des Bürgerkriegs aus ein-
schätzt. An der Spitze der Konterrevolution hat die Bourgeoisie die Front
der revolutionären Arbeiter tief durchbrochen - darin liegt das winzige
Körnchen Wahrheit in den Eingeständnissen des Fürsten. Zwei Feinde,
zwei feindliche Lager, einer hat die Front des anderen durchbrochen -
so faßt Fürst Lwow die innere Lage Rußlands zusammen. Wollen wir
dem Fürsten Lwow von Herzen für seine Offenheit danken! Ist er doch
tausendmal mehr im Recht als die sentimentalen Spießbürger aus dem
Lager der Sozialrevolutionäre und Menschewiki, die meinen, daß der
Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat, der sich während
Wofür mir dem Fürsten G. J. Lrnom dankbar sind
191
der Revolution unvermeidlich bis aufs äußerste verschärft, durch ihre
Bannflüche und Beschwörungen verschwinden könne!
Zwei Feinde, zwei feindliche Lager, einer hat die Front des anderen
durchbrochen, dies ist die richtige Geschichtsphilosophie des Fürsten
Lwow. Er hat recht, wenn er faktisch das dritte Lager, das Kleinbürger-
tum, die Sozialrevolutionäre und Menschewiki, nicht mit in Rechnung
stellt. Dies dritte Lager scheint groß zu sein, kann aber in Wirklichkeit
nichts selbständig entscheiden ; das ist dem nüchtern urteilenden Fürsten
klar, wie es auch jedem Marxisten klar ist, der die ökonomische Stellung
des Kleinbürgertums kennt, und wie dies auch schließlich jedem klar ist,
der sich in die Lehren aus der Geschichte der Revolution hineingedacht
hat, die stets gezeigt haben, daß die kleinbürgerlichen Parteien bei einer
Verschärfung des Kampfes zwischen Bourgeoisie und Proletariat ganz
machtlos sind.
Der Klassenkampf im Innern ist selbst in Kriegszeiten bedeutend wich-
tiger als der Kampf gegen den äußeren Feind - mit welch einer Flut von
wildem Geschimpfe haben doch die Vertreter der Groß- und Kleinbour-
geoisie die Bolschewiki wegen ihres Bekenntnisses zu dieser Wahrheit
überschüttet! Wie haben all die zahllosen Liebhaber von hochtraben-
den Phrasen über „Einheit“, „revolutionäre Demokratie“ usw. usf. diese
Wahrheit abgeschworen !
Als aber der ernste, entscheidende Augenblick kam, da hat Fürst Lwow
diese Wahrheit sofort voll und ganz anerkannt und offen verkündet,
daß der „Sieg“ über den Klassenfeind im Innern des Landes wichtiger
ist als die Lage an der Front gegen den äußeren Feind. Das ist eine
unbestreitbare Wahrheit, eine nützliche Wahrheit. Die Arbeiter werden
dem Fürsten Lwow sehr dankbar dafür sein, daß er diese Wahrheit an-
erkannt, an sie erinnert und sie verbreitet hat. Als Dank für den Fürsten
werden die Arbeiter alle Anstrengungen in ihrer Partei darauf richten,
daß die breitesten Massen der Werktätigen und Ausgebeuteten diese
Wahrheit besser begreifen und sich zu eigen machen. Nichts wird der
Arbeiterklasse im Kampf um ihre Befreiung so zustatten kommen wie
diese Wahrheit.
Worin besteht dieser „Durchbruch“ an der Front des Bürgerkriegs, über
den Fürst Lwow so jubelt? Bei dieser Frage muß man besonders aufmerk-
sam verweilen, damit die Arbeiter von Lwow recht gut lernen können.
192
Der „Durchbruch an der Front“ des inneren Krieges bestand diesmal
erstens darin, daß die Bourgeoisie über ihre Klassenfeinde, die Bolsche-
wiki, ein Meer von Unrat und Verleumdungen ausgoß, wobei sie bei
diesem so gemeinen und schmutzigen Werk der Verleumdung ihrer poli-
tischen Gegner eine beispiellose Hartnäckigkeit an den Tag legte. Dies
war, mit Verlaub zu sagen, die „ideologische Vorbereitung“ des „Durch-
bruchs an der Front des Klassenkampfes“.
Zweitens bestand der „Durchbruch“ materiell, dem Wesen der Sache
nach, darin, daß Vertreter der feindlichen politischen Strömungen ver-
haftet, daß sie außerhalb des Gesetzes gestellt wurden, daß ein Teil von
ihnen auf offener Straße, ohne Recht und Gesetz erschossen wurde (Er-
mordung Woinows am 6. Juli, weil er aus der Druckerei der „Prawda“
deren Ausgaben hinaustrug), daß man ihre Zeitungen verboten und Ar-
beiter und revolutionäre Soldaten entwaffnet hat.
Das ist der „Durchbruch an der Front des Krieges mit dem Klassen-
feind“. Sollen die Arbeiter darüber recht gut nachdenken, um dies, wenn
die Zeit gekommen ist, der Bouigeoisie gegenüber anzuwenden.
Niemals wird das Proletariat zu Verleumdungen greifen. Es wird die
Zeitungen der Bourgeoisie verbieten und dabei geradeheraus in Gesetzen
und Verfügungen im Namen der Regierung erklären, daß die Kapitalisten
und deren Verteidiger Volksfeinde sind. Die Bourgeoisie in Gestalt unse-
res Feindes, der Regierung, und das Kleinbürgertum in Gestalt der So-
wjets fürchten sich, auch nur ein direktes und offenes Wort über das Ver-
bot der „Prawda“, über die Gründe des Verbots zu sagen. Das Proletariat
wird nicht zu Verleumdungen greifen, sondern mit dem Wort der Wahr-
heit wirken. Es wird den Bauern und dem ganzen Volk die Wahrheit
über die bürgerlichen Zeitungen sagen und über die Notwendigkeit, sie
zu verbieten.
Zum Unterschied von den Schwätzern des Kleinbürgertums, den Sozial-
revolutionären und Menschewiki, wird das Proletariat ganz genau wissen,
worin wirklich der „Durchbruch an der Front“ des Klassenkampfes besteht,
wie der Feind, wie die Ausbeuter unschädlich zu machen sind. Fürst Lwow
hat dem Proletariat geholfen, diese Wahrheit zu erkennen. Sprechen wir
dem Fürsten Lwow unseren Dank aus.
.Proletarskoje Delo m Nr. 5 ,
1. August (19. Juli) 1917.
Nadt dem Text des
. Proletarskoje Delo'.
193
ÜBER VERFASS UNGSILLUSIONEN 68
Verfassungsillusionen nennt man den politischen Fehler, der darin
besteht, daß die Menschen eine normale, rechtliche, geregelte und gesetz-
mäßige, kurz „verfassungsmäßige“ Ordnung als existierend ansehen, ob-
wohl sie in Wirklichkeit gar nicht existiert Auf den ersten Blick mag es
scheinen, daß im heutigen Rußland, im Juli 1917, wo noch gar keine
Verfassung ausgearbeitet ist, von der Entstehung von Verfassungsillusio-
nen nicht die Rede sein könne. Doch das ist ein großer Irrtum. In
Wirklichkeit besteht der Kernpunkt der ganzen gegenwärtigen politischen
Lage in Rußland eben darin, daß sehr breite Massen der Bevölkerung in
Verfassungsillusionen befangen sind. Ohne das begriffen zu haben, kann
man von der gegenwärtigen politischen Lage Rußlands rein gar nichts
verstehen. Man kann absolut keinen einzigen Schritt dazu tun, die tak-
tischen Aufgaben im heutigen Rußland richtig zu stellen, ehe man nicht
die systematische und schonungslose Aufdeckung der Verfassungsillu-
sionen in den Mittelpunkt gerückt, alle ihre Wurzeln bloßgelegt und die
richtige politische Perspektive wiederhergestellt hat. x
Nehmen wir die drei Meinungen, die für die heutigen Verfassungsillu-
sionen besonders typisch sind, und untersuchen wir sie näher.
Die erste Meinung: Unser Land befindet sich am Vorabend der Konsti-
tuierenden Versammlung; darum habe alles, was jetzt geschieht, einen
provisorischen, vorübergehenden, nicht sehr wesentlichen, keinen ent-
scheidenden Charakter, alles werde bald von der Konstituierenden Ver-
sammlung überprüft und endgültig geregelt werden. Die zweite Mei-
nung: Gewisse Parteien - z. B. die Sozialrevolutionäre oder die Mensche-
wiki oder der Block beider - haben die offensichtliche, unzweifelhafte
13 Lenin, Werte, Bd.
194
W.I. Lenin
Mehrheit im Volk oder in den „einflußreichsten“ Körperschaften, wie
z. B. in den Sowjets ; darum könne im republikanischen, demokratischen,
revolutionären Rußland der Wille dieser Parteien, dieser Körperschaften,
wie überhaupt der Wille der Volksmehrheit nicht übergangen, geschweige
denn verletzt werden. Die dritte Meinung: Eine gewisse Maßnahme, wie
z. B. das Verbot der Zeitung „Prawda“, sei weder von der Provisorischen
Regierung noch von den Sowjets legalisiert worden ; deshalb sei sie nur
eine Episode, eine zufällige Erscheinung, sie könne keineswegs als etwas
Entscheidendes betrachtet werden.
Gehen wir auf jede dieser Meinungen näher ein.
Die Einberufung der Konstituierenden Versammlung war schon von
der ersten Provisorischen Regierung versprochen worden. Diese erkannte
an, daß ihre Hauptaufgabe darin bestehe, das Land an die Konstitu-
ierende Versammlung heranzuführen. Die zweite Provisorische Regie-
rung setzte den Termin zur Einberufung der Konstituierenden Versamm-
lung auf den 30. September fest. Die dritte Provisorische Regierung, die
nach dem 4. Juli gebildet wurde, hat diesen Termin in feierlichster Weise
bestätigt. <>•-.
Indes sprechen die Chancen 99 gegen 1 dafür, daß die Konsti-
tuierende Versammlung zu diesem Termin nicht einberufen werden wird.
Sollte sie zu diesem Termin einberufen werden, so sprechen wiederum
die Chancen 99 gegen 1 dafür, daß sie ebenso ohnmächtig und unnütz
wie die erste Duma sein wird - solange nicht die zweite Revolution in
Rußland gesiegt hat. Um sich davon zu überzeugen, genügt es, und sei
es auch nur für einen Augenblick, sich von dem Schwall von Phrasen und
Versprechungen, von dem Kleinkram des Alltags, der die Gehirne ver-
kleistert, frei zu machen und einen Blick auf das Grundlegende, das im
gesellschaftlichen Leben alles Bestimmende, zu werfen: auf den Klassen-
kampf.
Daß die Bourgeoisie in Rußland aufs engste mit den Gutsbesitzern
verschmolzen ist, liegt klar auf der Hand. Die gesamte Presse, alle Wah-
len, die ganze Politik der Kadettenpartei und der rechts von ihr stehen-
Über Verfassungsillusionen
19 5
den Parteien, alle Reden auf den „Kongressen“ der „interessierten“ Per-
sonen beweisen das. Die Bourgeoisie begreift ausgezeichnet, was die
kleinbürgerlichen Schwätzer unter den Sozialrevolutionären und den
„linken“ Menschewiki nicht begreifen, nämlich, daß es unmö glich
ist, das Privateigentum an Grund und Boden in Rußland aufzuheben, da-
zu noch entschädigungslos, ohne eine gewaltige ökonomische Revolution,
ohne die Banken unter die Kontrolle des gesamten Volkes zu stellen,
ohne Nationalisierung der Syndikate, ohne eine Reihe schonungsloser
revolutionärer Maßnahmen gegen das Kapital. Die Bourgeoisie begreift
das ausgezeichnet. Gleichzeitig kann sie nicht umhin, zu erkennen, zu
sehen und zu spüren, daß sich die gewaltige Mehrheit der Bauern in Ruß-
land jetzt nicht nur für die Beschlagnahme der Gutsbesitzerländereien
ausspricht, sondern auch viel weiter links als Tschemow stehen wird. Ist
doch die Bourgeoisie besser unterrichtet als wir, sowohl darüber, wieviel
Teilzugeständnisse Tschemow ihr gemacht hat, sei es auch nur in der
Zeit vom 6. Mai bis 2. Juli durch das Verschleppen und Beschneiden der
verschiedenen Bauemf orderungen, wie auch darüber, wieviel Mühe es
den redtten Sozialrevolutionären (Tschemow gilt bei den Sozialrevolu-
tionären als „Zentrum“ !) auf dem Bauemkongreß und im Exekutivkomi-
tee des Gesamtrussischen Sowjets der Bauemdeputierten gekostet hat, die
Bauern zu „beschwichtigen“ und sie mit Versprechungen abzuspeisen.
Die Bourgeoisie unterscheidet sich vom Kleinbürgertum dadurch, daß
sie aus ihrer ökonomischen und politischen Erfahrung gelernt hat, die
Bedingungen zu begreifen, die im kapitalistischen System für das Auf-
rechterhalten der „Ordnung“ (d. h. der Versklavung der Massen) erfor-
derlich sind. Die Bourgeois sind Geschäftsleute, Menschen, die mit gro-
ßer kaufmännischer Berechnung vorgehen, die gewöhnt sind, auch an die
Fragen der Politik streng geschäftlich heranzutreten, die mißtrauisch
gegen Worte sind und den Stier bei den Hörnern zu packen wissen.
Die Konstituierende Versammlung im heutigen Rußland wird eine
Mehrheit für die Bauern ergeben, die weiter links stehen als die Sozial-
revolutionäre. Das weiß die Bourgeoisie. Weil sie das weiß, kann sie nicht
umhin, auf das entschiedenste gegen eine baldige Einberufung der Kon-
stituierenden Versammlung zu kämpfen. Einen imperialistischen Krieg im
Geiste der von Nikolaus II. abgeschlossenen Geheimverträge zu führen,
sich für den gutsherrlichen Grandbesitz oder die Zahlung von Entschä-
196
W.I. Lenin
digungen einzusetzen - all das ist, wenn eine Konstituierende Versamm-
lung da ist, unmöglich oder unglaublich schwierig. Der Krieg wartet nicht.
Der Klassenkampf wartet ebensowenig. Selbst die kurze Zeitspanne vom
28. Februar bis 21. April hat das anschaulich gezeigt.
Von Beginn der Revolution an zeichneten sich zwei Meinungen über
die Konstituierende Versammlung ab. Die Sozialrevolutionäre und Men-
schewiki, durch und durch in Verfassungsillusionen befangen, betrach-
teten die Dinge mit der Vertrauensseligkeit des Kleinbürgers, der vom
Klassenkampf nichts wissen will: Die Konstituierende Versammlung ist
angekündigt, sie wird also kommen, und damit basta! Was darüber ist,
das ist vom Übel! Die Bolschewiki aber sagten: Nur in dem Maße, wie
sich die Kraft und die Macht der Sowjets festigt, ist die Einberufung der
Konstituierenden Versammlung und ihr Erfolg gesichert. Bei den Men-
schewiki und Sozialrevolutionären wurde der Schwerpunkt auf den
Rechtsakt verlegt: auf das Ankündigen, Versprechen und Deklarieren
der Einberufung der Konstituierenden Versammlung. Bei den Bolschewiki
wurde der Schwerpunkt auf den Klassenkampf verlegt: wenn die So-
wjets siegen, wird die Konstituierende Versammlung gesichert sein, wenn
nicht, so ist sie nicht gesichert
So ist es auch gekommen. Die Bourgeoisie führte die ganze Zeit hin-
durch einen bald versteckten, bald offenen, aber unaufhörlichen zähen
Kampf gegen die Einberufung der Konstituierenden Versammlung. Die-
ser Kampf kam in dem Bestreben zum Ausdruck, die Einberufung bis zur
Beendigung des Krieges hinauszus chieben. Dieser Kampf kam darin zum
Ausdruck, daß der Termin für die Einberufung der Konstituierenden
Versammlung mehrmals verschoben wurde. Als endlich nach dem
18. Juni - mehr als ein Monat war nach der Bildung der Koalitionsregie-
rung vergangen - der Termin zur Einberufung der Konstituierenden
Versammlung festgesetzt wurde, erklärte eine Moskauer bürgerliche Zei-
tung, dies sei unter dem Einfluß der bolschewistischen Agitation gesche-
hen. In der „Prawda“ war das Zitat aus dieser Zeitung genau wieder-
gegeben.
- Nach dem 4. Juli, als die Dienstfertigkeit und die Verängstigung der
Sozialrevolutionäre und Menschewiki der Konterrevolution den „Sieg“
brachte, entschlüpfte der „Retsch“ eine kurze, aber im höchsten Grade
bemerkenswerte Äußerung: „Eine unmöglich kurze Frist“ für die Ein-
berufung der Konstituierenden Versammlung! I Am 16. Juli erscheint. in
der „Wolja Naroda“ und in der „Russkaja Wolja“ eine Notiz, daß die
Kadetten die Verschiebung der Einberufung der Konstituierenden Ver-
sammlung unter dem Vorwand fordern, daß es „unmöglich“ sei, sie in so
„kurzer“ Frist einzuberufen, und der vor der Konterrevolution liebe-
dienernde Menschewik Zereteli erklärt sich dieser Notiz zufolge schon
bereit, die Einberufung auf den 20. November zu verschieben !
Es besteht kein Zweifel, daß eine solche Notiz nur gegen den Willen
der Bourgeoisie durchschlüpfen konnte. Für sie sind solche „Enthüllun-
gen“ unvorteilhaft. Aber es ist nichts so fein gesponnen, es kommt doch
an die Sonnen. Die nach dem 4. Juli außer Rand und Band geratene
Konterrevolution plaudert aus der Schule. Gleich die erste Machtergrei-
fung durch die konterrevolutionäre Bourgeoisie nach dem 4. Juli wird
unverzüglich von einem Schritt (und einem sehr ernsten Schritt) gegen
die Einberufung der Konstituierenden Versammlung begleitet.
Das ist eine Tatsache. Und diese Tatsache enthüllt die ganze Hohl-
heit der Verfassungsillusionen. Ohne eine neue Revolution in Rußland,
ohne Sturz der Macht der konterrevolutionären Bourgeoisie (in erster
Linie der Kadetten), ohne daß das Volk den Parteien der Sozialrevolutio-
näre und Menschewiki, den Parteien, die mit der Bourgeoisie paktieren,
sein Vertrauen entzieht, wird die Konstituierende Versammlung entweder
überhaupt nicht einberufen werden, oder sie wird eine „Frankfurter
Scfawatzbude“ 61 , eine ohnmächtige, unnütze Versammlung von Klein-
bürgern sein, die durch den Krieg und die Perspektive eines „Boykotts
der Macht“ durch die Bourgeoisie zu Tode erschrocken sind und hilflos
zwischen krampfhaften Versuchen, ohne die Bourgeoisie zu regieren, und
der Angst, ohne die Bourgeoisie auskommen zu müssen, hin und her
pendeln.
Die Frage der Konstituierenden Versammlung ist der Frage nach dem
Verlauf und Ausgang des Klassenkampfes zwischen Bourgeoisie und Pro-
letariat unter geordnet. Ich entsinne mich, daß die „Rabotschaja
Gaseta“ einmal davon schwatzte, die Konstituierende Versammlung werde
ein Konvent sein. Das ist ein Musterstück der hohlen, jämmerlichen,
verachtungswürdigen Prahlerei unserer mensdiewistischen Lakaien der
konterrevolutionären Bourgeoisie. Um nicht eine „Frankfurter Schwatz-
bude“ oder eine erste Duma zu sein, um ein Konvent zu sein, dazu muß
198
W. I. Lenin
man den Mut aufbringen, muß man es verstehen und die Kraft haben,
der Konterrevolution erbarmungslos Schläge zu versetzen, aber darf nicht
mit ihr paktieren. Dazu ist es notwendig, daß die Macht in den Händen
der in der gegebenen Epoche fortgeschrittensten, entschlossensten, revo-
lutionärsten Klasse liegt. Dazu ist notwendig, daß diese von der gesam-
ten Masse der Stadt- und Dorfarmut (den Halbproletariem) unterstützt
wird. Dazu ist es notwendig, schonungslos mit der konterrevolutionären
Bourgeoisie abzurechnen, d. h. vor allem mit den Kadetten und den Kom-
mandospitzen der Armee. Das sind die realen, klassenmäßigen, mate-
riellen Voraussetzungen für einen Konvent. Es genügt, diese Bedingun-
gen klar und präzise aufzuzahlen, um zu begreifen, wie lächerlich die
Prahlerei der „Rabotschaja Gaseta“ ist, wie bodenlos dumm die Ver-
fassungsillusionen der Sozialrevolutionäre und Menschewiki über die
Konstituierende Versammlung im heutigen Rußland sind.
II
Als Marx die kleinbürgerlichen „Sozialdemokraten“ von 1848 geißelte,
brandmarkte er besonders erbarmungslos ihre hemmungslose Phrasen-
drescherei über „Volk“ und Volksmehrheit überhaupt. 62 Gerade daran
sollte man denken bei der Analyse der zweiten Meinung, der Verfas-
sungsillusionen hinsichtlich der „Mehrheit“.
Damit im Staate tatsächlich die Mehrheit entscheidet, bedarf es be-
stimmter realer Bedingungen. Nämlich, es muß eine solche Staatsord-
nung, eine solche Staatsmacht fest errichtet sein, die die Möglichkeit
gibt, Entscheidungen entsprechend der Mehrheit zu treffen, und die
gewährleistet, daß diese Möglichkeit zur Wirklichkeit wird. Das einer-
seits. Anderseits ist es notwendig, daß diese Mehrheit auf Grund ihrer
Klassenzusammensetzung, auf Grund des Verhältnisses dieser oder jener
Klassen zueinander innerhalb (und außerhalb) dieser Mehrheit, imstande
ist, den Staatswagen einträchtig und erfolgreich zu lenken. Jedem Mar-
xisten ist es klar, daß diese zwei realen Bedingungen in der Frage der
Volksmehrheit und der Abwicklung der Staatsgeschäfte gemäß dem Wil-
len dieser Mehrheit die entscheidende Rolle spielen. Indessen zeigt je-
doch die ganze politische Literatur der Sozialrevolutionäre und Mensche-
wiki und noch mehr ihr ganzes politisches Verhalten, daß sie diese Be-
dingungen durchaus nicht verstehen.
Wenn die politische Macht im Staate sich in den Händen einer Klasse
befindet, deren Interessen mit denen der Mehrheit übereinstimmen, dann
ist die Lenkung des Staates wirklich entsprechend dem Willen der Mehr-
heit möglich. Wenn sich aber die politische Macht in den Händen einer
Klasse befindet, deren Interessen mit denen der Mehrheit äuseinander-
gehen, dann verwandelt sich jedes Regieren entsprechend der Mehrheit
unvermeidlich in einen Betrug an der Mehrheit oder in die Unterdrük-
kung dieser Mehrheit. Jede bürgerliche Republik liefert uns dafür Hun-
derte und Tausende von Beispielen. In Rußland herrscht die Bourgeoisie
sowohl ökonomisch als auch politisch. Ihre Interessen und die Interessen
der Mehrheit stehen, besonders während des imperialistischen Krieges,
in einem schroffen Gegensatz. Darum besteht bei einer materialistischen,
marxistischen und nicht formal-juristischen Fragestellung der Kernpunkt
der Frage im Aufdecken dieses Gegensatzes, im Kampf gegen den Betrug
der Bourgeoisie an den Massen.
Unsere Sozialrevolutionäre und Menschewiki aber haben umgekehrt
ihre tatsächliche Rolle als Werkzeuge des Betrugs der Bourgeoisie an
den Massen (an der »Mehrheit“), als Schrittmacher und Helfershelfer
dieses Betrugs vollkommen offenbart und bewiesen. Wie aufrichtig ein-
zelne Personen unter den Sozialrevolutionären und Menschewiki auch
sein mögen, ihre grundlegenden politischen Ideen - daß es möglich sei,
ohne Diktatur des Proletariats und ohne Sieg des Sozialismus mit dem
imperialistischen Krieg Schluß zu machen und einen »Frieden ohne An-
nexionen und Kontributionen“ zu erlangen, daß die entschädigungslose
Überführung des Grund und Bodens in die Hände des Volkes sowie die
„Kontrolle“ über die Produktion im Interesse des Volkes ohne gerade
diese Bedingung möglich sei -, diese grundlegenden politischen (und
natürlich auch ökonomischen) Ideen der Sozialrevolutionäre und Men-
schewiki sind objektiv gesehen eben kleinbürgerlicher Selbstbetrug oder,
was dasselbe ist. Betrug der Bourgeoisie an den Massen (an der »Mehr-
heit“).
Das ist unsere erste und wichtigste „Korrektur“ zur Frage über die
Mehrheit, wie sie von den kleinbürgerlichen Demokraten, den Sozia-
listen vom Schlage eines Louis Blanc, den Sozialrevolutionären und
200
W. I. Lenin
Menschewiki, gestellt wird. Was nutzt in der Tat die „Mehrheit“, wenn
die Mehrheit an sich nur ein formales Moment ist und diese Mehrheit
materiell, in Wirklichkeit, eine Mehrheit von Parteien ist, die den Betrug
der Bourgeoisie an der Mehrheit des Volkes in die Tat umsetzen?
Natürlich - und hier kommen wir zur zweiten „Korrektur“, zum zwei-
ten obenerwähnten grundlegenden Umstand - natürlich kann man diesen
Betrug erst richtig begreifen, wenn man sich über seine Klassenwurzeln
und seine Klassenbedeutung im klaren ist. Es ist dies kein persönlicher
Betrug, keine „Gaunerei“ (grob ausgedrückt), es ist eine trügerische Idee,
die sich aus der ökonomischen Lage der Klasse ergibt. Der Kleinbürger
befindet sich in einer solchen ökonomischen Lage, seine Lebensbedingun-
gen sind derart, daß er nicht umhin kann, sich selbst zu täuschen, es zieht
ihn unwillkürlich und unvermeidlich bald zur Bourgeoisie und bald zum
Proletariat. Eine selbständige „Linie“ kann er ökonomisch gesehen
nicht haben.
Seine Vergangenheit zieht ihn zur Bourgeoisie, seine Zukunft zum
Proletariat. Sein Urteil zieht ihn zum Proletariat, sein Vorurteil (nach
dem bekannten Ausspruch von Marx) zur Bourgeoisie. Damit die Mehr-
heit des Volkes die wirkliche Mehrheit bei der Lenkung des Staates wer-
den, wirklich die Interessen der Mehrheit wahrnehmen, ihre Rechte
wirklich schützen kann usw., dazu ist eine bestimmte klassenmäßige Vor-
aussetzung erforderlich. Diese Voraussetzung ist: Anschluß der Mehrheit
des Kleinbürgertums, wenigstens im entscheidenden Augenblick und an
der entscheidenden Stelle, an das revolutionäre Proletariat.
Andernfalls ist die Mehrheit eine Fiktion, die sich eine gewisse Zeit
lang halten, glänzen, funkeln, lärmen und Lorbeeren ernten kann, die
aber dennoch mit absoluter Unvermeidlichkeit zum Bankrott verurteilt
ist. Gerade von dieser Art ist übrigens der Bankrott der Mehrheit, über
welche die Sozialrevolutionäre und Menschewiki verfügten, wie er in der
russischen Revolution im Juli 1917 zutage getreten ist.
Weiter. Die Revolution unterscheidet sich eben dadurch von der „üb-
lichen“ Lage der Dinge im Staat, daß die Streitfragen des Staatslebens
unmittelbar durch den Kampf der Klassen und den Kampf der Massen
bis zur bewaffneten Auseinandersetzung entschieden werden. Anders
kann es nicht sein, sobald die Massen frei und bewaffnet sind. Aus die-
ser grundlegenden Tatsache ergibt sich, daß es in einer revolutionären
Ober V erfassungsülusionen
201
Zeit nicht genügt, den „Willen der Mehrheit“ kundzutun - nein, man
muß sich auch im entscheidenden Moment an der entscheidenden Stelle
als der Stärkere erweisen, man muß siegen. Seit dem deutschen „Bauern-
krieg“ im Mittelalter sehen wir in allen großen revolutionären Bewegun-
gen und Epochen bis 1848 und 1871, bis 1905 zahllose Beispiele dafür,
wie eine besser organisierte, zielbewußtere und besser bewaffnete Min-
derheit der Mehrheit ihren Willen aufzwang und diese besiegte.
Friedrich Engels hat die Lehre aus den Erfahrungen, die bis zu einem
gewissen Grade den Bauernaufstand des 16. Jahrhunderts mit der Revo-
lution von 1848 in Deutschland verbindet, besonders unterstrichen, näm-
lich: Zersplitterung der Aktionen, fehlende Zentralisation bei den unter-
drückten Massen, hervorgerufen durch ihre kleinbürgerliche Lebens-
lage.® Wenn wir nun von dieser Seite aus an die Sache herangehen,
gelangen wir zu demselben Schluß: Die einfache Mehrheit der klein-
bürgerlichen Massen entscheidet noch gar nichts und kann gar nichts
entscheiden, denn Organisiertheit, politische Bewußtheit der Aktio-
nen und deren (für den Sieg notwendige) Zentralisierung - all das
vermag den Millionen zersplitterter ländlicher Kleinbesitzer nur die
Führung entweder durch die Bourgeoisie oder durch das Proletariat zu
geben.
In letzter Instanz werden bekanntlich die Fragen des gesellschaftlichen
Lebens durch den Klassenkampf in seiner heftigsten, schärfsten Form,
nämlich in der Form des Bürgerkriegs entschieden. In diesem Kriege aber,
wie in jedem anderen Kriege, entscheidet - auch das ist eine bekannte
und prinzipiell von niemand bestrittene Tatsache - die Ökonomik. Es ist
äußerst charakteristisch und bezeichnend, daß weder die Sozialrevolutio-
näre noch die Menschewiki, die dies „im Prinzip“ nicht leugnen und sich
über den kapitalistischen Charakter des heutigen Rußlands sehr wohl im
klaren sind, den Mut haben, der Wahrheit nüchtern ins Auge zu sehen.
Sie haben Angst, die Wahrheit anzuerkennen, daß jedes kapitalistische
Land, Rußland einbegriffen, drei grundlegende, drei Hauptkräfte auf-
weist: Bourgeoisie, Kleinbürgertum und Proletariat. Von der ersten und
dritten Kraft sprechen alle, alle erkennen sie an. Die zweite - das heißt
zahlenmäßig gerade die Mehrheit! - will man weder vom ökonomischen
noch vom politischen noch vom militärischen Standpunkt aus nüchtern
202
Vf. 1. Lernt
Sie können die Wahrheit nidit vertragen - darauf läuft die Furcht
der Sozialrevolutionäre und Menschewiki vor der Selbsterkenntnis hin-
aus.
III
Als wir diesen Aufsatz begannen, war das Verbot der „Prawda“ nur
eine „zufällige", von der Staatsmacht noch nicht legalisierte Tatsache.
Jetzt, nach dem 16. Juü, hat diese Staatsmacht die „Prawda“ in aller Form
verboten.
Betrachtet man dieses Verbot historisch, als Ganzes, im Gesamtpro-
zeß der Vorbereitung und Durchführung dieser Maßnahme, so wirft es
ein äußerst grelles Licht auf das „Wesen der Verfassung“ in Rußland und
auf die Gefährlichkeit von Verfassungsillusionen.
Bekanntlich fordert die Kadettenpartei, an der Spitze Miljukow und
die Zeitung „Retsch“, schon seit April Repressalien gegen die Bolschewiki.
In den verschiedensten Formen, von den „staatsmännischen“ Artikeln
der „Retsch" bis zu den wiederholten Ausrufen Miljukows „Verhaftet
Sie!“ (Lenin und die anderen Bolschewiki), bildete diese Forderung nach
Repressalien einen der wichtigsten, wenn nicht den wichtigsten Teil des
politischen Programms der Kadetten in der Revolution.
Lange vor der von Alexinski und Co. im Juni und Juli ausgeheckten,
erdichteten, infam verleumderischen Beschuldigung der Spionage zugun-
sten der Deutschen oder der Annahme deutscher Gelder, lange vor der
ebenso verleumderischen, in Widerspruch zu den allgemein bekannten
Tatsachen und veröffentlichten Dokumenten stehenden Beschuldigung,
einen „bewaffneten Aufstand“ oder einen „Aufruhr“ angestiftet zu
haben - lange vor alledem forderte die Kadettenpartei systematisch und
beharrlich, unausgesetzt Repressalien gegen die Bolschewiki. Wenn die-
ser Forderung jetzt Genüge getan wurde, was soll man da von der Ehr-
lichkeit oder der Auffassungsgabe jener Leute halten, die den wirklichen
klassen- und parteimäßigen Ursprung dieser Forderung vergessen oder
so tun, als ob sie ihn vergessen hätten? Wie soll man da nicht von gröb-
ster Fälschung oder von einer in der Politik unglaublichen Stupidität spre-
chen, wenn sich jetzt die Sozialrevolutionäre und Menschewiki bemühen,
die Sache so daizustellen, als glaubten sie an einen „zufälligen“ oder
„einmaligen“, am 4. Juli eingetretenen „Anlaß“ zu Repressalien gegen
die Bolschewiki? Die Entstellung unbestreitbarer geschichtlicher Wahr-
heiten muß doch wirklich ihre Grenzen haben!
Es genügt, die Bewegung vom 20. und 21. April mit der Bewegung vom
3. und 4. Juli zu vergleichen, um sich sofort von ihrem gleichartigen
Charakter zu überzeugen: spontaner Ausbruch der Unzufriedenheit, der
Ungeduld und Empörung der Massen, provokatorische Schüsse von
rechts. Tote auf dem Newski-Prospekt, verleumderisches Gezeter der
Bourgeoisie und insbesondere der Kadetten, daß angeblich „die Lenin-
leute auf dem Newski-Prospekt geschossen haben“, äußerste Erbitterung
und Verschärfung des Kampfes zwischen der proletarischen Masse und
der Bourgeoisie, völlige Ratlosigkeit der kleinbürgerlichen Parteien, der
Sozialrevolutionäre und Menschewiki, Schwankungen von ungeheurem
Ausmaß in ihrer Politik und in der Frage der Staatsmacht überhaupt -
all diese objektiven Tatsachen charakterisieren beide Bewegungen. Und
der 9. und 10. sowie der 18. Juni zeigen uns in anderer Form genau das-
selbe Klassenbild.
Der Gang der Ereignisse ist sonnenklar: immer größeres Anwachsen
der Unzufriedenheit, der Ungeduld und Empörung der Massen, immer
mehr verschärft sich der Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie,
besonders um den Einfluß auf die kleinbürgerlichen Massen ; im Zu-
sammenhang damit zwei höchst bedeutsame historische Ereignisse, die die
Abhängigkeit der Sozialrevolutionäre und Menschewiki von den konter-
revolutionären Kadetten vorbereitet haben. Diese Ereignisse sind: die
Koalitionsregierung vom 6. Mai, in der sich die Sozialrevolutionäre und
Menschewiki als Lakaien der Bourgeoisie erwiesen und sich immer mehr
und mehr in Abmachungen und Vereinbarungen mit ihr, in tausend „Ge-
fälligkeiten“ ihr gegenüber verstrickten und sich darauf einließen, die
notwendigsten revolutionären Maßnahmen zu verschleppen, und dann
die Offensive an der Front. Die Offensive bedeutete unvermeidlich Wie-
deraufnahme des imperialistischen Krieges, ungeheure Steigerung des
Einflusses, des Gewichts und der Rolle der imperialistischen Bourgeoisie,
weiteste Verbreitung des Chauvinismus unter den Massen und schließ-
lich, last but not least (als Letztes, aber nicht Geringstes), die Übergabe
der Macht, erst der militärischen, dann aber auch der Staatsmacht über-
haupt, an die konterrevolutionären Kommandospitzen der Armee.
204
W. I. Lenin
Das ist der Verlauf der geschichtlichen Ereignisse, der die Klassen-
gegensätze vom 20. und 21. April bis zum 3. und 4. Juli vertiefte und
verschärfte und es der konterrevolutionären Bourgeoisie ermöglichte,
nach dem 4. Juli das zu verwirklichen, was sich bereits am 20. und
21. April mit vollster Deutlichkeit als ihr Programm und ihre Taktik, als
ihr nächstes Ziel und ihre „sauberen“ Mittel, die zum Ziele führen soll-
ten, abgezeichnet hatte.
Nichts ist vom historischen Standpunkt inhaltsloser, nichts theoretisch
kläglicher und praktisch lächerlicher als das spießbürgerliche Gejammer
wegen des 4. Juli (in das übrigens auch L. Martow einstimmt), die Bol-
schewiki hätten es „zuwege gebracht“, sich selbst eine Niederlage beizu-
bringen, ihr „Abenteurertum“ hätte diese Niederlage verursacht, und so
weiter und so fort. Dieses ganze Gejammer, all diese Tiraden, man
„hätte nicht“ teilnehmen sollen (an dem Versuch, der überaus berech-
tigten Unzufriedenheit und Empörung der Massen einen „friedlichen
und organisierten“ Charakter zu verleihen!!), laufen entweder auf Rene-
gatentum hinaus, wenn sie von Bolschewiki stammen, oder sie sind die
für den Kleinbürger übliche Äußerung seiner üblichen Ängstlichkeit und
Verwirrung. In Wirklichkeit ist die Bewegung vom 3. und 4. Juli aus der
Bewegung vom 20. und 21. April und der darauffolgenden Zeit mit der-
selben Zwangsläufigkeit hervorgegangen, mit welcher der Sommer auf
den Frühling folgt. Es war unbedingte Pflicht der proletarischen Partei,
bei den Massen zu bleiben und sich zu bemühen, den berechtigten Aktio-
nen dieser Massen einen möglichst friedlichen und organisierten Charak-
ter zu verleihen, nicht abseits zu stehen, nicht wie Pilatus die Hände in
Unschuld zu waschen aus dem pedantischen Grunde, daß die Masse nicht
bis zum letzten Mann organisiert sei und daß in ihrer Bewegung Exzesse
vorkämen (als ob es am 20. und 21. April keine Exzesse gegeben hätte! -
als ob es in der Geschichte auch nur eine ernsthafte Massenbewegung
ohne Exzesse gegeben hätte!).
Die Niederlage der Bolschewiki nach dem 4. Juli ergab sich mit histo-
rischer Zwangsläufigkeit aus dem gesamten vorhergehenden Verlauf der
Ereignisse gerade deshalb, weil die kleinbürgerliche Masse und ihre Füh-
rer, die Sozialrevolutionäre und Menschewiki, am 20. und 21. April noch
nicht durch die Offensive gebunden waren, noch nicht durch Abmachun-
gen mit der Bourgeoisie in die „Koalitionsregierung“ verstrickt waren;
Über V erfassungsillusionen
doch bis zum 4. Juli hatten sie sich bereits so gebunden und verstrickt,
daß sie zur Mitarbeit (an den Repressalien, den Verleumdungen, dem
Henkertum) mit den konterrevolutionären Kadetten absinken mußten.
Die Sozialrevolutionäre und Menschewiki sind am 4. Juli endgültig in
der konterrevolutionären Mistgrube gelandet, weil sie im Mai und Juni
unaufhaltsam dieser Mistgrube zusteuerten, in der Koalitionsregierung
und durch die Billigung der Politik der Offensive.
Wir sind scheinbar von unserem Thema etwas abgeschweift, nämlich
von der Frage des Verbots der „Prawda" zur Frage der historischen Ein-
schätzung des 4. Juli. Aber das scheint nur so, denn das eine läßt sich
ohne das andere nicht begreifen. Wir sahen, daß das Verbot der
„Prawda“, die Verhaftungen und sonstigen Verfolgungen der Bolsche-
wiki, wenn man das Wesen der Sache und den Zusammenhang der Er-
eignisse ins Auge faßt, nichts anderes darstellen als die Durchführung
des alten Programms der Konterrevolution, insbesondere der Kadetten.
Es ist äußerst lehrreich, jetzt zu untersuchen, toer dieses Programm
durchgeführt hat und mit welchen Mitteln es durchgeführt wurde.
Sehen wir uns die Tatsachen an. Am 2. und 3. Juli wächst die Bewe-
gung an, in den Massen kocht es vor Empörung über die Untätigkeit der
Regierung, über die Teuerung, die Zerrüttung u»d die Offensive. Die
Kadetten treten aus der Regierung aus, spielen gleichsam „Schlagdame“,
stellen den Sozialrevolutionären und Menschewiki auf diese Art ein Ulti-
matum und überlassen es ihnen, die an die Macht gefesselt sind, aber
keine Macht haben, für die Niederlage und auch für die Empörung der
Massen die Zeche zu zahlen.
Die Bolschewiki suchen am 2. und 3. Juli die Massen von einer Aktion
zurückzuhalten. Das hat sogar ein Zeuge aus dem „Delo Naroda“
zugegeben, der berichtete, was sich am 2. Juli im Grenadierregiment zu-
getragen hatte. Am Abend des 3. Juli reißt die Bewegung alle Dämme
ein, und die Bolschewiki verfassen einen Aufruf über die Notwendigkeit,
der Bewegung einen „friedlichen und organisierten“ Charakter zu ver-
leihen. Am 4. Juli vermehren provokatorische Schüsse von rechts die
Zahl der Opfer der Schießerei auf beiden Seiten; es muß hervorgehoben
werden, daß das Versprechen des Exekutivkomitees, die Ereignisse zu
untersuchen, zweimal täglich Bulletins herauszugeben usw. usf., ein leeres
Versprechen geblieben ist! Rein gar nichts haben die Sozialrevolutionäre
206
W.I. Lenin
und Menschewiki getan, nicht einmal eine vollständige Liste der
Toten auf beiden Seiten haben sie veröffentlicht! !
Am 4. Juli nachts verfassen die Bolschewiki einen Aufruf über den
Abbruch der Demonstrationen, der in der gleichen Nacht in der „P'rawda“
gedruckt wird. Aber in derselben Nacht beginnt erstens der Einzug kon-
terrevolutionärer Truppen in Petrograd (die offenbar von den Sozial-
revolutionären und Menschewiki, von deren Sowjets - oder mit ihrer
Zustimmung - herbeigerufen wurden, wobei natürlich über diesen „heik-
len“ Punkt bis heute, wo nicht der geringste Grund mehr für eine Ge-
heimhaltung vorhanden ist, tiefstes und strengstes Stillschweigen gewahrt
wird!). Zweitens beginnen in derselben Nacht Pogrome gegen die Bol-
schewiki durch Abteilungen von Offiziersschülern u. dgl. m., die offen-
sichtlich im Auftrag des Militärbefehlshabers Polowzew und des Gene-
ralstabs vorgehen. In der Nacht vom 4. zum 5. Juli wird die Redaktion
der „Prawda“, am 5. und 6. Juli ihre Druckerei „Trud“ [Die Arbeit]
demoliert, am hellichten Tage wird der Arbeiter Woinow ermordet, weil
er den „Listok ,Prawdy‘“ aus der Druckerei herausbrachte, Haussuchun-
gen und Verhaftungen von Bolschewiki werden vorgenommen, revolu-
tionäre Regimenter entwaffnet.
Wer veranlaßte das alles? Nicht die Regierung und nicht der Sowjet,
sondern die um den Generalstab konzentrierte konterrevolutionäre Mili-
tärclique, die im Namen der „Spionageabwehr“ handelt und das Mach-
werk Perewersews und Alexinskis in Umlauf gesetzt hat, um die „Wut“
der Truppen zu „entfachen" und so weiter.
Die Regierung ist nicht da. Die Sowjets sind nicht da; sie zittern um
ihr eigenes Schicksal, sie erhalten eine Reihe von Mitteilungen, daß die
Kosaken kommen und sie auseinanderjagen könnten. Die Schwarzhun-
derterpresse und die Kadettenpresse, die gegen die Bolschewiki hetzen,
beginnen jetzt die Hetze gegen die Sowjets.
Die Sozialrevolutionäre und Menschewiki haben sich durch ihre ganze
Politik an Händen und Füßen gebunden. In dieser Lage haben sie die
konterrevolutionären Truppen nach Petrograd gerufen (oder duldeten,
daß man sie rief). Dies aber hat sie noch mehr gebunden. Sie sind bis
auf den Grund der widerlichen konterrevolutionären Mistgrube abge-
sunken. Sie lösen feige ihre eigene, zur Untersuchung des „Falles“ der
Bolschewiki eingesetzte Kommission auf. Sie liefern in niederträchtiger
Weise die Bolschewiki der Konterrevolution ans Messer. Sie beteiligen
sich unterwürfig an der Demonstration zur Beisetzung der getöteten Ko-
saken und küssen so den Konterrevolutionären die Hand.
Sie sind gebunden. Sie liegen auf dem Grund der Mistgrube.
Sie winden sich hin und her, sie stellen Kerenski ihre Ministersessel
zur Verfügung, sie machen einen Gang nach Canossa 64 zu den Kadetten,
sie veranstalten einen „Semski Sobor“ oder eine „Krönung“ der konter-
revolutionären Regierung in Moskau. 65 Kerenski entläßt Polowzew.
Sie winden sich hin und her und dabei bleibt es, ohne daß am Wesen
der Sadie auch nur das geringste geändert wird. Kerenski entläßt zwar
Polowzew, gibt aber zugleich den Maßnahmen, der Politik Polowzews
Form und Gestalt, legalisiert sie, verbietet die „Prawda“, führt die
Todesstrafe für Soldaten ein, verbietet Meetings an der Front und setzt
die Verhaftungen von Bolschewiki (sogar Alexandra Kollontai wird ver-
haftet!) nadh dem Programm von Alexinski fort.
Das „Wesen der Verfassung“ in Rußland tritt mit verblüffender Klar-
heit hervor: durch die Offensive an der Front und die Koalition mit den
Kadetten im Hinterland werden die Sozialrevolutionäre und Mensche-
wiki in die Mistgrube der Konterrevolution geschleudert. In Wirk-
lichkeit geht die Staatsmacht in die Hände der Konterrevolution, in
die Hände der Militärclique über. Kerenski und die Regierung Zereteli-
Tschemow dienen ihr nur als Kulisse, sie sind gezwungen, die Maßnah-
men. die Schritte, die Politik der Konterrevolution nachträglich zu lega-
lisieren.
Der Kuhhandel Kerenskis. Zeretelis und Tschemows mit den Kadet-
ten ist von zweitrangiger, wenn nicht zehntrangiger Bedeutung. Ob in
diesem Kuhhandel die Kadetten siegen werden oder nicht, ob sich Zere-
teli und Tschemow eine Weile noch „allein“ halten werden oder nicht,
das Wesen der Sache wird dadurch nicht geändert, die Schwenkung der
Sozialrevolutionäre und Menschewiki zur Konterrevolution (eine Schwen-
kung, die durch ihre ganze Politik seit dem 6. Mai zwangsläufig eintreten
mußte) bleibt die wichtigste, die grundlegende und entscheidende Tat-
sache.
Der Zyklus der Entwicklung der Parteien hat sich geschlossen. Die
Sozialrevolutionäre und Menschewiki sanken von Stufe zu Stufe, vom
„Vertrauen“ zu Kerenski am 28. Februar bis zum 6. Mai, der sie an die
W. I. Lenin
Konterrevolution kettete, bis zum 5. Juli, als sie vollends zur Konter-
revolution abglitten.
Eine neue Phase beginnt. Der Sieg der Konterrevolution löst bei den
Massen Enttäuschung über die Parteien der Sozialrevolutionäre und Men-
schewiki aus und madit den Weg frei für den Übergang der Massen zur
Politik der Unterstützung des revolutionären Proletariats.
Geschrieben am 26. Juli (8. August) 1917.
Veröffentlicht am 4. und 5. August 1917 Nach dem Manuskript,
im „ Rabotsdü i Soldat ‘
(Arbeiter und Soldat) Nr. 11 und 12.
EINE ANTWORT
Die Zeitungen vom 22. Juli brachten eine Mitteilung „vom Staats-
anwalt des Petrograder Kammergerichts“ über die Untersuchung der
Ereignisse vom 3. bis 5. Juli und die Anklageerhebung gegen mich und
eine Reihe anderer Bolschewiki wegen Hochverrats und der Organisie-
rung eines bewaffneten Aufstands.
Die Regierung war gezwungen, diese Mitteilung zu veröffentlichen,
weil diese ganze niederträchtige Angelegenheit, die offensichtlich - offen-
sichtlich für jeden, der denken kann - unter Mitwirkung des Verleum-
ders Alexinski in Szene gesetzt worden ist, um den lang gehegten Wün-
schen und Forderungen der konterrevolutionären Kadettenpartei nachzu-
kommen, einen schon allzu großen Skandal darstellt.
Doch durch die Veröffentlichung dieser Mitteilung stellt sich die Re-
gierung Zereteli und Co. nur noch mehr bloß, da die Plumpheit der Fäl-
schung jetzt ganz besonders ins Auge sticht.
Ich habe wegen einer Erkrankung Petrograd Donnerstag, den 29. Juni,
verlassen und bin erst Dienstag, den 4. Juli, morgens zurückgekehrt.
Selbstverständlich übernehme ich jedoch die volle und unbedingte Ver-
antwortung für sämtliche Schritte und Maßnahmen des Zentralkomitees
unserer Partei wie auch unserer gesamten Partei überhaupt. Auf meine
Abwesenheit hinzuweisen war notwendig, um verständlich zu machen,
weshalb ich über manche Einzelheiten nicht orientiert bin und mich in
der Hauptsache auf Dokumente berufe, die in der Presse erschienen sind.
Es ist klar, daß vor allem gerade Dokumente dieser Art, besonders
210
W.I. Lettin
wenn sie in der den Bolschewiki feindlich gesinnten Presse erschienen
sind, vom Staatsanwalt sorgfältig gesammelt, zusammengestellt und ana-
lysiert werden müßten. Aber der „republikanische“ Staatsanwalt, der die
Politik des „sozialistischen“ Ministers Zereteli durchführt, hielt es nicht
für nötig, gerade diese seine wichtigste Pflicht zu erfüllen !
Kurz nach dem 4. Juli gab die ministerielle Zeitung „Delo Naroda“
die Tatsache zu, daß die Bolschewiki am 2. Juli im Grenadierregiment
gesprochen und gegen die Demonstration agitiert haben.
War der Staatsanwalt berechtigt, dieses Dokument zu verschweigen?
Durfte er die Aussage eines solchen Zeugen außer acht lassen?
Stellt doch diese Aussage die äußerst wichtige Tatsache fest, daß sich
die Bewegung ganz spontan entwickelt hatte und daß die Bemühungen
der Bolschewiki dahin gingen, die Demonstration nicht zu beschleunigen,
sondern sie hinauszuschieben.
Weiter. Dasselbe Blatt veröffentlichte ein noch wichtigeres Dokument,
nämlich den Text des vom Zentralkomitee unserer Partei Unterzeichne-
ten, am 3. Juli nachts verfaßten Aufrufs. Dieser Aufruf wurde verfaßt
und in Druck gegeben, nadidem die Bewegung bereits trotz unserer Be-
mühungen, sie aufzuhalten oder, richtiger gesagt, zu regulieren, alle
Dämme durchbrochen hatte, nachdem die Demonstration bereits zur
Tatsache geworden war.
Die ganze grenzenlose Niedertracht und Gemeinheit, die ganze Hin-
terhältigkeit des Zeretelischen Staatsanwalts zeigt sich gerade darin, daß
er die Frage umgeht, wann die Demonstration begonnen hat, an welchem
Tage und zu welcher Stunde, ob vor oder nach dem bolschewistischen
Aufruf.
In diesem Aufruf aber wird davon gesprochen, daß man der Bewegung
einen friedlichen, organisierten Charakter verleihen müsse!
Kann man sich etwas Lächerlicheres vorstellen als eine Organisation
der „Organisierung eines bewaffneten Aufstands“ zu beschuldigen, die
in der Nacht zum 4., d. h. in der Nacht vor dem entscheidenden Tag,
einen Aufruf zu einer „friedlichen und organisierten Demonstration“
erlassen hat? Und eine weitere Frage: Wodurch unterscheidet sich der
„republikanische“ Staatsanwalt des „sozialistischen“ Ministers Zereteli,
der Staatsanwalt, der diesen Aufruf völlig verschweigt, von den Staats-
anwälten im Dreyfus- oder im Beilis-Prozeß?
Eine Antwort
211
Weiter. Der Staatsanwalt verschweigt, daß am 4. Juli nachts das Zen-
tralkomitee unserer Partei einen Aufruf verfaßte, die Demonstration ab-
zubrechen, und diesen Aufruf in der „Prawda“ drucken ließ, die gerade
in dieser Nacht von einer Abteilung konterrevolutionärer Truppen demo-
liert wurde.
Weiter. Der Staatsanwalt verschweigt, daß Trotzki und Sinowjew
in mehreren Ansprachen die Arbeiter und Soldaten, die am 4. Juli zum
Taurischen Palast marschiert waren, aufforderten auseinanderzugehen,
nachdem diese bereits ihren Willen demonstriert hatten.
Diese Ansprachen haben Hunderte und Tausende von Menschen mit
angehört. Möge jeder ehrliche Bürger, der nicht will, daß sein Land durch
die Inszenierung von „Beilis-Prozessen“ geschändet wird, dafür sorgen,
daß die Zuhörer bei diesen Ansprachen unabhängig von ihrer Partei-
zugehörigkeit dem Staatsanwalt schriftliche Erklärungen zugehen lassen
(und eine Abschrift davon zurückbehalten), Erklärungen darüber, ob
Trotzki und Sinowjew in ihren Reden die Demonstranten zum Ausein-
andergehen aufgefordert haben. Ein anständiger Staatsanwalt hätte sich
selbst mit solch einem Ersuchen an die Bevölkerung gewandt. Doch wo
sollen denn in einer Regierung der Kerenski, Jefremow, Zereteli und Co.
anständige Staatsanwälte herkommen? Sollten nicht endlich die russischen
Bürger selbst dafür sorgen, daß „Beilis-Prozesse“ in ihrem Lande un-
möglich werden?
Übrigens, ich persönlich hielt am 4. Juli, da ich krank war, nur eine
einzige Ansprache vom Balkon des Hauses der Krzesinska aus. Der
Staatsanwalt erwähnt diese Rede und versucht, ihren Inhalt wiederzu-
geben, aber nicht nur, daß er keine Zeugen nennt, er verschweigt sogar
die in der Presse veröffentlichten Zeugenaussagen! Ich habe bei weitem
nicht die Möglichkeit gehabt, alle Zeitungen durchzusehen, aber immer-
hin fand ich in der Presse zwei Darstellungen: 1. im bolschewistischen
„Proletarskoje Delo“ (Kronstadt) und 2. in der menschewistischen, mi-
nisteriellen „Rabotschaja Gaseta“. Weshalb wird der Inhalt meiner Rede
nicht an Hand dieser Dokumente und mit Hilfe einer öffentlichen Auf-
forderung an die Bevölkerung nachgeprüft?
Der Inhalt meiner Rede war folgender: 1. Entschuldigung, daß ich
mich wegen Krankheit auf wenige Worte beschränken muß ; 2. Gruß an
die revolutionären Kronstädter im Namen der Petrograder Arbeiter;
212
W.I. Lenin
3. Ausdruck der Gewißheit, daß unsere Losung „Alle Macht den So-
wjets!“ siegen muß und siegen wird, trotz der Zickzacklinie des geschicht-
lichen Weges ; 4. Aufforderung, „diszipliniert, standhaft und wachsam zu
sein“.
Ich verweile bei diesen Einzelheiten, um das geringe, wirkliche Tat-
sachenmaterial nicht zu übergehen, das der Staatsanwalt so oberflächlich,
nachlässig und unachtsam gestreift, doch nur eben gestreift hat.
Aber natürlich sind die Einzelheiten nicht die Hauptsache, sondern das
Gesamtbild, die allgemeine Bedeutung des 4. Juli. Der Staatsanwalt hat
sich vollkommen unfähig gezeigt, darüber auch nur nachzudenken.
Über diese Frage haben wir vor allem eine äußerst wertvolle Aussage
in der Presse von einem geschworenen Feind des Bolschewismus, einem
Korrespondenten der ministeriellen „Rabotschaja Gaseta“, der einen gan-
zen Hagel von Beschimpfungen und Gehässigkeiten auf uns niederpras-
seln läßt. Dieser Korrespondent veröffentlichte kurz nach dem 4. Juli
seine persönlichen Beobachtungen. Die von ihm genau festgestellten Tat-
sachen ergeben, daß die Beobachtungen und Erlebnisse des Autors in
zwei scharf voneinander getrennte Teile zerfallen, von denen der Autor
den zweiten Teil dem ersten mit der Bemerkung gegenüberstellt, daß die
Sache für ihn „eine günstige Wendung“ genommen habe.
Der erste Teil der Erlebnisse besteht darin, daß der Autor versucht,
die Minister vor der erregten Menge zu rechtfertigen. Er muß deshalb
Beschimpfungen und Tätlichkeiten über sich ergehen lassen und wird zu
guter Letzt festgenommen. Er hört Losungen und Rufe, die von höchster
Erregung zeugen; ganz besonders prägte sich seinem Gedächtnis der Ruf
ein: „Tod Kerenski I“ (weil er zur Offensive schritt, „40000 Menschen
hinschlachten ließ“ usw.).
Der zweite Teil der Erlebnisse des Autors, die der Sache, wie er sich
ausdrückt, eine „günstige“ Wendung gaben, beginnt mit dem Augen-
blick, als ihn die wütende Menge „zur Aburteilung“ in das Haus der
Krzesinska führt. Dort wird er unverzüglich in Freiheit gesetzt.
Das sind die Tatsachen, die den Verfasser veranlassen, die Bolschewiki
mit endlosen Beschimpfungen zu überschütten. Es ist ganz natürlich, daß
ein politischer Gegner schimpft, zumal wenn dieser Gegner ein Mensche-
wik ist, der spürt, daß die vom Kapital unterdrückten und dem imperia-
listischen Krieg ausgelieferten Massen nicht zu ihm, sondern gegen ihn
Eine Antwort
213
stehen. Doch das Schimpfen ändert nichts an den Tatsachen, die auch
in der Darstellung des wütendsten Feindes der Bolschewiki bezeugen,
daß die enegten Massen sich bis zur Losung „Tod Kerenski !“ hinreißen
ließen, während die bolschewistische Organisation der Bewegung im gro-
ßen und ganzen die Losung „Alle Macht den Sowjets!“ gab, daß einzig
und allein die bolschewistische Organisation bei den Massen moralische
Autorität besaß und sie von Gewalttätigkeiten abhielt.
Das sind die Tatsachen. Mögen die freiwilligen und unfreiwilligen . La-
kaien der Bourgeoisie darüber zetern und schimpfen und die Bolschewiki
beschuldigen, daß sie „dem Elementaren Vorschub leisten“ usw. u. dgl. m.
Wir, die Vertreter der Partei des revolutionären Proletariats, antworten
darauf, daß unsere Partei stets zu den unterdrückten Massen stand und
stets zu ihnen stehen wird, wenn diese ihre tausendmal gerechte und
berechtigte Empörung über die Teuerung, über die Untätigkeit und
den Verrat der „sozialistischen“ Minister, über den imperialistischen
Krieg und seine Verlängerung zum Ausdruck bringen. Unsere Partei tat
ihre unbedingte Pflicht, als sie am 4. Juli mit den zu Recht empörten
Massen ging und sich bemühte, ihrer Bewegung, ihrer Demonstration
einen möglichst friedlichen und organisierten Charakter zu verleihen.
Denn am 4. Juli war ein friedlicher Übergang der Macht an die Sowjets
noch möglich, war eine friedliche Vorwärtsentwicklung der russischen
Revolution noch möglich.
Wie äußerst dumm das Märchen des Staatsanwalts von der „Organi-
sierung eines bewaffneten Aufstands“ ist, ersieht man aus folgendem:
Niemand wird bestreiten, daß am 4. Juli die überwältigende Mehrheit
der bewaffneten Soldaten und Matrosen, die sich auf den Straßen Petro-
grads befanden, zu unserer Partei hielt. Es wäre also für unsere Partei
ein leichtes gewesen, Hunderte von leitenden Personen ihrer Ämter zu
entheben und sie zu verhaften, Dutzende von Staats- und Regierungs-
gebäuden und -Institutionen usw. zu besetzen. Nichts dergleichen ge-
schah. Nur Leute, die so sehr in Verwirrung geraten sind, daß sie alle von
den konterrevolutionären Kadetten ausgestreuten Märchen nadiplappem,
vermögen nicht zu sehen, wie lachhaft und uns inni g die Behauptung ist,
am 3. oder 4. Juli sei „ein bewaffneter Aufstand organisiert“ worden.
Eine gerichtliche Untersuchung, die einer Untersuchung halbwegs ähn-
lich sähe, müßte vor allem fragen, wer mit der Schießerei begonnen hat.
214
WJ. Lenin
dann, wieviel Tote und Verwundete es auf der einen und wieviel es auf
der anderen Seite gab und unter welchen Umständen die einzelnen ge-
tötet oder verwundet wurden. Hätte die gerichtliche Untersuchung auch
nur einigermaßen Ähnlichkeit mit einer Untersuchung (und nicht mit
einem Hetzartikel in den Zeitungen der Dan, Alexinski usw.), so wäre
es die Pflicht der Untersuchungsrichter, eine öffentliche, dem Publikum
zugängliche Zeugenvernehmung über diese Fragen durchzuführen und
die Vemehmungsprotokolle sofort zu veröffentlichen.
So pflegten stets die englischen Untersuchungskommissionen zu ver-
fahren, als England ein freies Land war. So oder etwa so fühlte sich im
ersten Augenblick das Exekutivkomitee des Sowjets verpflichtet zu han-
deln, als die Angst vor den Kadetten sein Gewissen noch nicht gänzlich
getrübt hatte. Es ist bekannt, daß das Exekutivkomitee damals in der
Presse versprach, zweimal täglich Bulletins über die Tätigkeit seiner Un-
tersuchungskommission herauszugeben. Es ist auch bekannt, daß das
Exekutivkomitee (d. h. die Sozialrevolutionäre und Menschewiki) das
Volk betrogen hat, denn es hat sein gegebenes Versprechen nicht ge-
halten. Doch der Wortlaut dieses Versprechens wird in die Geschichte
eingehen als Eingeständnis unserer Feinde, als Eingeständnis dessen, was
jeder einigermaßen ehrliche Untersuchungsrichter hätte tun müssen.
Es ist jedenfalls lehrreich, festzustellen, daß eine der ersten bür ge r -
lichen, den Bolschewismus wütend hassenden Zeitungen, die einen
Bericht über die Schießerei am 4. Juli brachte, die Abendausgabe der
„Birshowka“ vom gleichen Tage war. Gerade aus dem Bericht dieser
Zeitung geht hervor, daß nicht die Demonstranten die Schießerei be-
gonnen hatten, sondern daß die ersten Schüsse gegen die Demonstran-
ten gerichtet waren!! Der „republikanische“ Staatsanwalt der „soziali-
stischen“ Regierung zog es selbstverständlich vor, diese Zeugenaussage der
„Birshowka“ zu verschweigen! ! Indessen entspricht diese Aussage der dem
Bolschewismus absolut feindlich gegenüberstehenden „Birshowka“ voll-
kommen dem Gesamtbild der Ereignisse, wie es unsere Partei sieht. Wäre
es ein bewaffneter Aufstand gewesen, dann hätten die Aufständischen
natürlich nicht auf Gegendemonstranten geschossen, sondern bestimmte
Kasernen, bestimmte Gebäude umzingelt, bestimmte Truppenteile ver-
nichtet usw. Umgekehrt, wenn es eine Demonstration gegen die Regie-
rung mit einer Gegendemonstration der Regierungsanhänger war, so ist
Eine Antwort
215
es ganz natürlich, daß die Konterrevolutionäre zuerst geschossen haben,
teils aus Wut gegen die gewaltige Masse der Demonstranten, teils zu
provokatorischen Zwecken, und es ist ebenso natürlich, daß die Demon-
stranten auf die Schüsse mit Schüssen antworteten.
Die Listen der Toten wurden, wenn auch wahrscheinlich nicht ganz
vollständig, dennoch von einigen Zeitungen (ich glaube, von der „Retsch“
und dem „Delo Naroda“) veröffentlicht. Die allererste Pflicht der Unter-
suchung wäre es, unverzüglich diese Listen zu prüfen, zu vervollständi-
gen und offiziell bekanntzugeben. Dies unterlassen heißt die Beweise
verheimlichen, daß die Konterrevolutionäre die Schießerei begonnen
hatten.
In der Tat, schon die flüchtige Durchsicht der veröffentlichten Listen
zeigt, daß die zwei hauptsächlichen und unverkennbaren Gruppen, die
Kosaken und die Matrosen, annähernd die gleiche Zahl an Toten auf-
weisen. Wäre dies möglich gewesen, wenn die 10000 bewaffneten Ma-
trosen, die am 4. Juli nach Petrograd gekommen waren und sich mit den
Arbeitern und Soldaten, besonders mit den Maschinengewehrschützen,
die über viele Maschinengewehre verfügten, vereinigt hatten, einen be-
waffneten Aufstand beabsichtigt hätten?
Es ist klar, daß dann die Zahl der Toten auf seiten der Kosaken und
der anderen Gegner des Aufstands zehnmal größer gewesen wäre, denn
niemand bestreitet, daß die Bolschewiki am 4. Juli unter den bewaffneten
Massen in den Straßen Petrograds ein gewaltiges Übergewicht hatten.
Dafür liegen zahlreiche, in der Presse erschienene Zeugenaussagen von
Gegnern unserer Partei vor, und eine einigermaßen ehrliche Unter-
suchung hätte zweifellos alle diese Aussagen gesammelt und publiziert.
Wenn die Zahl der Toten auf beiden Seiten annähernd gleich ist, so
spricht das dafür, daß eben die Konterrevolutionäre begonnen hatten, auf
die Demonstranten zu schießen, während diese die Schüsse nur erwider-
ten. Anders konnte es nicht zu einer gleichen Zahl von Toten kommen.
Schließlich ist es überaus wichtig, auf Grund der Pressenachrichten
folgendes hervorzuheben: es ist festgestellt worden, daß Kosaken am
4. Juli getötet worden sind, als es zu einer offenen Schießerei zwischen
Demonstranten und Gegendemonstranten kam. Solche Schießereien
kommen sogar in nichtrevolutionären Zeiten bei einer gewissen Erregung
der Bevölkerung vor; sie sind zum Beispiel in romanischen Ländern, be-
216
W.I. Lettin
sonders im Süden, gar nicht selten. Hingegen gab es bei den Bolschewiki
auch nach dem 4. Juli Tote, als es keinen Zusammenstoß zwischen
erregten Demonstranten und Gegendemonstranten gab, als folglich das
Umbringen eines Wehrlosen durch Bewaffnete schon geradezu ein Mord
war. So die Ermordung des Bolschewiks Woinow in der Schpalernaja-
straße am 6. Juli.
Was ist das nun für eine Untersuchung, die noch nicht einmal das in
der Presse erschienene Material über die Zahl der Toten auf beiden
Seiten, über den Zeitpunkt und die Begleitumstände jedes Blutvergießens
vollständig sammelt? Das ist keine Untersuchung, das ist eine Ver-
höhnung.
Selbstverständlich kann man von einer solchen „Untersuchung“ nicht
erwarten, daß sie auch nur den Versuch machen wird, den 4. Juli histo-
risch einzuschätzen. Eine solche Einschätzung ist aber für jeden unerläß-
lich. der als denkender Mensch an die Politik herangehen will.
Wer versucht, den 3. und 4. Juli historisch einzuschätzen, kann nicht
die völlige Gleichartigkeit dieser Bewegung mit der vom 20. und 21 . April
übersehen.
In beiden Fällen ein spontaner Ausbruch der Empörung bei den
Massen.
In beiden Fällen gehen die bewaffneten Massen auf die Straße.
In beiden Fällen eine Schießerei zwischen Demonstranten und Gegen-
demonstranten, mit einer gewissen (ungefähr gleichen) Zahl von Opfern
auf beiden Seiten.
In beiden Fällen tritt mit einem Schlag eine äußerste Verschärfung im
Kampfe der revolutionären Massen gegen die konterrevolutionären Ele-
mente, gegen die Bourgeoisie ein, und vorübergehend werden die dazwi-
schenstehenden, zum Paktieren geneigten Elemente der Mitte vom Kampf-
platz verdrängt.
In beiden Fällen findet eine regierungsfeindliche Demonstration von
besonderer Art statt (diese Besonderheiten wurden oben aufgezählt), ver-
bunden mit einer tiefgehenden und langwierigen Krise der Staatsmacht.
Der Unterschied zwischen beiden Bewegungen besteht darin, daß die
zweite viel heftiger war als die erste und daß die Parteien der Sozialrevo-
lutionäre und Menschewiki, die am 20. und 21. April noch neutral waren,
nun vollends (durch die Koalitionsregierung und durch die Politik der
Eine Antwort 217
Offensive) in die Abhängigkeit von den konterrevolutionären Kadetten
geraten sind und deshalb am 3. und 4. Juli auf der Seite der Konter-
revolution standen.
Die konterrevolutionäre Kadettenpartei log ebenso frech auch nach
dem 20. und 21. April, als sie schrie: „Auf dem Newski-Prospekt haben
die Leninleute geschossen“, und ebenso heuchlerisch verlangte sie eine
Untersuchung. Die Kadetten und ihre Freunde hatten damals die Mehr-
heit in der Regierung, die Untersuchung lag also völlig in ihrer Hand.
Sie wurde eingeleitet, dann aber fallengelassen, ohne daß etwas veröffent-
licht wurde:
Weshalb? Offenbar hatten die Tatsachen durchaus nicht das bestätigt,
was die Kadetten bestätigt wissen wollten. Mit anderen Worten: die
Untersuchung über den 20. und 21. April wurde „abgewürgt“, denn die
Tatsachen bestätigten, daß die Konterrevolutionäre, die Kadetten und
ihre Freunde, die Schießerei begonnen hatten. Das liegt klar auf der
Hand.
Genau dasselbe war offensichtlich am 3. und 4. Juli der Fall, und des-
halb ist die Fälschung des Herrn Staatsanwalts so grob und plump, der
den Zereteli und Co. zu Gefallen alle Grundsätze einer auch nur einiger-
maßen gewissenhaften Untersuchung verhöhnt.
Die Bewegung vom 3. und 4. Juli war der letzte Versuch, durch eine
Demonstration die Sowjets zur Übernahme der Macht zu bewegen. Von
diesem Augenblick an übergeben die Sowjets, d. h. die sie beherrschenden
Sozialrevolutionäre und Menschewiki, faktisch die Macht der Konter-
revolution, indem sie konterrevolutionäre Truppen nach Petrograd rufen,
die Arbeiter entwaffnen, die revolutionären Regimenter entwaffnen und
auflösen, indem sie billigen und dulden, daß Willkür und Gewalt gegen
die Bolschewiki angewandt, daß die Todesstrafe an der Front eingeführt
wird usw.
Jetzt ist die militärische und folglich auch die Staatsmacht faktisch be-
reits in die Hände der Konterrevolution übergegangen, die von den Ka-
detten repräsentiert und von den Sozialrevolutionären und Menschewiki
unterstützt wird. Jetzt ist eine friedliche Entwicklung der Revolution in
Rußland bereits nicht mehr möglich, und die Frage wird von der Ge-
schichte so gestellt: entweder vollständiger Sieg der Konterrevolution
oder eine neue Revolution.
218
W.I. Lenin
II
Die Beschuldigung der Spionage und der Beziehungen zu Deutschland
ist schon die reinste Beilis-Affäre, bei der man sich nicht lange aufzuhal-
ten braucht. Die „Untersuchung“ wiederholt hier einfach die Verleum-
dungen des berüchtigten Verleumders Alexinski, wobei sie die Tatsachen
besonders plump verdreht.
Es ist nicht wahr, daß Sinowjew und ich im Jahre 1914 in Österreich
verhaftet wurden. Verhaftet wurde nur ich.
Es ist nicht wahr, daß ich wegen meiner russischen Staatsangehörig-
keit verhaftet wurde. Ich wurde wegen Spionageverdachts verhaftet. Der
dortige Gendarm hielt agrarstatistische Diagramme in meinen Heften für
„Pläne“! Offenbar stand jener österreichische Gendarm ganz auf dem
Niveau eines Alexinski und der Gruppe „Jedinstwo“. Ich dürfte wohl
unter all denen, die wegen Internationalismus verfolgt werden, den Re-
kord geschlagen haben, denn beide kriegführenden Koalitionen ver-
folgten mich als Spion, in Österreich die Gendarmen, in Rußland die Ka-
detten und Alexinski und Co.
Es ist nicht wahr, daß bei meiner Befreiung aus dem österreichischen
Gefängnis Hanecki eine Rolle gespielt hat. Victor Adler spielte eine
Rolle dabei, er wies die österreichischen Behörden auf die Schändlichkeit
ihres Vorgehens hin. Die Polen spielten eine Rolle dabei, die sich schäm-
ten, daß auf polnischem Boden eine so schändliche Verhaftung eines rus-
sischen Revolutionärs möglich war.
Es ist eine infame Lüge, ich hätte Beziehungen zu Parvus unterhalten,
hätte Lager besucht usw. Nichts dergleichen ist geschehen, und es konnte
auch nicht geschehen. Gleich nach den ersten Nummern seiner Zeitschrift
„Die Glocke“ 66 wurde Parvus in unserer Zeitung „Sozial-Demokrat“ als
Renegat, als deutscher Plechanow bezeichnet.* Parvus ist genauso ein
Sozialchauvinist auf deutscher Seite wie Plechanow auf russischer. Als
revolutionäre Internationalisten hatten wir weder mit den deutschen noch
mit den russischen oder ukrainischen Sozialchauvinisten („Bund zur Be-
freiung der Ukraine“) irgend etwas gemein und konnten mit ihnen auch
nichts gemein haben.
Steinberg ist Mitglied des Emigrantenkomitees in Stockholm. Dort sah
»Siehe Werke, Bd. 21. S. 428/429. Die Red.
Eine Antwort
219
ich ihn zum erstenmal. Um den 20. April herum oder etwas später reiste
Steinberg nach Petrograd und bemühte sidi, soweit ich mich erinnere, um
eine Subvention für die Vereinigung der Emigranten. Das könnte der
Staatsanwalt sehr leicht nachprüfen, wenn er überhaupt etwas nachprü-
fen wollte.
Der Staatsanwalt operiert damit, daß Parvus mit Hanecki in Verbin-
dung stehe, und Hanecki mit Lenin! Das ist doch eine geradezu gauner-
hafte Methode, ist es doch allgemein bekannt, daß Hanecki mit Parvus
Geldgeschäfte tätigte, wir aber mit Hanecki in keinerlei geschäftlichen
Beziehungen standen.
Hanecki war als Kaufmann bei Parvus angestellt, bzw. sie trieben
gemeinsam Handel. Doch viele russische Emigranten, die sich selbst in
der Presse gemeldet haben, waren in den Unternehmen und Einrichtun-
gen von Parvus tätig.
Der Staatsanwalt operiert damit, daß die Handelskorrespondenz als
Deckmantel für Spionageverkehr dienen könne. Es wäre interessant,
gegen wieviel Mitglieder der Parteien der Kadetten, Menschewiki und
Sozialrevolutionäre man nach diesem ausgezeichneten Rezept wegen ihrer
Handelskorrespondenz Anklage erheben müßte!
Wenn der Staatsanwalt aber Telegramme von Hanecki an Frau Sumen-
son hat (diese Telegramme sind bereits veröffentlicht), wenn der Staats-
anwalt weiß, auf welcher Bank was für Summen zu welchem Zeitpunkt
Frau Sumenson besaß (der Staatsanwalt veröffentlicht ein paar Zahlen
dieser Art), warum zieht er dann nicht zwei bis drei Kontor- oder Han-
delsangestellte zur Untersuchung hinzu? Sie hätten ihm doch in zwei
Tagen einen vollständigen Auszug aus den Geschäfts- und Bank-
büchem angefertigt.
Der Charakter dieser „Beilis-Affäre“ tritt wohl durch nichts so an-
schaulich zutage, wie dadurch, daß der Staatsanwalt die Zahlen nur un-
vollständig anführt: Frau Sumenson hatte während eines halben Jahres
von ihrem Konto 750000 Rubel abgehoben, es verblieben ihr 180000
Rubel! ! Wenn man schon Zahlen veröffentlicht, warum dann nicht voll-
ständig: wann und von wem hat Frau Sumenson „während eines halben
Jahres“ Geld erhalten, und an wen zahlte sie? Was für Warenpartien
sind wann eingegangen?
Nichts wäre leichter gewesen, als solche vollständigen Zahlen zu er-
220
mittein. Das hätte man in zwei bis drei Tagen tun können und müssen 1
Das hätte den ganzen Komplex der Handelsgeschäfte von Hanecki und
Frau Sumenson aufgedeckt! Das hätte keinen Raum gelassen für dunkle
Anspielungen, mit denen der Staatsanwalt operiert!
Die schmutzigste und gemeinste Verleumdung von Alexinski wird
jetzt „von Staats wegen“ von Beamten des Ministeriums Zereteli und Co.
an den Mann gebracht - so tief sind die Sozialrevolutionäre und Men-
schewiki gesunken!
III
Es wäre natürlich die größte Naivität, die von der Regierung Zereteli,
Kerenski und Co. gegen die Bolschewik! eingeleiteten „Gerichtsverfah-
ren“ für wirkliche Gerichtsverfahren zu halten. Das wäre eine ganz und
gar unverzeihliche konstitutionelle Illusion.
Die Sozialrevolutionäre und Menschewiki, die am 6. Mai mit den
konterrevolutionären Kadetten eine Koalition eingingen und die Politik
der Offensive, d. h. der Wiederaufnahme und Verlängerung des imperia-
listischen Krieges akzeptierten, mußten unvermeidlich zu Gefangenen der
Kadetten werden.
Als Gefangene sind sie gezwungen, die schmutzigsten Affären der Ka-
detten, ihre gemeinsten verleumderischen Gaunereien mitzumachen.
Die „Affäre“ Tschemow wird schnell auch den Rückständigen die
Augen öffnen, d. h. die Richtigkeit unserer Ansicht bestätigen. Und auf
die Hetze gegen Tschemow läßt die „Retsch“ bereits die Hetze gegen
Zereteli folgen, den sie einen „Heuchler“ und „Zimmerwalder“ nennt.
Jetzt werden auch die Blinden sehen und die Steine sprechen.
Die Konterrevolution schließt sich zusammen. Die Kadetten - das ist
ihre Grundlage. Der Generalstab, die führenden Militärs und Kerenski
in ihren Händen, die Schwarzhunderterpresse zu ihren Diensten - das
sind die Verbündeten der bürgerlichen Konterrevolution.
Die infamen Verleumdungen gegen die politischen Gegner werden dem
Proletariat helfen, schneller zu erkennen, wo die Konterrevolution steckt,
und es wird sie hinmegfegen im Namen von Freiheit und Frieden,
für Brot den Hungernden und Land den Bauern.
.Rdbotschi i Soldat " Nt. 3 und 4, 26. und 27. Juli 1917.
Unterschrift: N. Lenin.
Nach dem Manuskript.
DER BEGINN DES BONAPARTISMUS
Der größte, der verhängnisvollste Irrtum, dem die Marxisten jetzt,
nach der Bildung des Kabinetts Kerenski, Nekrassow, Awksentjew und
Co. 67 verfallen könnten, wäre der, Worte für Taten zu nehmen, das täu-
schende Äußere für das Wesen zu halten oder überhaupt ernst zu
nehmen.
Überlassen wir diese Beschäftigung den Menschewiki und Sozialrevo-
lutionären, die um den Bonapartisten Kerenski herum schon geradezu
die Rolle von Narren spielen; Ist es nicht wirklich ein Narrenspiel, wenn
Kerenski, offensichtlich unter dem Diktat der Kadetten, so etwas wie ein
internes Direktorium aus sich selbst, Nekrassow, Tereschtschenko und
Sawinkow bildet, sich in Schweigen hüllt über die Konstituierende Ver-
sammlung und überhaupt über die Deklaration vom 8. Juli 68 , wenn er
in einem Aufruf an die Bevölkerung die heilige Einigkeit zwischen den
Klassen proklamiert und ein Abkommen zu Bedingungen, die niemand
kennt, mit Komilow schließt, der ein unverschämtes Ultimatum gestellt
hat, wenn er die Politik der skandalösen, empörenden Verhaftungen fort-
setzt, während die Tschernow, Awksentjew und Zereteli sich mit Phrasen-
drescherei befassen und wichtig tun?
Ist es etwa kein Nanrenspiel, wenn Tschernow sich in einer solchen
Zeit damit befaßt, Miljukow vor ein Schiedsgericht zu zitieren, wenn
Awksentjew über die Untauglichkeit des engen Klassenstandpunkts dekla-
miert, wenn Zereteli und Dan im Zentralexekutivkomitee der Sowjets
ganz und gar nichtssagende, aus inhaltsleeren Phrasen bestehende Resolu-
tionen einbringen, die an die schlimmsten Zeiten der Ohnmacht der ka-
dettischen ersten Duma gegenüber dem Zarismus erinnern?
222
W. I. Lenin
So wie die Kadetten 1906 die erste Volksvertretung in Rußland prosti-
tuierten, als sie diese angesichts der erstarkenden zaristischen Konter-
revolution zu einer kläglichen Schwatzbude machten, so haben 1917 die
Sozialrevolutionäre und Menschewiki die Söwjets prostituiert, indem sie
diese angesichts der erstarkenden bonapartistischen Konterrevolution in
eine klägliche Schwatzbude verwandelt haben.
Die Regierung Kerenski ist zweifellos eine Regierung der ersten Schritte
des Bonapartismus.
Wir haben das grundlegende historische Merkmal des Bonapartismus
vor uns : die sich auf den Militärklüngel (auf die übelsten Elemente der
Armee) stützende Staatsmacht laviert zwischen den beiden sich feindlich
gegenüberstehenden Klassen und Kräften, die sich gegenseitig mehr oder
weniger die Waage halten.
Der Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat hat sich bis
aufs äußerste zugespitzt. Sowohl am 20. und 21. April als' auch am
3. bis 5. Juli stand das Land hart am Rande des Bürgerkriegs. Ist diese
sozialökonomische Bedingung nicht der klassische Boden für den Bona-
partismus? Zu dieser Bedingung gesellen sich noch weitere, ganz ähn-
liche hinzu; die Bourgeoisie schimpft und tobt gegen die Sowjets, aber sie
ist noch nicht stark genug, diese mit einem Schlag auseinanderzujagen,
die, prostituiert von den Herren Zereteli, Tschemow und Co. schon keine
Kraft mehr haben, der Bourgeoisie ernsthaften Widerstand entgegenzu-
setzen.
Die Gutsbesitzer und die Bauernschaft leben gleichfalls unter Bedin-
gungen, die den Vorabend eines Bürgerkrieges kennzeichnen : die Bauern
fordern Land und Freiheit; sie in Schach halten kann, wenn sie es über-
haupt kann, nur eine bonapartistische Regierung, die imstande ist, allen
Klassen skrupellos Versprechungen zu machen, aber keine einzige hält.
Man füge noch das Moment der durch das Abenteuer der Offensive
hervorgerufenen militärischen Niederlagen hinzu, wo die Phrasen über
Rettung des Vaterlands (die das Verlangen verschleiern, das imperia-
listische Programm der Bourgeoisie zu retten) besonders stark verbreitet
sind - und man wird das vollständige Bild des sozialpolitischen Milieus
des Bonapartismus vor sich haben.
Lassen wir uns nicht von Phrasen täuschen. Lassen wir uns nicht da-
durch irremachen, daß wir erst die ersten Schritte des Bonapartismus vor
Der Beginn des Bonapartismus
223
uns haben. Gerade die ersten Schritte muß man durchschauen, um nicht
in die lächerliche Lage eines bornierten Philisters zu geraten, der über
den zweiten Schritt acb und weh schreit, obwohl er doch selbst beim
ersten mitgeholfen hat.
Nichts anderes als borniertes Philistertum wären jetzt konstitutionelle
Illusionen, z. B. in der Art, daß die jetzige Regierung wohl linker sei als
die bisherigen (siehe „Iswestija“), daß die wohlwollende Kritik der So-
wjets die Fehler der Regierung korrigieren könne, daß die willkürlichen
Verhaftungen und Zeitungsverbote Einzelfälle gewesen seien und zu hof-
fen sei, daß sie sich nicht wiederholen, daß Sarudny ein anständiger
Mann sei und daß im republikanisch-demokratischen Rußland ein kor-
rektes Gerichtsverfahren möglich sei, dem sich niemand entziehen dürfe,
und so weiter u. dgl. m.
Die Unsinnigkeit dieser philisterhaften konstitutionellen Illusionen ist
viel zu offensichtlich, als daß es sich lohnte, auf ihre Widerlegung Zeit zu
verschwenden.
Nein, der Kampf gegen die bürgerliche Konterrevolution erfordert
Nüchternheit und die Fähigkeit, zu sehen und auszusprechen was ist.
Der Bonapartismus in Rußland ist kein Zufall, sondern das natürliche
Produkt der Entwicklung des Klassenkampfes in einem kleinbürgerlichen
Land mit beträchtlich entwickeltem Kapitalismus und einem revolutio-
nären Proletariat. Solche historischen Etappen wie der 20. und 21. April,
der 6. Mai, der 9. und 10. Juni, der 18. und 19. Juni und der 3. bis 5. Juli
sind Wegweiser, die anschaulich zeigen, wie sich die Vorbereitung des
Bonapartismus vollzogen hat. Es wäre der gröbste Fehler, anzunehmen,
daß demokratische Verhältnisse den Bonapartismus ausschließen. Im
Gegenteil, gerade in diesen Verhältnissen (die Geschichte Frankreichs hat
dies zweimal bestätigt) entwickelt sich der Bonapartismus bei einer be-
stimmten Wechselbeziehung der Klassen und ihres Kampfes gegeneinander.
Jedoch die Unvermeidlichkeit des Bonapartismus anerkennen heißt
keineswegs die Unvermeidlichkeit seines Zusammenbruchs vergessen.
Wenn wir nur sagen, in Rußland sei ein vorübergehender Triumph
der Konterrevolution zu verzeichnen, so wird das eine nichtssagende
Floskel sein.
Wenn wir aber das Entstehen des Bonapartismus analysieren und,
furchtlos der Wahrheit ins Gesicht schauend, der Arbeiterklasse und dem
224
W.I. Lettin
ganzen Volk sagen, daß die Anfänge des Bonapartismus eine Tatsache
sind, so werden wir damit den Grund legen für einen ernsten, beharr-
lichen Kampf auf breiter politischer Ebene, der sich auf tiefgreifende
Klasseninteressen stützt, einen Kampf zum Sturz des Bonapartismus.
Die Anfänge des russischen Bonapartismus des Jahres 1917 unter-
scheiden sich vom beginnenden französischen Bonapartismus der Jahre
1799 und 1849 durch eine Reihe von Bedingungen, zum Beispiel dadurch,
daß bei uns keine einzige Grundaufgabe der Revolution gelöst ist. Der
Kampf um die Lösung der Agrarfrage und der nationalen Frage beginnt
eben erst zu entbrennen.
Kerenski und die konterrevolutionären Kadetten, die mit ihm wie mit
einer Schachfigur spielen, können die Konstituierende Versammlung
weder zum festgesetzten Termin einberufen noch ihre Einberufung ver-
schieben, ohne in beiden Fällen die Revolution zu vertiefen. Die Kata-
strophe aber, die durch das Fortführen des imperialistischen Krieges her-
vorgerufen wird, nähert sich mit noch viel größerer Wucht und Geschwin-
digkeit als bisher.
Dem Vortrupp des Proletariats in Rußland ist es gelungen, die Juni-
und Julitage ohne große Blutverluste zu überstehen. Die Partei des Prole-
tariats hat durchaus die Möglichkeit, eine solche Taktik und eine solche
Form oder solche Formen der Organisation zu wählen, daß plötzliche
(scheinbar plötzliche) Verfolgungen durch die Bonapartisten in keinem
Fall der Existenz der Partei und ihrem systematischen Appell an das Volk
ein Ende setzen können.
Soll die Partei dem Volke klar und deutlich die uneingeschränkte
Wahrheit sagen, daß wir die Anfänge des Bonapartismus erleben, daß die
„neue“ Regierung Kerenski, Awksentjew und Co. lediglich die Kulisse
ist, hinter der sich die konterrevolutionären Kadetten und die Militär-
clique verstecken, die die Macht in Händen hält, daß das Volk keinen
Frieden, die Bauern kein Land, die Arbeiter keinen Achtstundentag und
die Hungrigen kein Brot bekommen werden, solange die Konterrevolu-
tion nicht völlig liquidiert worden ist - soll die Partei das sagen, und
jeder Schritt in der Entwicklung der Ereignisse wird ihr recht geben.
Rußland hat mit erstaunlicher Schnelligkeit einen ganzen Zeitabschnitt
zurückgelegt, in dem die Mehrheit des Volkes sich den kleinbürgerlichen
Parteien der Sozialrevolutionäre und Menschewiki anvertraut hatte. Jetzt
Der Beginn des Bonapartismus
beginnt bereits diese Vertrauensseligkeit sieb grausam an der Mehrheit
der werktätigen Massen zu rächen.
Alle Anzeichen deuten darauf hin, daß die Ereignisse sich im schnell-
sten Tempo weiterentwickeln und das Land sich der nächsten Epoche
nähert, wo die Mehrheit der Werktätigen genötigt sein wird, ihr Schick-
sal dem revolutionären Proletariat anzuvertrauen. Das revolutionäre Pro-
letariat wird die Macht übernehmen und die sozialistische Revolution
beginnen, es wird trotz aller Schwierigkeiten und möglichen Zickzack-
linien in der Entwicklung die Proletarier aller fortgeschrittenen Länder
mit in diese Revolution.hineinziehen und sowohl den Krieg als auch den
Kapitalismus besiegen.
„Rdbotschi i Soldat ' Nt. 6,
29. Juli 1917.
Nadt dem Text des
. Rabotsdu i Soldat'.
q, Werke. Bd. 25
DIE LEHREN DER REVOLUTION
Geschrieben Ende Juli 1917,
das Nachwort am 6. (19.) September 1917.
Veröffentlicht am 12. und 13. September Nach dem Text der Broschüre.
(30. und 31. August) 1917 im
„Rabotschi“ (Der Arbeiter) Nr. 8 und 9.
Unterschrift inNr.8:N-ko m,
in Nr. 9: N. Lenin.
Das Nachwort erschien 1917 in der
Broschüre: N. Lenin, „ Die Lehren der
Revolution“, Verlag „ Priboi “ (Die Brandung).
Jede Revolution bedeutet einen jähen Umschwung im Leben der brei-
ten Volksmassen. Ist ein solcher Umschwung nicht herangereift, so kann
es zu keiner wirklichen Revolution kommen. So wie jeder Umschwung
im Leben eines beliebigen Menschen ihn vieles lehrt, ihn vieles erleben
und empfinden läßt, erteilt auch die Revolution dem ganzen Volk in kur-
zer Zeit die inhaltsreichsten und wertvollsten Lehren.
In Zeiten der Revolution lernen Millionen und aber Millionen Men-
schen in jeder Woche mehr als in einem Jahr gewöhnlichen, trägen
Lebens. Denn bei dem jähen Umschwung im Leben eines ganzen Volkes
wird besonders klar sichtbar, welche Klassen des Volkes diese oder jene
Ziele verfolgen, über welche Kraft sie verfügen und mit welchen Mitteln
sie wirken.
Jeder klassenbewußte Arbeiter, Soldat und Bauer muß sich aufmerk-
sam in die Lehren der russischen Revolution hineindenken, besonders
jetzt, Ende Juli, wo klar ersichtlich geworden ist, daß die erste Phase
unserer Revolution mit einem Mißerfolg geendet hat.
I
In der Tat, vergegenwärtigen wir uns, wonach die Massen der Arbeiter
und Bauern strebten, als sie die Revolution vollbrachten. Was erwarteten
sie von der Revolution? Jeder weiß, daß sie Freiheit, Frieden, Brot und
Land erwarteten.
Doch was sehen wir jetzt?
230
W.I. Lenin
Statt der Freiheit beginnt man die frühere Willkür wiederherzustellen.
Man führt die Todesstrafe für die Soldaten an der Front ein und stellt
die Bauern vor Gericht, weil sie eigenmächtig Gutsbesitzerland in Besitz
nehmen. Man demoliert die Druckereien der Arbeiterzeitungen. Man
verbietet ohne Gerichtsbeschluß die Arbeiterzeitungen. Man verhaftet
Bolschewiki, wobei gegen sie oft entweder gar keine oder offenkundig
verleumderische Anklagen erhoben werden.
Man wird vielleicht einwenden, die Verfolgung der Bolschewiki sei
keine Verletzung der Freiheit, da nur bestimmte Personen unter be-
stimmten Beschuldigungen verfolgt werden. Aber dieser Einwand ist eine
bewußte, offenkundige Unwahrheit, denn wie kann man wegen Ver-
gehen einzelner Personen, selbst wenn diese Beschuldigungen bewiesen
und gerichtlich bestätigt wären, eine Druckerei demolieren und Zeitun-
gen verbieten. Etwas anderes wäre es, wenn die Regierung die ganze
Partei der Bolschewiki, ihre ganze politische Richtung und ihre Auffas-
sungen durch Gesetz für verbrecherisch erklärt hätte. Aber jeder weiß,
daß die Regierung des freien Rußlands nichts dergleichen tun konnte und
auch nicht getan hat.
Der verleumderische Charakter der Beschuldigungen gegen die Bol-
schewiki geht vor allem auch daraus hervor, daß die Zeitungen der Guts-
besitzer und Kapitalisten die Bolschewiki wegen ihres Kampfes gegen
den Krieg, gegen die Gutsbesitzer und gegen die Kapitalisten wütend
beschimpften und offen die Verhaftung und Verfolgung der Bolschewiki
schon zu einer Zeit forderten, als noch keine einzige Beschuldigung auch
nur gegen einen Bolschewik ausgeheckt worden war.
Das Volk will Frieden. Die revolutionäre Regierung des freien Ruß-
lands aber hat den Eroberungskrieg auf der Grundlage derselben Ge-
heimverträge wiederaufgenommen, die der Exzar Nikolaus II. mit den
englischen und den französischen Kapitalisten abgeschlossen hatte im
Interesse der Ausplünderung fremder Völker durch die russischen Kapi-
talisten. Diese Geheimverträge sind nach wie vor unveröffentlicht. Die
Regierung des freien Rußlands hat sich auf Ausflüchte beschränkt, hat es
unterlassen, allen Völkern einen gerechten Frieden anzubieten.
Es gibt kein Brot. Wieder rückt der Hunger heran. Alle sehen, daß
die Kapitalisten, die Reichen den Staat bei den Heereslieferungen gewis-
senlos betrügen (der Krieg kostet das Volk jetzt 50 Millionen Rubel täg-
Die Lehren der Revolution
231
lieh), daß sie durch die hohen Preise unerhörte Profite einstecken, wäh-
rend für eine ernsthafte Kontrolle der Produktion und der Verteilung
der Produkte durch die Arbeiter rein gar nichts getan worden ist. Die
Kapitalisten werden immer unverschämter, sie werfen die Arbeiter auf
die Straße, und das zu einer Zeit, wo das Volk darbt, weil keine Waren
da sind.
Die übergroße Mehrheit der Bauern hat laut und klar auf einer Viel-
zahl von Tagungen erklärt, daß sie das Eigentum der Gutsbesitzer an
Grund und Boden für eine Ungerechtigkeit und für Raub hält. Die Regie-
rung aber, die sich revolutionär und demokratisch nennt, fährt fort, die
Bauern monatelang an der Nase herumzuführen, betrügt sie durch Ver-
sprechungen und Hinhalten. Monatelang erlaubten die Kapitalisten dem
Minister Tschemow nicht, ein Gesetz über das Verbot des Kaufs und
Verkaufs von Grund und Boden zu erlassen. Und als dieses Gesetz end-
lich erlassen worden war, begannen die Kapitalisten eine infame ver-
leumderische Hetze gegen Tschemow, die sie auch jetzt noch fortsetzen.
Die Regierung ist in ihrer Unverfrorenheit bei der Verteidigung der
Gutsbesitzer so weit gegangen, daß sie anfängt, die Bauern wegen „eigen-
mächtiger“ Besitzergreifungen vor Gericht zu stellen.
Die Bauern werden an der Nase herumgeführt, indem man ihnen zu-
redet, bis zur Konstituierenden Versammlung zu warten. Die Einberu-
fung dieser Versammlung aber wird von den Kapitalisten immer wieder
hinausgeschoben. Jetzt, wo die Einberufung unter dem Druck der For-
derung der Bolschewiki auf den 30. September festgesetzt worden ist,
schreien die Kapitalisten offen, das sei eine „unmöglich“ kurze Frist, und
sie verlangen, daß die Einberufung der Konstituierenden Versammlung
verschoben wird . . . Die einflußreichsten Mitglieder der Partei der Kapi-
talisten und Gutsbesitzer, der Partei der „Kadetten“ oder der Partei der
„Volksfreiheit“, zum Beispiel die Panina, propagieren unumwunden, die
Einberufung der Konstituierenden Versammlung bis zur Beendigung des
Krieges zu verschieben.
Auf den Grund und Boden wartet bis zur Konstituierenden Versamm-
lung! Auf die Konstituierende Versammlung wartet bis zum Kriegsende!
Auf das Kriegsende wartet bis zum vollen Sieg! Das ist es, was dabei
herauskommt. Die Kapitalisten und Gutsbesitzer, die ihre Mehrheit in
der Regierung haben, verhöhnen die Bauern geradezu.
232
W. I. Lettin
II
Wie konnte das aber in einem freien Land, nach dem Sturz der Zaren-
macht, geschehen?
In einem unfreien Land wird das Volk von einem Monarchen und
einem Häuflein von Gutsbesitzern, Kapitalisten und Beamten regiert, die
niemand gewählt hat.
In einem freien Land wird das Volk nur von denen regiert, die es selbst
hierzu gewählt hat. Bei den Wahlen teilt sich das Volk in Parteien, und
gewöhnlich bildet jede Klasse der Bevölkerung ihre besondere Partei,
z. B. bilden die Gutsbesitzer, die Kapitalisten, die Bauern, die Arbeiter
besondere Parteien. Deshalb wird das Volk in freien Ländern auf dem
Wege des offenen Kampfes der Parteien und der freien Vereinbarung
dieser Parteien untereinander regiert.
Nach dem Sturz der Zarenmacht am 27. Februar 1917 wurde Rußland
etwa vier Monate lang wie ein freies Land regiert, nämlich auf dem Wege
des offenen Kampfes der sich frei bildenden Parteien und der freien Ver-
einbarung zwischen ihnen. Um die Entwicklung der russischen Revo-
lution zu begreifen, muß man also vor allem studieren, welches die wich-
tigsten Parteien waren, die Interessen welcher Klassen sie vertraten und
welcherart die Beziehungen all dieser Parteien zueinander waren.
III
Nach dem Sturz der Zarenmacht ging die Staatsmacht in die Hände der
ersten Provisorischen Regierung über. Diese bestand aus Vertretern der
Bourgeoisie, d. h. der Kapitalisten, denen sich auch die Gutsbesitzer zu-
gesellt hatten. Die Partei der „Kadetten“, die Hauptpartei der Kapita-
listen, stand an erster Stelle als herrschende und regierende Partei der
Bourgeoisie.
Es war kein Zufall, daß die Macht dieser Partei zufiel, obwohl natür-
lich nicht die Kapitalisten gegen die zaristischen Truppen gekämpft, nicht
sie ihr Blut für die Freiheit vergossen hatten, sondern die Arbeiter und
Bauern, die Matrosen und Soldaten. Die Macht ist deshalb der Partei der
Kapitalisten zugefallen, weil diese Klasse die Macht des Reichtums, der
Die Lehren der Revolution
233
Organisation und des Wissens in ihren Händen hatte. In der Zeit nach
1905 und besonders während des Krieges hatte in Rußland die Klasse
der Kapitalisten und der ihnen nahestehenden Gutsbesitzer die meisten
Erfolge bei ihrer Organisierung erzielt.
Die Partei der Kadetten war imm er monarchistisch, sowohl 1905 als
auch von 1905 bis 1917. Nach dem Siege des Volkes über die Zaren-
tyrannei erklärte sich diese Partei für republikanisch. Die geschichtliche
Erfahrung zeigt, daß die Parteien der Kapitalisten, wenn das Volk die
Monarchie besiegt hatte, stets bereit waren, republikanisch zu werden,
nur um die Privilegien der Kapitalisten und ihre Allmacht über das Volk
aufrecfatzuerhalten.
In Worten tritt die Kadettenpartei für die „Volksfreiheit“ ein. In der
Tat tritt sie für die Kapitalisten ein, und alle Gutsbesitzer, alle Mon-
archisten, alle Schwarzhunderter sind denn auch sogleich auf ihre Säte
getreten. Ein Beweis dafür sind die Presse und die Wahlen. Alle bürger-
lichen Zeitungen und die gesamte Schwarzhunderterpresse schlugen nach
der Revolution die glächen Töne an wie die Kadetten. Alle monarchisti-
schen Parteien, die es nicht wagten, offen aufzutreten, unterstützten bä
den Wahlen, zum Bäspiel in Petrograd, die Partei der Kadetten.
Nachdem die Kadetten die Regierungsmacht übernommen hatten, rich-
teten sie alle Anstrengungen darauf, den räuberischen Eroberungskrieg
fortzusetzen, welcher vom Zaren Nikolaus II. begonnen worden war,
der mit den englischen und französischen Kapitalisten geheime Raubver-
träge abgeschlossen hatte. In diesen Verträgen war den russischen Kapi-
talisten versprochen worden, daß sie im Falle des Sieges Konstantinopel,
Galizien, Armenien usw. in Besitz nehmen könnten. Das Volk aber
wurde von der Regierung der Kadetten mit leeren Ausflüchten und Ver-
sprechungen abgespäst, wobä die Regierung alle Entschädungen über
die wichtigen, für die Arbäter und Bauern dringenden Angelegenhäten
bis zur Konstituierenden Versammlung hinausschob, ohne den Termin
ihrer Einberufung festzusetzen.
Das Volk machte von der Freihät Gebrauch und begann, sich selbstän-
dig zu organisieren. Die Hauptorganisation der Arbäter und Bauern, die
die überwältigende Mehrhät der Bevölkerung Rußlands ausmachen,
waren die Sowjäs der Arbäter-, Soldaten- und Bauemdeputierten. Diese
Sowjets begannen sich bereits während der Februarrevolution zu bilden.
234
und einige Wochen später waren in den meisten größeren Städten
Rußlands und in vielen Landbezirken alle bewußten fortgeschrittenen
Elemente der Arbeiterklasse und der Bauernschaft durch die Sowjets
vereint.
Die Sowjets wurden vollkommen frei gewählt. Sie waren die wirk-
lichen Organisationen der Volksmassen, der Arbeiter und Bauern. Die
Sowjets waren die wirklichen Organisationen der gewaltigen Mehrheit des
Volkes. Die in den Soldatenrock gesteckten Arbeiter und Bauern waren
bewaffnet.
Selbstverständlich konnten und mußten die Sowjets die gesamte Staats-
macht in ihre Hände nehmen. Bis zur Einberufung der Konstituierenden
Versammlung hätte es im Staate keine andere Macht als die der Sowjets
geben dürfen. Nur dann wäre unsere Revolution eine wirkliche Volks-
revolution, eine wirklich demokratische Revolution geworden. Nur dann
hätten die werktätigen Massen, die wirklich den Frieden erstreben, die
wirklich kein Interesse an einem Eroberungskrieg haben, damit beginnen
können, entschlossen und unerschütterlich eine Politik in die Tat umzu-
setzen, die dem Eroberungskrieg ein Ende gemacht und den Frieden her-
beigeführt hätte. Nur dann hätten die Arbeiter und Bauern den Kapita-
listen, die „am Kriege“ wahnsinnige Summen verdienen und die das Land
in Zerrüttung und Hungersnot gestürzt haben, Zügel anlegen können.
Aber in den Sowjets stand nur der kleinere Teil der Deputierten auf
seiten der Partei der revolutionären Arbeiter, der bolschewistischen So-
zialdemokraten, die die Übergabe der gesamten Staatsmacht in die Hände
der Sowjets forderten. Der größte Teil der Deputierten in den Sowjets
stand auf seiten der Parteien der menschewistischen Sozialdemokraten
und der Sozialrevolutionäre, die gegen die Übergabe der Macht an die
Sowjets waren. Statt die Regierung der Bourgeoisie zu beseitigen und sie
durch eine Regierung der Sowjets zu ersetzen, traten diese Parteien für
die Unterstützung der Regierung der Bourgeoisie und für Übereinkünfte
mit ihr ein, für die Bildung einer gemeinsamen Regierung mit der Bour-
geoisie. In dieser Politik des Paktierern mit der Bourgeoisie, die die Par-
teien der Sozialrevolutionäre und Menschewiki betrieben, denen die Mehr-
heit des Volkes Vertrauen entgegenbrachte, besteht der Hauptinhalt des
gesamten Verlaufs der Entwicklung der Revolution in den ganzen fünf
Monaten, die seit ihrem Beginn verflossen sind.
Die Lehren der Revolution
235
IV
Betrachten wir nun zunächst, wie dieses Paktieren der Sozialrevolutio-
näre und Menschewiki mit der Bourgeoisie vor sich ging, und suchen wir
dann die Erklärung für den Umstand, daß die Mehrheit des Volkes diesen
Parteien Vertrauen schenkte.
V
Die Menschewiki und Sozialrevolutionäre haben mit den Kapitalisten
in allen Perioden der russischen Revolution bald in der einen, bald in der
anderen Form paktiert.
Ende Februar 1917, gleich nachdem das Volk gesiegt hatte und die
Zarenmacht gestürzt worden war, wurde Kerenski als „Sozialist“ in die
Provisorische Regierung der Kapitalisten aufgenommen. In Wirklichkeit
ist Kerenski nie Sozialist gewesen, er war nur Trudowik und begann
sich erst seit März 1917 zu den „Sozialrevolutionären“ zu zählen, als
dies bereits ungefährlich und nicht unvorteilhaft war. Die Provisorische
Regierung der Kapitalisten bemühte sich sofort, durch Kerenski als stell-
vertretenden Vorsitzenden des Petrograder Sowjets, den Sowjet an sich
zu fesseln und sich gefügig zu machen. Der Sowjet, d. h. die in ihm über-
wiegenden Sozialrevolutionäre und Menschewiki, ließ sich das gefallen
und erklärte sich sofort nach Bildung der Provisorischen Regierung der
Kapitalisten bereit, „sie zu unterstützen“, „insofern“ sie ihre Verspre-
chen halten werde.
Der Sowjet betrachtete sich als Organ, das die Handlungen der Pro-
visorischen Regierung prüft und kontrolliert. Die Führer des Sowjets
bildeten die sogenannte „Kontaktkommission“, d. h. eine Kommission,
die den Kontakt zur Regierung herstellt, mit ihr Fühlung nimmt. 69 In die-
ser Kontaktkommission führten die Sozialrevolutionären und mensche-
wistischen Führer des Sowjets ständige Unterhandlungen mit der Regie-
rung der Kapitalisten, so daß sie eigentlich die Stellung von Ministem
ohne Portefeuille oder von nicfatoffiziellen Ministem einnahmen.
Den ganzen März und fast den ganzen April hindurch hielt dieser
Zustand an. Die Kapitalisten arbeiteten mit Verschleppungsmanövem
und Ausflüchten in dem Bestreben, Zeit zu gewinnen. Die Regierung der
W.I. Lenin
Kapitalisten tat während dieser Zeit keinen einzigen auch nur einiger-
maßen ernsthaften Schritt zur Entwicklung der Revolution. Selbst zur
Erfüllung ihrer direkten unmittelbaren Aufgabe, zur Einberufung der
Konstituierenden Versammlung, tat die Regierung nicht das geringste, sie
unterbreitete diese Frage nicht den lokalen Organen, ja, sie schuf nicht
einmal eine zentrale Kommission zur Vorbereitung dieser Angelegen-
heit. Die Regierung sorgte nur für eins: im stillen die vom Zaren mit
den Kapitalisten Englands und Frankreichs geschlossenen internationalen
Raubverträge zu erneuern, möglichst vorsichtig und unbemerkt die Revo-
lution zu hemmen, alles zu versprechen und nichts zu halten. Die Sozial-
revolutionäre und Menschewiki spielten in der „Kontaktkommission“ die
Rolle von Einfaltspinseln, die man mit hochtrabenden Phrasen und Ver-
sprechungen abspeiste, jeweils „auf morgen“ vertröstete. Wie die Krähe
in der bekannten Fabel gingen die Sozialrevolutionäre und Menschewiki
den Schmeicheleien auf den Leim und hörten sich mit Behagen die Be-
teuerungen der Kapitalisten an, daß sie die Sowjets hochschätzten und
ohne sie keinen Schritt täten.
In Wirklichkeit jedoch verging die Zeit, und die Kapitalistenregierung
hatte rein gar nichts für die Revolution getan. Aber gegen die Revolution
gelang es ihr in dieser Zeit, die geheimen Raubverträge zu erneuern, rich-
tiger, sie zu bestätigen und durch ergänzende, ebenso geheime Verhand-
lungen mit den Diplomaten des englischen und französischen Imperia-
lismus zu „beleben“. Gegen die Revolution gelang es ihr in dieser Zeit,
den Grundstein zu legen für eine konterrevolutionäre Organisation (oder
zum mindesten für eine Annäherung) der Generale und Offiziere der
Feldarmee. Gegen die Revolution gelang es ihr, die Organisierung der
Industriellen, Fabrikanten und Unternehmer in die Wege zu leiten, die
unter dem Druck der Arbeiter gezwungen waren, ein Zugeständnis nach
dem anderen zu machen, aber gleichzeitig begannen, die Produktion zu
sabotieren (zu schädigen) und ihre Stillegung vorzubereiten, wozu sie
auf eine günstige Gelegenheit warteten.
Doch die Organisierung der fortgeschrittenen Arbeiter und Bauern in
den Sowjets ging unaufhaltsam vorwärts. Die besten Menschen aus den
unterdrückten Klassen fühlten, daß die Regierung trotz ihres Abkom-
mens mit dem Petrograder Sowjet, trotz der Schönrednerei Kerenskis,
trotz der „Kontaktkommission“ ein Feind des Volkes, ein Feind der Re-
Die Lehren der Revolution
237
volution bleibt. Die Massen fühlten, daß die Sache des Friedens, die Sache
der Freiheit, die Sache der Revolution unvermeidlich verlören ist, wenn
der Widerstand der Kapitalisten nicht gebrochen wird. Unter den Massen
wuchs die Ungeduld und die Erbitterung.
VI
Die Erbitterung kam am 20. und 21. April zum Durchbruch. Die Be-
wegung flammte spontan auf, von niemandem vorbereitet. Die Bewegung
richtete sich mit einer solchen Schärfe gegen die Regierung, daß ein Regi-
ment sogar bewaffnet aufmarschierte und vor dem Marienpalast erschien,
um die Minister zu verhaften. Allen wurde es völlig klar, daß sich die
Regierung nicht halten kann. Die Sowjets hätten die Macht ohne den
geringsten Widerstand von irgendwelcher Seite übernehmen können (und
müssen). Statt dessen unterstützten die Sozialrevolutionäre und Mensche-
wiki die fallende Kapitalistenregierung, verstrickten sich noch mehr
durch das Paktieren mit ihr, machten noch verhängnisvollere, zum Unter-
gang der Revolution führende Schritte.
In der Revolution lernen alle Klassen mit einer in gewöhnlichen, fried-
lichen Zeiten ungeahnten Schnelligkeit und Gründlichkeit. Die Kapita-
listen, die am besten organisiert, die in Sachen des Klassenkampfes und
der Politik am erfahrensten sind, hatten rascher als die anderen gelernt.
Als sie sahen, daß die Lage der Regierung unhaltbar geworden war, grif-
fen sie zu einer Methode, die nach 1848 viele Jahrzehnte lang von den
Kapitalisten anderer Länder zur Irreführung, Spaltung und Schwächung
der Arbeiter praktiziert wurde. Diese Methode ist die sogenannte „Ko-
alitionsregierung, d. h. eine vereinigte, aus der Bourgeoisie und den
Überläufern aus dem Lager des Sozialismus zusammengesetzte, gemein-
same Regierung.
In den Ländern, in denen Freiheit und Demokratie neben der revolu-
tionären Arbeiterbewegung am längsten bestehen, in England und Frank-
reich, haben die Kapitalisten diese Methode oftmals und mit großem
Erfolg angewandt. Die „sozialistischen“ Führer, die in die Regierung der
Bourgeoisie eintraten, erwiesen sich unweigerlich als Strohmänner, als
Marionetten, als Kulisse für die Kapitalisten, als Werkzeuge des Betrugs
W. I. Lenin
an den Arbeitern. Die „demokratischen und republikanischen“ Kapita-
listen Rußlands haben dieselbe Methode in Anwendung gebracht. Die
Sozialrevolutionäre und Menschewiki ließen sich auch gleich übers Ohr
hauen, und am 6. Mai wurde die „Koalitionsregierung unter Beteiligung
Tschernows, Zeretelis und Co. Tatsache.
Die Einfaltspinsel aus der Sozialrevolutionären und der menschewisti-
schen Partei jubelten und sonnten sich selbstgefällig im Glanz des Mini-
sterruhms ihrer Führer. Die Kapitalisten rieben sich vor Vergnügen die
Hände, da sie in Gestalt der „Führer der Sowjets“ Helfer gegen das
Volk gewonnen hatten, da sie von ihnen das Versprechen erhielten, „An-
griffsaktionen an der Front“, d. h. die Wiederbelebung des schon beinahe
zum Stillstand gekommenen imperialistischen Raubkrieges, zu unterstüt-
zen. Die Kapitalisten kannten die ganze aufgeblasene Ohnmacht dieser
Führer, sie wußten, daß die Versprechungen der Bourgeoisie hinsichtlich
der Kontrolle und sogar der Organisierung der Produktion, hinsichtlich
der Friedenspolitik u. dgl. m. niemals erfüllt werden würden.
So kam es auch. Die zweite Phase in der Entwicklung der Revolution,
vom 6. Mai bis zum 9. oder bis zum 18. Juni, hat die Spekulationen der
Kapitalisten, daß es leicht sein werde, die Sozialrevolutionäre und Men-
schewiki hinters Licht zu führen, vollauf gerechtfertigt.
Während Peschechonow und Skobelew sich und dem Volk mit hoch-
trabenden Phrasen Vormächten, man werde den Kapitalisten 100 Prozent
des Profits abnehmen, ihr „Widerstand sei gebrochen“ u. dgl. m„ fuhren
die Kapitalisten fort, ihre Stellungen zu festigen. Um die Kapitalisten zu
zügeln, wurde in dieser Zeit in Wirklichkeit nichts, rein gar nichts unter-
nommen. Die Minister aus den Reihen der Überläufer aus dem Lager des
Sozialismus erwiesen sich als Schwatzmaschinen, berufen, die Aufmerk-
samkeit der unterdrückten Klassen abzulenken, während der ganze Appa-
rat der Staatsverwaltung in Wirklichkeit in den Händen der Bürokratie
(der Beamtenschaft) und der Bourgeoisie blieb. Der berüchtigte Pal-
tsdiinski, Vizeminister für Industrie, war ein typischer Vertreter dieses
Apparats, der jede wie immer geartete Maßnahme gegen die Kapitalisten
hintertrieb. Die Minister schwatzten, und alles blieb beim alten.
Besonders der Minister Zereteli wurde von der Bourgeoisie zur Be-
kämpfung der Revolution verwandt. Ihn schickte man, um Kronstadt zu
„beruhigen“, als die dortigen Revolutionäre so kühn wurden, daß sie es
Die Lehren der Revolution
239
wagten, den ernannten Kommissar abzusetzen. Die Bourgeoisie eröffnete
in ihren Zeitungen eine unglaublich lärmende, bösartige, wütende Hetz-
kampagne voller Lügen und Verleumdungen gegen Kronstadt, erhob
gegen Kronstadt die Beschuldigung, daß es sich „von Rußland lostrennen“
wolle, wobei sie diesen und ähnlichen Unsinn in tausenderlei Tonarten
wiederholte und dem Kleinbürgertum und den Philistern Angst einjagte.
Zereteli, der typischste Vertreter des bornierten, eingeschüchterten Phili-
stertums, ging der bürgerlichen Hetze am „ehrlichsten“ von allen auf den
Leim, er versuchte am eifrigsten, Kronstadt „niederzuschlagen und zu
befrieden“, ohne sich seiner Rolle als Lakai der konterrevolutionären
Bourgeoisie bewußt zu werden. Das Resultat war, daß er das Werkzeug
wurde für den Abschluß eines „Übereinkommens" mit dem revolutio-
nären Kronstadt, dem zufolge der Kommissar von Kronstadt nicht ein-
fach von der Regierung ernannt, sondern an Ort und Stelle gewählt und
von der Regierung bestätigt werden sollte. Auf solche jämmerlichen Kom-
promisse verschwendeten die vom Sozialismus zur Bourgeoisie übergelau-
fenen Minister ihre Zeit.
Dort, wo sich kein Bourgeoisminister zeigen konnte, um die Regierung
zu rechtfertigen, vor den revolutionären Arbeitern oder in den Sowjets,
dort erschien ein „sozialistischer' 1 Minister, Skobelew. Zereteli, Tscher-
now u. a., (richtiger: dorthin wurde er von der Bourgeoisie geschickt) und
verrichtete gewissenhaft die Sache der Bourgeoisie, gab sich alle Mühe,
die Regierung zu rechtfertigen, die Kapitalisten reinzuwaschen, narrte
das Volk mit der Wiederholung von Versprechungen, Versprechungen
und Versprechungen, mit Ratschlägen, abzuwarten, abzuwarten und noch-
mals abzuwarten.
Minister Tsdiemow war durch den Kuhhandel mit seinen bürgerlichen
Kollegen besonders in Anspruch genommen. Bis zum Juli, bis zu der
neuen „Krise der Staatsmacht“, die nach der Bewegung vom 3. und 4. Juli
eintrat, bis zum Austritt der Kadetten aus der Regierung war Minister
Tsdiemow die ganze Zeit mit der nützlichen, interessanten, das Volk zu-
tiefst bewegenden Sache beschäftigt, seinen bürgerlichen Kollegen „zuzu-
reden", ihnen ins Gewissen zu reden, sich wenigstens mit dem Verbot des
Kaufs und Verkaufs von Grund und Boden einverstanden zu erklären.
Dieses Verbot war den Bauern auf dem Gesamtrussischen Kongreß (So-
wjet) der Bauemdeputierten in Petrograd aufs feierlichste versprochen
240
worden. Aber das Versprechen ist ein Versprechen geblieben. Tschemow
konnte es weder im Mai noch im Juni einlösen, er konnte das so lange
nicht, bis die revolutionäre Welle des spontanen Ausbruchs am 3. und
4. Juli, die mit dem Austritt der Kadetten aus der Regierung zusammen-
fiel, es ermöglichte, diese Maßnahme durchzuführen. Aber auch dann
blieb dies eine vereinzelte Maßnahme, die außerstande war, den Kampf
der Bauernschaft gegen die Gutsbesitzer um den Grund und Boden ernst-
lich zu fördern.
An der Front erfüllte indessen der „revolutionäre Demokrat“ Keren-
ski, das neugebackene Mitglied der Partei der Sozialrevolutionäre, mit
Erfolg und Glanz die konterrevolutionäre, imperialistische Aufgabe, den
imperialistischen Raubkrieg wiederaufzunehmen, jene Aufgabe, die der
im Volke verhaßte Gutschkow nicht erfüllen konnte. Kerenski berauschte
sich an seiner eigenen Beredsamkeit; die Imperialisten, die mit ihm wie
mit einer Schachfigur spielten, beweihräucherten ihn, er wurde umschmei-
chelt, er wurde vergöttert - alles dafür, daß er treu und redlich den Kapi-
talisten diente, daß er den „revolutionären Truppen“ zuredete, sich bereit
zu erklären, den Krieg wiederaufzunehmen, der in Erfüllung der Verträge
des Zaren Nikolaus II. geführt wird, die dieser mit den Kapitalisten Eng-
lands und Frankreichs abgeschlossen hatte, der geführt wird, damit die
russischen Kapitalisten Konstantinopel und Lwow, Erserum undTrapezunt
bekommen.
So verlief die zweite Phase der russischen Revolution, vom 6. Mai bis
zum 9. Juni. Die konterrevolutionäre Bourgeoisie erstarkte und festigte
sich, gedeckt und geschützt von den „sozialistischen“ Ministem, sie be-
reitete die Offensive vor, sowohl gegen den äußeren wie gegen den inne-
ren Feind, d. h. gegen die revolutionären Arbeiter.
VII
Zum 9. Juni bereitete die Partei der revolutionären Arbeiter, die
Partei der Bolschewiki, eine Demonstration in Petrograd vor, um der
unaufhaltsam anwachsenden Unzufriedenheit und Empörung der Mas-
sen organisierten Ausdruck zu verleihen. Die in Abmachungen mit der
Bourgeoisie verstrickten, durch die imperialistische Politik der Offensive
Die Lehren der Revolution
241
gebundenen Sozialrevolutionären und menschewistischen Führer waren
entsetzt, als sie spürten, wie ihr Einfluß unter den Massen verlorenging.
Es erhob sich ein allgemeines Geschrei gegen die Demonstration, ein
Geschrei, das diesmal die konterrevolutionären Kadetten mit den Sozial-
revolutionären und Menschewiki vereinte. Unter ihrer Führung, als Folge
ihrer Politik des Paktierens mit den Kapitalisten, trat die Schwenkung der
kleinbürgerlichen Massen zu einem Bündnis mit der konterrevolutionären
Bourgeoisie klar in Erscheinung, zeigte sie sich mit verblüffender Anschau-
lichkeit. Darin besteht die historische Bedeutung, das ist der klassen-
mäßige Sinn der Krise vom 9. Juni.
Die Bolschewik! sagten die Demonstration ab, da sie nicht im gering-
sten die Absicht hatten, die Arbeiter in diesem Moment in einen ver-
zweifelten Kampf gegen die vereinigten Kadetten, Sozialrevolutionäre
und Menschewiki zu führen. Doch diese waren gezwungen, wollten sie
sich wenigstens den letzten Rest des Vertrauens der Massen wahren, eine
allgemeine Demonstration auf den 18. Juni anzusetzen. Die Bourgeoisie
war außer sich vor Wut, da sie darin mit Recht ein Schwanken der klein-
bürgerlichen Demokratie zum Proletariat hin erblickte, und sie beschloß,
die Aktion der Demokratie durch eine Offensive an der Front zu para-
lysieren.
In der Tat, am 18. Juni trugen die Losungen des revolutionären Pro-
letariats, die Losungen des Bolschewismus, einen außerordentlich ein-
drucksvollen Sieg unter den Petersburger Massen davon, am 19. Juni
aber wurde von der Bourgeoisie und dem Bonapartisten* Kerenski feier-
lich die gerade am 18. Juni begonnene Offensive an der Front bekannt-
gegeben.
Die Offensive bedeutete faktisch die Wiederaufnahme des Raubkrie-
ges im Interesse der Kapitalisten, entgegen dem Willen der ungeheuren
Mehrheit der Werktätigen. Mit der Offensive unvermeidlich verbunden
war deshalb einerseits ein gewaltiges Erstarken des Chauvinismus und
* Bonapartismus (nach dem Namen der beiden französischen Kaiser Bonaparte)
nennt man eine Regierung, die den Schein erwecken will, über den Parteien zu
stehen, und dabei den äußerst zugespitzten Kampf der Parteien der Kapitalisten
und der Arbeiter gegeneinander ausnutzt In Wirklichkeit den Kapitalisten dienend,
betrügt eine solche Regierung mehr als irgendeine andere die Arbeiter durch Ver-
sprechungen und kleine Almosen.
16 Lenin. Werke. Bd. 25
242
W . !. Lenin
der Übergang der militärischen (und folglich auch der staatlichen) Macht
an eine Militärclique von Bonapartisten und anderseits der Übergang
zur Gewaltanwendung gegen die Massen, zur Verfolgung der Internatio-
nalisten, zur Aufhebung der Agitationsfreiheit, zu Verhaftungen und Er-
schießungen derer, die gegen den Krieg auf treten.
Hatte der 6. Mai die Sozialrevolutionäre und Menschewiki mit Stricken
an den Siegeswagen der Bourgeoisie gebunden, so hat der 19. Juni sie als
Diener der Kapitalisten mit Ketten angeschmiedet.
VIII
Die Erbitterung der Massen wuchs natürlich durch den wiederauf-
genommenen Raubkrieg noch schneller und stärker an. Am 3. und 4. Juli
kam die Empörung der Massen zum Ausbruch, den die Bolschewiki ein-
zudämmen suchten, und sie mußten selbstverständlich bemüht sein, ihm
eine möglichst organisierte Form zu verleihen.
Die Sozialrevolutionäre und Menschewiki, als Sklaven der Bourgeoisie,
an ihren Herrn gefesselt, waren mit allem einverstanden: sowohl mit
dem Herbeirufen reaktionärer Truppen nach Petrograd als auch mit der
Wiedereinführung der Todesstrafe, sowohl mit der Entwaffnung der Ar-
beiter und der revolutionären Truppen als auch mit den Verhaftungen,
den Verfolgungen und den Zeitungsverboten ohne Gerichtsbeschluß. Die
Macht, die die Bourgeoisie in der Regierung nicht ganz an sich reißen
konnte und die die Sowjets nicht übernehmen wollten, diese Macht ging
über in die Hände der Militärclique, der Bonapartisten, die selbstver-
ständlich von den Kadetten und Schwarzhundertern, den Gutsbesitzern
und Kapitalisten voll unterstützt wurde.
Von Stufe zu Stufe. Nachdem die Sozialrevolutionäre und Mensche-
wiki die schiefe Bahn des Paktierens mit der Bourgeoisie betreten hatten,
glitten sie unaufhaltsam abwärts, bis sie ganz unten waren. Am 28. Fe-
bruar versprachen sie im Petrograder Sowjet der bürgerlichen Regierung
die bedingte Unterstützung. Am 6. Mai retteten sie diese Regierung vor
dem Zusammenbruch und ließen sich zu ihren Dienern und Verteidigern
machen, indem sie sich mit der Offensive einverstanden erklärten. Am
9. Juni taten sie sich mit der konterrevolutionären Bourgeoisie zu einem
Die Lehren der Revolution
243
wütenden, gehässigen Lügen- und Verleumdungsfeldzug gegen das revo-
lutionäre Proletariat zusammen. Am 19. Juni billigten sie die begonnene
Wiederaufnahme des Raubkrieges. Am 3. Juli willigten sie ein, daß reak-
tionäre Truppen herbeigerufen wurden - das war der Beginn der end-
gültigen Übergabe der Macht an die Bonapartisten. Von Stufe zu Stufe.
Dieses schmähliche Ende der Parteien der Sozialrevolutionäre und
Menschewiki ist kein Zufall, sondern resultiert - wie das die Erfahrungen
in Europa oftmals bestätigt haben - aus der ökonomischen Lage der
Kleinbesitzer, des Kleinbürgertums.
IX
Jeder hat natürlich beobachtet, wie die Kleinbesitzer sich abrackem,
wie sie danach streben „aufzusteigen“, um richtige Unternehmer, „so-
lide“ Unternehmer zu werden, zur Bourgeoisie emporzusteigen. Solange
der Kapitalismus herrscht, gibt es für die Kleinbesitzer keinen anderen
Ausweg: entweder selbst zu Kapitalisten werden (doch das ist im besten
Falle einem von hundert Kleinbesitzern möglich) oder zum ruinierten
Kleinbesitzer, zum Halbproletarier, und dann zum Proletarier werden.
Ebenso ist es in der Politik: Die kleinbürgerliche Demokratie, besonders
ihre Führerschaft, strebt der Bourgeoisie nach. Die Führer der kleinbür-
gerlichen Demokratie vertrösten ihre Massen mit Versprechungen und
Beteuerungen über die Möglichkeit einer Verständigung mit den Groß-
kapitalisten: im besten Falle erreichen sie auf ganz kurze Zeit von den
Kapitalisten geringfügige Zugeständnisse für eine kleine Oberschicht der
werktätigen Massen, aber in allem Entscheidenden, in allem Wichtigen
war die kleinbürgerliche Demokratie stets im Schlepptau der Bourgeoisie,
ihr ohnmächtiges Anhängsel, ein gefügiges Werkzeug in den Händen der
Finanzkönige. Die Erfahrung Englands und Frankreichs hat dies viele
Male bestätigt.
Die Erfahrung der russischen Revolution, wo sich die Ereignisse, be-
sonders unter dem Einfluß des imperialistischen Krieges und der durch
ihn hervorgerufenen überaus tiefgehenden Krise, mit ungewöhnlicher
Schnelligkeit entwickelt haben, diese Erfahrung vom Februar bis Juli 1917
hat die alte marxistische Wahrheit von der schwankenden Haltung des
Kleinbürgertums außerordentlich klar und anschaulich bestätigt.
16*
244
Die Lehre der russischen Revolution ist: Es gibt für die werktätigen
Massen keine andere Rettung aus der eisernen Umklammerung des Krie-
ges, der Hungersnot, der Versklavung durch die Gutsbesitzer und Kapi-
talisten als den völligen Bruch mit den Parteien der Sozialrevolutionäre
und Menschewiki, als die klare Erkenntnis ihrer Verräterrolle, das Ab-
lehnen jedweden Paktierens mit der Bourgeoisie, den entschlossenen
Übergang auf die Seite der revolutionären Arbeiter. Einzig und allein
die revolutionären Arbeiter sind imstande, wenn sie von den armen
Bauern unterstützt werden, den Widerstand der Kapitalisten zu brechen,
das Volk zur Erkämpfung des Grund und Bodens ohne Entschädigung,
zur vollen Freiheit, zum Sieg über die Hungersnot, zum Sieg über den
Krieg, zu einem gerechten und dauerhaften Frieden zu führen.
NACHWORT
Dieser Artikel ist, wie aus dem Text ersichtlich, Ende Juli geschrieben
worden.
Der Verlauf der Revolution im August hat das im Artikel Gesagte völ-
lig bestätigt. Ende August brachte dann der Aufstand Korailows eine
neue Wendung der Revolution mit sich, indem er dem ganzen Volk an-
schaulich zeigte, daß die Kadetten im Bunde mit den konterrevolutionären
Generalen danach trachten, die Sowjets auseinanderzujagen und die
Monarchie wiederherzustellen. Wie stark diese neue Wendung der Revo-
lution ist, ob es ihr gelingen wird, der verhängnisvollen Politik des Pak-
tierens mit der Bourgeoisie ein Ende zu setzen, das wird die nahe Zukunft
zeigen . . .
6. September 1917
N. Lenin
ZUM AUFTRETEN KAMENEWS
IM ZENTRALEXEKUTIVKOMITEE IN DER FRAGE
DER STOCKHOLMER KONFERENZ 70
Die Rede des Gen. Kamen ew im Zentralexekutivkomitee am 6. August
in der Frage der Stockholmer Konferenz muß notwendig bei den ihrer
Partei und ihren Grundsätzen treuen Bolschewiki auf Widerspruch
stoßen.
Gleich im ersten Satz seiner Rede gab Gen. Kamenew eine formale
Erklärung ab, die sein Auftreten geradezu zu einer Ungeheuerlichkeit
macht. Gen. Kamenew macht den Vorbehalt, daß er im eigenen Namen
spreche, daß „unsere Fraktion diese Frage nicht behandelt“ habe.
Erstens, seit wann ist es in einer organisierten Partei üblich, daß ein-
zelne Mitglieder zu wichtigen Fragen „im eigenen Namen“ sprechen ; wenn
die Fraktion die Frage nicht behandelt hat, so hatte Gen. Kamenew nicht
das Recht aufzutreten. Das ist die erste Schlußfolgerung aus seinen eige-
nen Worten.
Zweitens, welches Recht hatte Gen. Kamenew, sich darüber hinwegzu-
setzen, daß ein Beschluß des ZK der Partei gegen eine Beteiligung in
Stockholm vorliegt. Solange dieser Beschluß nicht durch einen Parteitag
oder einen neuen Beschluß des ZK aufgehoben worden ist, bleibt er für
die Partei Gesetz. Wäre er aufgehoben, dann hätte Gen. Kamenew dies
nicht verschweigen dürfen, dann hätte er nicht in der Vergangenheits-
form sagen dürfen: „Wir Bolschewiki standen bisher der Stockholmer
Konferenz ablehnend gegenüber.“
Die Schlußfolgerung ist wiederum die, daß Kamenew nicht nur kein
Recht hatte aufzutreten, sondern daß er einen Parteibeschluß direkt ver-
letzte, direkt gegen die Partei gesprochen, ihrem Willen zuwidergehan-
delt hat, da er mit keinem Wort den für ihn bindenden Beschluß des ZK
246
W. I. Lenin
erwähnte. Dieser Beschluß aber war seinerzeit in der „Prawda" ver-
öffentlicht worden, sogar mit dem Zusatz, daß der Vertreter der Partei
die Konferenz der Zimmerwalder verlassen werde, wenn sie sich für eine
Beteiligung in Stockholm aussprechen sollte.*
Die Gründe für die „bisherige“ ablehnende Haltung der Bolschewiki
zur Teilnahme an der Stockholmer Konferenz hat Kamenew unrichtig
dargestellt. Er verschwieg, daß sich dort die Sozialimperialisten beteiligen
werden und daß der Umgang mit ihnen für einen revolutionären Sozial-
demokraten eine Schmach ist.
So traurig es auch ist. dies einzugestehen, muß doch zugegeben wer-
den, daß Starostin, der oft vieles durcheinanderbrachte, den Standpunkt
der revolutionären Sozialdemokratie tausendmal besser, richtiger und
würdiger zum Ausdruck gebracht hat als Kamenew. Sich auf Beratungen
mit den Sozialimperialisten, den Ministem, den Helfershelfern der Hen-
ker in Rußland einlassen - das ist eine Schmach, das ist Verrat. Von
Internationalismus aber kann dann schon gar keine Rede sein.
Kamenews sachliche Argumente für eine „Änderung“ unserer Ein-
stellung zu Stockholm sind lächerlich schwach.
„Es wurde uns klar“, sagte Kamenew, „daß Stockholm von diesem (??) Augen-
blick an aufhört (??), ein blindes Werkzeug in den Händen imperialistischer
Staaten zu sein.“
Das ist nicht wahr. Dafür liegt keine einzige Tatsache vor, und Kame-
new konnte nichts Ernsthaftes anführen. Wenn die englischen und fran-
zösischen Sozialimperialisten nicht hingehen, während die deutschen hin-
gehen, ist das denn eine prinzipielle Änderung?? Ist das denn vom Stand-
punkt eines Internationalisten aus überhaupt eine Änderung? Hat denn
Kamenew schon den Beschluß unserer Parteikonferenz (vom 29. April)
zu dem völlig analogen Fall mit dem dänischen Sozialimperialisten „ver-
gessen“?
„Ober Stockholm", führte Kamenew, wie die Zeitungen melden, weiter aus,
„beginnt das breite revolutionäre Banner zu wehen, unter dem sich die Kräfte des
Weltproletariats mobilisieren.“
Das ist eine ganz hohle Deklamation im Geiste von Tschemow und
Zereteli. Das ist eine himmelschreiende Unwahrheit. Nicht das revolu-
* Siehe Werke, Bd. 24. S. 385. Die Red.
Zum Auftreten Kamenews im Zentralexekutivkontitee . . .
247
tionäre Banner, sondern das Banner des Schachers, des Paktierens und
der Amnestie für die Sozialimperialisten, der Verhandlungen der Ban-
kiers über die Aufteilung der Annexionen - dieses Banner beginnt in
Wirklichkeit über Stockholm zu wehen.
Es darf nicht geduldet werden, daß die Partei der Internationalisten,
die vor der ganzen Welt die Verantwortung für den revolutionären Inter-
nationalismus trägt, sich durch Liebäugeln mit den Machenschaften der
russischen und deutschen Sozialimperialisten, mit den Machenschaften
der Minister der bürgerlichen imperialistischen Regierung der Tschemow,
Skobelew und Co. kompromittiert.
Wir haben beschlossen, die III. Internationale zu schaffen. Das müssen
wir allen Schwierigkeiten zum Trotz verwirklichen. Keinen Schritt zu-
rück zu Übereinkünften zwischen Sozialimperialisten und Überläufern
aus dem Lager des Sozialismus I
„Proletari" Nr. 3,
29. (16.) August 1917.
Unterschrift: N. Lenin.
Nach dem Text des .Proletari".
GERÜCHTE VON EINER VERSCHWÖRUNG
Die Notiz, die unter diesem Titel in Nummer 103 der „Nowaja
Shisn“ vom 17. August veröffentlicht wurde, verdient eine sehr ernst-
hafte Beachtung, und man muß sich (immer und immer wieder) mit ihr
beschäftigen, obwohl die Angelegenheit, die in dieser Notiz für etwas
Ernsthaftes ausgegeben wird, ganz und gar nicht ernst zu nehmen ist.
Der Inhalt der Notiz ist, daß sich in Moskau am 14. August das Ge-
rücht verbreitet hatte, einige Kosakenformationen marschierten von der
Front gegen Moskau, und zu gleicher Zeit organisierten „bestimmte mili-
tärische Gruppen, mit denen auch gewisse Gesellschaftskreise Moskaus
sympathisieren“, „entschlossene konterrevolutionäre Aktionen“. Angeb-
lich sollen ferner die Militärbehörden den Moskauer Sowjet der Arbei-
ter- und Soldatendeputierten davon in Kenntnis gesetzt und „unter Mit-
wirkung von Vertretern des Zentralexekutivkomitees“ (d. h. der Men-
schewiki und Sozialrevolutionäre) Maßnahmen getroffen haben, um den
Soldaten die Notwendigkeit einer Verteidigung der Stadt klarzumachen
u. dgl. m. Die Notiz schließt mit den Worten: „Zu diesen Vorbereitun-
gen wurden auch Vertreter der Moskauer Bolschewiki hinzugezogen, die
Einfluß in vielen Truppenteilen haben, zu denen ihnen aus diesem Anlaß
Zugang gewährt wurde.“
Dieser letzte Satz ist absichtlich unklar und zweideutig formuliert.
Wenn die Bolschewiki in vielen Truppenteilen Einfluß haben (was unbe-
streitbar und allgemein bekannt ist), wie konnte man dann, wer konnte
dann den Bolschewiki zu diesen Truppenteilen „Zugang gewähren“? Das
ist doch offenbar widersinnig. Hat man aber wirklich den Bolschewiki
„aus diesem Anlaß“ den „Zugang gewährt“ (wer denn? - offenbar die
Menschewiki und Sozialrevolutionäre!) zu irgendwelchen Truppenteilen,
Erste Seite von W. I. Lenins Manuskript
„Gerüchte von einer Verschwörung" - August 1917
Verkleinert
Gerüchte von einer Verschmorung 251
so bedeutet dies, daß ein gewisser Block, ein Bündnis, eine Vereinbarung
zwischen den Bolschewiki und den Vaterlandsverteidigem zur „Abwehr
der Konterrevolution“ bestanden hat.
Dieser Umstand eben gibt der nicht ernst zu nehmenden Notiz eine
ernste Bedeutung und verlangt von allen Massenbewußten Arbeitern, den
mitgeteilten Tatsachen die größte Aufmerksamkeit zu widmen.
Die Gerüchte, welche die Vaterlandsverteidiger, d. h. die Menschewiki
und Sozialrevolutionäre, verbreiten, sind ganz offenbar unsinnig, und
vollkommen klar ist die schmutzige und gemeine politische Absicht, mit
der diese Gerüchte verbreitet werden. Wirklich konterrevolutionär ist ja
gerade die Provisorische Regierung, die die Vaterlandsverteidiger angeb-
lich verteidigen wollen. In Wirklichkeit beorderte gerade die Proviso-
rische Regierung, darunter die „sozialistischen“ Minister, die Kosaken-
truppen von der Front in die Hauptstädte, z. B. am 3. Juli nach Petrograd,
was von dem Kosakengeneral Kaledin auf der Moskauer konterrevolutio-
nären imperialistischen Beratung auch formell bestätigt wurde. Das ist
eine Tatsache.
Diese Tatsache, die die Menschewiki und Sozialrevolutionäre entlarvt
und ihren Verrat an der Revolution, ihr Bündnis mit den Konterrevolutio-
nären, ihr Bündnis mit den Kaledin beweist, diese Tatsache möchten die
Menschewiki und Sozialrevolutionäre verwischen, vertuschen, vergessen
machen durch „Gerüchte“, daß Kosaken ohne Wissen von Kerenski,
Zereteli, Skobelew und Awksentjew gegen Moskau marschieren, daß die
Menschewiki und Sozialrevolutionäre „die Revolution verteidigen“
u. dgl. m. Die politische Absicht der verräterischen Menschewiki und
Vaterlandsverteidiger liegt klar auf der Hand: sie wollen die Arbeiter
betrügen, sich selbst für Revolutionäre ausgeben, irgend etwas über die
Bolschewiki erfahren (selbstverständlich, um es an den Abwehrdienst
weiterzugeben), wollen ihr eigenes Ansehen etwas aufbessem! Diese Ab-
sicht ist ebenso niederträchtig wie durchsichtig! Auf billige Art möchten
sie durch Ausstreuen alberner „Gerüchte“ „Zugang“ zu den bolschewisti-
schen Truppenteilen erhalten und allgemein das Vertrauen zur Proviso-
rischen Regierung stärken, indem sie naive Menschen glauben machen,
die Kosaken wollten diese Regierung stürzen, die nicht im Bunde
mit den Kosaken sei, sondern „die Revolution verteidige“ und so weiter
und so fort.
252
W.I. Lettin
Die Absicht liegt auf der Hand. Die Gerüdite sind zwar unsinnig und
aus der Luft gegriffen. Doch, so urteilen die Vaterlandsverteidiger, wir fe-
stigen auf diese Weise das Vertrauen zur Provisorischen Regierung und
ziehen so nebenbei auch noch die Bolschewiki in einen „Block“mit uns hinein 1
Es ist schwer zu glauben, daß sich unter den Bolschewiki solche Ein-
faltspinsel und Schufte finden könnten, die sich jetzt zu einem Blöde
mit den Vaterlandsverteidigem hergeben würden. Es ist schwer, das zu
glauben, denn erstens liegt eine unzweideutige Resolution des VI. Partei-
tags der SDAPR 71 vor, in der gesagt wird (siehe „Proletari“ 72 Nr. 4),
daß „die Menschewiki endgültig ins Lager der Feinde des Proletariats
übergegangen sind“. Mit Leuten, die endgültig ins Lager der Feinde
übergegangen sind, verhandelt man nicht, mit ihnen bildet man keine
Blödes. „Die wichtigste Aufgabe der revolutionären Sozialdemokratie“,
heißt es in derselben Resolution weiter, „ist ihre“ (der menschewistischen
Vaterlandsverteidiger) „vollständige Isolierung von allen audi nur eini-
germaßen revolutionären Elementen der Arbeiterklasse." Es ist klar, daß
die Menschewiki und Sozialrevolutionäre durch das Ausstreuen unsin-
niger Gerüchte gegen diese Isolierung ankämpfen. Es ist klar, daß sich
in Moskau wie in Petrograd die Arbeiter immer mehr von den Mensche-
wiki und Sozialrevolutionären abwenden, weil sie ihre verräterische, kon-
terrevolutionäre Politik immer mehr durchschauen, daß also die Vater-
landsverteidiger, um die „Sache einzurenken“, „alle Minen springen
lassen“ müssen.
Da eine solche Parteitagsresolution vorliegt, würden die Bolschewiki,
die sich mit den Vaterlandsverteidigem über die „Gewährung von Zu-
gang“ verständigten oder indirekt der Provisorischen Regierang (die an-
geblich gegen die Kosaken verteidigt werden soll) das Vertrauen aus-
sprächen, würden solche Bolschewiki selbstverständlich sofort - und das
mit Recht - aus der Partei ausgeschlossen werden.
Es ist aber auch noch aus anderen Gründen schwer zu glauben, daß
sich in Moskau oder sonstwo Bolschewiki finden könnten, die sich auf
einen Block mit den Vaterlandsverteidigem, auf die Bildung irgendwel-
cher ähnlicher gemeinsamer, wenn auch zeitweiliger Organe, auf irgend-
welche Verständigung u. dgl. m. einlassen würden. Nehmen wir den
besten Fall an für solche Bolschewiki, die es wahrscheinlich gar nicht gibt :
nehmen wir an, sie glaubten in ihrer Naivität tatsächlich an die von den
Gerüchte von einer Verschmorung 253
Menschewiki und Sozialrevolutionären ausgestreuten Gerüdite, nehmen
wir sogar an, man teilte ihnen irgendweldie ebenfalls aus der Luft ge-
griffene „Tatsachen“ mit, um ihnen Vertrauen einzuflößen. Es ist klar,
daß auch in diesem Falle kein ehrlicher Bolschewik, kein Bolschewik, der
nicht vollständig den Kopf verloren hat, für irgendeinen Block mit den
Vaterlandsverteidigem, für irgendein Abkommen über „Gewährung von
Zugang“ u. dgl. m. zu haben wäre. Sogar in diesem Falle würde jeder
Bolschewik sagen: Unsere Arbeiter, unsere Soldaten werden gegen die
konterrevolutionären Truppen kämpfen, wenn diese jetzt eine Offensive
gegen die Provisorische Regierung beginnen, sie werden aber nicht diese
Regierung verteidigen, die am 3. Juli Kaledin und Co. herbeigerufen hat,
sondern sie werden selbständig die Revolution verteidigen und ihre eige-
nen Ziele verfolgen, den Sieg der Arbeiter, den Sieg der Armen, den
Sieg der Sache des Friedens, nicht aber den Sieg der Imperialisten, der
Kerenski, Awksentjew, Zereteli, Skobelew und Co. Sogar in dem sehr
unwahrscheinlichen Fall, den wir oben voraussetzten, würde ein Bol-
schewik den Menschewiki sagen: Selbstverständlich werden wir kämp-
fen, wir werden uns aber auf keinerlei politisches Bündnis mit euch, auf
keinerlei Vertrauensvotum für euch einlassen - genauso wie die Sozial-
demokraten im Februar 1917 mit den Kadetten zusammen gegen den
Zarismus kämpften, ohne mit ihnen irgendein Bündnis zu schließen, ohne
ihnen auch nur einen Augenblick lang Glauben zu schenken. Das geringste
Vertrauen zu den Menschewiki wäre heute ein ebensolcher Verrat an der
Revolution, wie es das Vertrauen zu den Kadetten in den Jahren 1905 bis
1917 gewesen wäre.
Ein Bolschewik würde zu den Arbeitern und Soldaten sagen: Kämpfen
wir, aber keine Spur von Vertrauen zu den Menschewiki, wenn ihr euch
nicht selbst um die Früchte des Sieges bringen wollt.
Es ist für die Menschewiki nur allzu vorteilhaft, falsche Gerüchte und
Mutmaßungen in Umlauf zu setzen, so, als rette die von ihnen unter-
stützte Regierung die Revolution, wo diese in Wirklichkeit bereits einen
Bloch mit den Kaledin gebildet hat, bereits konterrevolutionär ist, bereits
eine Menge Schritte zur Erfüllung der Bedingungen dieses ihres Blocks
mit Kaledin getan hat und täglich aufs neue tut.
Wenn die Bolschewiki diesen Gerüchten glaubten, sie direkt oder indi-
rekt bestärkten, so käme das einem Verrat an der Revolution gleich. Das
254
W. I. Lettin
wichtigste Unterpfand eines Erfolgs der Revolution ist jetzt, daß die
Massen den Verrat der Menschewiki und Sozialrevolutionäre deutlich
erkennen und mit ihnen gänzlich brechen, daß alle revolutionären Prole-
tarier sie ebenso konsequent boykottieren, wie die Kadetten nach den
Erfahrungen des Jahres 1905 boykottiert wurden.
((Diesen Artikel bitte ich in mehreren Exemplaren abzuschreiben, ihn
einigen Parteizeitungen und Parteizeitschriften zum Abdruck zu schicken
und gleichzeitig in meinem Namen mit folgender Nachschrift dem ZK
vorzulegen:
Ich bitte den vorliegenden Artikel als meinen Bericht an das ZK zu
betrachten mit dem ergänzenden Vorschlag, vom ZK aus eine offizielle
Untersuchung einzuleiten unter Beteiligung von Moskauern, die nicht
Mitglieder des ZK sind, um festzustellen, ob es gemeinsame Organe der
Bolschewiki und der Vaterlandsverteidiger auf dieser Basis gegeben hat, ob
es Blocks oder Abkommen gegeben hat und worin diese bestanden haben
usw. Es ist notwendig, offiziell die Tatsachen und Einzelheiten zu unter-
suchen und alles ausführlich festzustellen. Sollte sich das Vorhandensein
eines Blocks als Tatsache erweisen, so müssen die dafür verantwortlichen
Mitglieder des ZK oder des Moskauer Komitees unbedingt von der Arbeit
suspendiert und die Frage ihrer Funktionsenthebung in aller Form noch
vor dem Parteitag dem nächsten Plenum des ZK vorgelegt werden. Denn
gerade jetzt, nach der Moskauer Beratung, nach dem Streik, nach dem
3. bis 5. Juli, erlangt Moskau die Bedeutung des Zentrums oder kann- sie
erlangen. In diesem riesigen proletarischen Zentrum, das größer ist als
Petrograd, ist das Anwachsen einer Bewegung von der Art der vom
з. bis 5. Juli durchaus möglich. Damals in Petrograd lautete die Aufgabe,
den friedlichen und organisierten Charakter zu wahren. Das mar eine
richtige Losung. In Moskau lautet jetzt die Aufgabe ganz anders; die
alte Losung wäre vollkommen falsch. Jetzt wäre die Aufgabe, selbst die
Macht zu ergreifen und sich selbst zur Regierung zu erklären mit den
Losungen: Frieden, das Land den Bauern, Einberufung der Konstituieren-
den Versammlung zur festgesetzten Frist bei Vereinbarung mit den
Bauern im Lande draußen usw. Es ist sehr leicht möglich, daß infolge der
Arbeitslosigkeit, des Hungers, des Eisenbahnerstreiks, der Zerrüttung
и. dgl. m. eine solche Bewegung in Moskau aufflammt. Da ist es äußerst
Gerüchte von einer Verschwörung 255
wichtig, daß in Moskau Leute „am Ruder“ sind, die nicht nach rechts
schwanken, die zu keinem Block mit den Menschewiki fähig sind und
die, wenn die Bewegung einsetzt, die neuen Aufgaben, die neue Losung
der Machtergreifung und die neuen Mittel und Wege hierzu begreifen.
Darum ist eine „Untersuchung“ der Blodcangelegenheit und der Tadel
an den bolschewistischen Blockisten, wenn es solche gegeben hat, sowie
ihre Entfernung, nicht nur um der Disziplin willen, nicht nur zur Wieder-
gutmachung der bereits begangenen Dummheit notwendig, sondern im
ureigensten Interesse der künftigen Bewegung unerläßlich. Der
Streik vom 12. August in Moskau hat bewiesen, daß das aktive Prole-
tariat für die Bolschewiki eintritt, ungeachtet der Mehrheit der Sozial-
revolutionäre bei den Wahlen zur Duma. Das ist der Situation in Petro-
grad vor dem 3. bis 5. Juli 1917 sehr ähnlich. Es besteht aber ein gewal-
tiger Unterschied: in Petrograd war man damals nicht einmal physisch
in der Lage, die Macht zu ergreifen, und hätte man sie physisch ergriffen,
so hätte man sie politisch nicht halten können, da Zereteli und Co. damals
noch nicht bis zur Unterstützung des Henkertums hinabgesunken waren.
Darum wäre damals, am 3. bis 5. Juli 1917 in Petrograd, die Losung der
Machtergreifung falsch gewesen. Damals fehlte sogar bei den Bolschewiki
noch die bewußte Entschlossenheit - das konnte auch nicht anders sein -,
Zereteli und Co. als Konterrevolutionäre zu behandeln. Damals konnten
weder die Soldaten noch die Arbeiter die Erfahrung besitzen, die ihnen
der Monat Juli gebracht hat.
Jetzt liegen die Dinge ganz anders. Wenn es jetzt in Moskau zum
Ausbruch einer spontanen Bewegung kommt, muß die Losung gerade die
Machtergreifung sein. Darum ist es ganz besonders wichtig, daß in Mos-
kau geeignete Leute die Bewegung leiten, die diese Losung restlos be-
griffen und wirklich durchdacht haben. Darum muß man immer und
immer wieder eine Untersuchung fordern und darauf bestehen, daß die
Schuldigen entfernt werden.))
Geschrieben am 18./ 19. August
(31. August/1. September) 1917.
Zuerst veröffentlicht 1928 Nach dem Manuskript,
im Lenin-Sammelband VII.
SIE SEHEN DEN WALD
VOR LAUTER BÄUMEN NICHT
In der Sitzung des Zentralexekutivkomitees der Sowjets am 4. August
sagte L. Martow (wir zitieren nach dem Bericht der „Nowaja Shisn“) :
„Zeretelis Kritik ist zu milde“, „die Regierung leistet gegen die konter-
revolutionären Anschläge der Militärkreise keinen Widerstand“ und „es
gehört nicht zu unseren Zielen, die jetzige Regierung zu stürzen oder das
Vertrauen zu ihr zu untergraben . . .“ „Das reale Kräfteverhältnis“, fuhr
Martow fort, „bietet jetzt keine Grundlage, den Übergang der Macht an
die Sowjets zu fordern. Dies könnte sich nur im Verlauf eines Bürger-
kriegs ergeben, der aber zur Zeit unzulässig ist.“ „Wir beabsichtigen nicht,
die Regierung zu stürzen“, schließt Martow, „doch wir müssen sie darauf
aufmerksam machen, daß es im Lande außer den Kadetten und Militärs
noch andere Kräfte gibt. Es sind das die Kräfte der revolutionären Demo-
kratie, und auf diese muß sich die Provisorische Regierung stützen.“
Diese Betrachtungen Martows sind beachtenswert, und es lohnt sich,
ihnen die volle Aufmerksamkeit zu widmen. Beachtenswert sind sie des-
halb, weil sie außergewöhnlich plastisch die meistverbreiteten, schädlich-
sten und gefährlichsten politischen Irrtümer der kleinbürgerlichen Masse,
ihre typischsten Vorurteile wiedergeben. Unter allen Vertretern dieser
Masse ist Martow als Publizist sicher einer der am weitesten „links“
stehenden, einer der revolutionärsten, politisch bewußtesten und geschick-
testen. Eben deshalb ist es nützlicher, gerade Martows Betrachtungen zu
analysieren als etwa die irgendeines mit leeren Phrasen paradierenden
Tschemow, die eines bornierten Zereteli und anderer. Wenn wir Mar-
tows Betrachtungen analysieren, so analysieren wir das, was zur Zeit an
den Ideen des Kleinbürgertums das Vernünftigste ist.
Sie sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht
257
Äußerst bezeichnend sind vor allem Martows Schwankungen in der
Frage des Übergangs der Macht an die Sowjets. Vor dem 4. Juli war
Martow gegen diese Losung, nach dem 4. Juli ist er für sie. Anfang
August ist er wieder dagegen, und man beachte, wie unglaublich un-
logisch, wie komisch seine Argumentation vom Standpunkt des Marxis-
mus aus ist. Er ist gegen die Übernahme der Macht, denn „das reale
Kräfteverhältnis bietet jetzt keine Grundlage, den Übergang der Macht
an die Sowjets zu fordern. Dies könnte sich nur im Verlauf eines Bür-
gerkriegs ergeben, der aber zur Zeit unzulässig ist.“
Eine schöne Verwirrung. Danach war also vor dem 4. Juli der Über-
gang der Macht an die Sowjets ohne Bürgerkrieg möglich (das ist die
lautere Wahrheit!) - aber gerade damals war Martow gegen den Über-
gang . . . Danach soll zweitens nach dem 4. Juli, als Martow für den
Übergang der Macht an die Sowjets war, dies ohne Bürgerkrieg möglich
gewesen sein. Das entspricht nicht den Tatsachen und ist eine offenkun-
dige, himmelschreiende Unwahrheit, denn gerade in der Nacht vom 4.
zum 5. Juli riefen die Bonapartisten mit Unterstützung der Kadetten und
nicht ohne die Lakaiendienste von Tschemow und Zereteli konterrevolu-
tionäre Truppen nach Petrograd. Unter solchen Umständen wäre es abso-
lut unmöglich gewesen, die Macht auf friedlichem Wege zu übernehmen.
Drittens schließlich soll nach Martow ein Marxist oder auch nur ein-
fach ein revolutionärer Demokrat berechtigt sein, eine den Interessen des
Volkes und der Revolution voll entsprechende Losung aus dem Grunde
aufzugeben, weil diese „nur im Verlauf eines Bürgerkriegs . . .“ verwirk-
licht werden könnte. Aber das ist doch offenkundiger Widersinn, offen-
kundiger Verzicht auf jeden Klassenkampf, auf jede Revolution. Denn
wer weiß etwa nicht, daß uns die Geschichte aller Revolutionen der Welt
die nicht zufällige, sondern unvermeidliche Verwandlung des Klassen-
kampfes in den Bürgerkrieg lehrt? Wer weiß etwa nicht, daß wir in
Rußland gerade seit dem 4. Juli den Beginn eines von der konterrevolu-
tionären Bourgeoisie ausgehenden Bürgerkriegs erleben, die Entwaffnung
von Regimentern, Erschießungen an der Front und Ermordungen von
Bolschewiki. Der Bürgerkrieg soll also für die revolutionäre Demokratie
gerade dann „unzulässig“ sein, wenn der Gang der Ereignisse mit uner-
bittlicher Notwendigkeit dazu geführt hat, daß die konterrevolutionäre
Bourgeoisie ihn eröffnete.
Lenin, Werke. Bd. 25
258
W. I. Lenin
Martow ist höchst lächerlidi und hilflos in eine unglaubliche Verwir-
rung geraten.
Um diese Verwirrung zu entwirren, muß man sagen:
Gerade bis zum 4. Juli war die Losung des Übergangs der gesamten
Macht an die damaligen Sowjets die einzig richtige. Damals wäre dies
noch auf friedlichem Wege, ohne Bürgerkrieg möglich gewesen, denn
damals gab es noch nicht die systematischen Gewaltmaßnahmen gegen
die Massen, gegen das Volk, wie sie nach dem 4. Juli angewandt werden.
Damals hätte dies eine friedliche Weiterentwicklung der ganzen Revolu-
tion gesichert und insbesondere ein friedliches Austragen des Kampfes
der Klassen und Parteien innerhalb der Sowjets ermöglicht.
Nach dem 4. Juli ist der Übergang der Macht an die Sowjets ohne. Bür-
gerkrieg unmöglich geworden, weil die Macht seit dem 4. und 5. Juli an
die bonapartistische Militärclique übergegangen ist, die von den Kadetten
und den Schwarzhundertem unterstützt wird. Daraus folgt, daß nun-
mehr alle Marxisten, alle Anhänger des revolutionären Proletariats, alle
ehrlichen revolutionären Demokraten die Pflidit haben, die Arbeiter und
Bauern über diese grundlegende Veränderung der Lage aufzuklären, die
einen anderen Weg des Übergangs der Macht an die Proletarier und
Halbproletarier nötig macht.
Martow hat keine Argumente angeführt zur Begründung seines „Ge-
dankens“, daß der Bürgerkrieg „zur Zeit“ unzulässig sei, zur Begrün-
dung seiner Erklärung, wonach er nicht das Ziel verfolge, „die jetzige
Regierung zu stürzen“. Ohne Motivierung aber läuft seine Meinung, be-
sonders wenn sie in einer Versammlung von Vaterlandsverteidigern ge-
äußert wird, unvermeidlich auf das Argument der Vaterlandsverteidiger
hinaus: der Bürgerkrieg im Innern sei unzulässig, weil der äußere Feind
drohe.
Wir wissen nicht, ob Martow es wagen würde, ein solches Argument
offen vorzubringen. Unter der Masse des Kleinbürgertums ist es eins der
geläufigsten Argumente, allerdings auch eins der abgeschmacktesten. Die
Bourgeoisie fürchtete weder im September 1870 in Frankreich noch
im Februar 1917 in Rußland den Bürgerkrieg und die Revolution, ob-
wohl ein äußerer Feind drohte. Die Bourgeoisie hat nicht gefürchtet, die
Macht um den Preis des Bürgerkriegs an sich zu reißen, obwohl ein
äußerer Feind drohte. Das revolutionäre Proletariat wird sich ebenso-
Sie sehen den 'Wald vor lauter Bäumen nicht
259
wenig an dieses „Argument“ der Lügner und der Lakaien der Bourgeoisie
kehren.
Einer der haarsträubendsten theoretischen Fehler, den Martow begeht
und der auch für den ganzen politischen Ideenkreis des Kleinbürgertums
äußerst typisch ist, besteht in der Verwechslung der zaristischen, über-
haupt der monarchistischen Konterrevolution mit der bürgerlichen Kon-
terrevolution. Darin zeigt sich gerade die spezifische Borniertheit, die spe-
zifische Beschränktheit des kleinbürgerlichen Demokraten, der sich aus
seiner wirtschaftlichen, politischen und ideologischen Abhängigkeit von
der Bourgeoisie nicht befreien kann, der Bourgeoisie den Vortritt läßt, in
ihr das „Ideal“ sieht und ihr Gezeter über die Gefahr der „Konterrevo-
lution von rechts“ ernst nimmt.
Diesen Ideenkreis oder besser diese Beschränktheit des Kleinbürger-
tums brachte Martow zum Ausdruck, als er in seiner Rede sagte: „Wir
müssen als Gegengewicht zu dem gegen sie (die Regierung) von rechts
ausgeübten Druck einen Gegendruck schaffen.“
Das ist ein Musterstück philisterhafter Vertrauensseligkeit und der
Ignorierung des Klassenkampfes. Die Regierung steht danach gewisser-
maßen über den Klassen, über den Parteien, es wird nur ein zu starker
„Druck“ von rechts auf sie ausgeübt, man muß also stärker von links her
drücken. Oh, höchste Weisheit, würdig, eines Louis Blanc, Tschemow,
Zereteli und dieser ganzen verächtlichen Sippschaft. Wie unendlich vor-
teilhaft ist doch diese Philisterweisheit für die Bonapartisten, wie gern
wollen sie dem „dummen Bäuerlein“ die Sache gerade so darstellen, als
kämpfe die gegenwärtige Regierung sowohl gegen rechts als auch gegen
links, als kämpfe sie nur gegen die Extreme, als verwirkliche sie die
wahre Staatlichkeit, als setze sie die wahre Demokratie in die Tat um.
In Wirklichkeit ist jedoch gerade diese bonapartistische Regierung die
Regierung der konterrevolutionären Bourgeoisie.
Für die Bourgeoisie ist es vorteilhaft (und zur Verewigung ihrer Herr-
schaft notwendig), das Volk irrezuführen und die Sache so darzustellen,
als verkörpere sie „die Revolution überhaupt, während von rechts, vom
Zaren, die Konterrevolution droht“. Nur durch die grenzenlose Borniert-
heit der Dan und Zereteli, durch die grenzenlose Selbstgefälligkeit der
Tschemow und Awksentjew hält sich dieser von den Lebensbedingungen
17*
260 W, I. Lenin
des Kleinbürgertums genährte Gedanke überhaupt in den Kreisen der
„revolutionären Demokratie“.
Jeder aber, der aus der Geschichte oder aus der marxistischen Lehre
auch nur das mindeste gelernt hat, muß zugeben, daß an die Spitze einer
politischen Analyse die Klassenfrage gestellt werden muß : Um die Revo-
lution welcher Klasse oder um die Konterrevolution welcher Klasse han-
delt es sich?
Frankreichs Geschichte zeigt uns, daß die bonapartistische Konterrevo-
lution Ende des 18. Jahrhunderts (und dann zum zweitenmal in den Jah-
ren 1848-1852) auf dem Boden der konterrevolutionären Bourgeoisie
entstanden ist und ihrerseits der Restauration der legitimen Monarchie
den Weg bahnte. Der Bonapartismus ist eine Regierungsform, die hervor-
wächst aus dem konterrevolutionären Wesen der Bourgeoisie in einer Zeit
der demokratischen Umgestaltungen und der demokratischen Revolu-
tion.
Man muß schon absichtlich die Augen schließen, um nicht zu sehen,
wie der Bonapartismus in Rußland unter sehr ähnlichen Bedingungen vor
unseren Augen heranwächst. Die zaristische Konterrevolution ist gegen-
wärtig ganz belanglos, sie hat nicht die geringste politische Bedeutung und
spielt politisch überhaupt keine Rolle. Das Schreckgespenst der zaristi-
schen Konterrevolution wird von Scharlatanen absichtlich vorgeschoben
und aufgebauscht, um damit den Dummen Angst einzujagen, den Phili-
stern eine politische Sensation zu bieten und die Aufmerksamkeit des
Volkes von der wirklichen, ernsthaften Konterrevolution abzulenken.
Man kann nicht ohne zu lachen die Betrachtungen irgendeines Sarudny
lesen, der sich wichtigtuerisch bemüht, der konterrevolutionären Rolle
irgendeiner Hinterhofvereinigung, „Heiliges Rußland“ genannt, Gewicht
beizumessen, der aber die konterrevolutionäre Rolle der Vereinigung der
gesamten Bourgeoisie Rußlands, genannt Kadettenpartei, „nicht bemerkt“.
Die Kadettenpartei ist die politische Hauptkraft der bürgerlichen Kon-
terrevolution in Rußland. Diese Kraft hat es ausgezeichnet verstanden,
alle Schwarzhunderter um sich zu scharen, sowohl bei den Wahlen als
auch (was noch wichtiger ist) im Apparat der Militär- und Zivilverwaltung
und bei dem Lügen-, Verleumdungs- und Hetzfeldzug der Presse, der sich
zuerst gegen die Bolschewiki, d. h. gegen die Partei des revolutionären
Proletariats, und dann gegen die Sowjets richtete.
Sie sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht
261
Die jetzige Regierung führt allmählich, aber beharrlich gerade jene
Politik durch, die die Kadettenpartei seit März 1917 systematisch propa-
giert und vorbereitet hat. Wiederaufnahme und Hinziehen des imperia-
listischen Krieges, Einstellen des „Geschwätzes“ vom Frieden, Ermächti-
gung der Minister, Zeitungen, dann Tagungen zu verbieten, sodann Ver-
haftungen und Ausweisungen vorzunehmen, Wiedereinführung der To-
desstrafe, Erschießungen an der Front, Entwaffnung von Arbeitern und
revolutionären Regimentern, Überschwemmung der Hauptstadt mit kon-
terrevolutionären Truppen, Beginn von Verhaftungen und Verfolgun-
gen von Bauern wegen eigenmächtiger „Besitzergreifungen“, Stillegen von
Fabriken und Aussperrungen - das ist die bei weitem noch nicht voll-
ständige Liste der Maßnahmen, die uns in aller Klarheit das Bild der
büigerlichen Konterrevolution des Bonapartismus vor Augen führen.
Und der Aufschub des Termins zur Einberufung der Konstituierenden
Versammlung, die „Krönung“ der bonapartistischen Politik durch den
„Semski Sobor“ in Moskau, dieser Übergangsschritt zum Aufschub der
Konstituierenden Versammlung bis nach Kriegsende, ist das nicht ein
Glanzstück bonapartistischer Politik? Doch Martow sieht nicht, wo der
Generalstab der bürgerlichen Konterrevolution sitzt . . . Wahrlich, sie
sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht.
Welch unendlich schmutzige Lakaienrolle hat das ZEK der Sowjets,
d. h. die dort herrschenden Sozialrevolutionäre und Menschewiki, beim
Aufschub der Konstituierenden Versammlung gespielt! Die Kadetten
gaben den Ton an, warfen den Gedanken der Verschiebung auf, eröff-
neten eine Pressekampagne und schoben einen Kosakenkongreß mit der
Forderung nach Aufschub vor. (Ein Kosakenkongreß! Wie sollten da die
Liber, Awksentjew, Tschemow und Zereteli nicht Lakaiendienste leisten I)
Die Menschewiki und Sozialrevolutionäre liefen hinter den Kadetten her
und krochen auf den Pfiff des Herrn zu Kreuze, wie Hunde, denen die
Peitsche droht.
Statt dem Volke an Hand einfacher, realer Tatsachen zu zeigen, wie
schamlos frech die Kadetten die Einberufung der Konstituierenden Ver-
sammlung seit März hinausgezögert und hintertrieben haben, statt die
verlogenen Ausflüchte und Versicherungen der Kadetten zu entlarven.
262
W. I. Lenin
daß es unmöglich sei, die Konstituierende Versammlung zur festgesetzten
Frist einzuberufen, statt dessen warf das Büro des ZEK rasch alle „Zwei-
fel“ beiseite, die sogar von Dan (sogar von Dan!) geäußert worden
waren, und das Lakaienkollegium entsandte zwei Lakaien, Bramson und
Bronsow, zur Provisorischen Regierung mit einem Bericht „über die Not-
wendigkeit einer Verschiebung der Wahlen zur Konstituierenden Ver-
sammlung bis zum 28./29. Oktober . . Ein wunderbares Vorspiel zur
Krönung der Bonapartisten durch den „Semski Sobor“ in Moskau. Wer
noch nicht den letzten Grad der Gemeinheit erreicht hat, muß sich um
die Partei des revolutionären Proletariats scharen. Ohne den Sieg des
Proletariats gibt es für das Volk keinen Frieden, für die Bauern kein
Land, für die Arbeiter und alle Werktätigen kein Brot.
„ Proletari ' Nr. 6, Nach dem Text des . Proletari
1. September (19. August) 1917.
Unterschrift: N.Karpom.
POLITISCHE ERPRESSUNG
Man nennt es Erpressung, wenn jemand unter der Drohung Geld
fordert, irgendwelche Tatsachen oder erfundene .Geschichten“, die dem
Betroffenen unangenehm sein könnten, zu enthüllen oder ihm irgend-
welche anderen Unannehmlichkeiten zu bereiten.
Eine politische Erpressung ist die Androhung von Enthüllungen oder
die Enthüllung tatsächlicher, häufiger aber erfundener „Geschichten“, um
den Gegner politisch zu schädigen, zu verleumden, ihm die Möglichkeit
der politischen Betätigung zu nehmen oder ihm diese Betätigung zu er-
schweren.
Unsere republikanischen und sogar, mit Verlaub zu sagen, demokrati-
schen Bürger und Kleinbürger haben sich als Helden der politischen Er-
pressung entpuppt und eine „Kampagne“ von Verdächtigungen, Lügen und
Verleumdungen gegen die ihnen nicht genehmen Parteien und Politiker
eröffnet. Die Verfolgungsmethoden des Zarismus waren brutal, bestialisch
und grausam, die der republikanischen Bourgeoisie sind schmutzig ; sie
bemüht sich, die ihr verhaßten proletarischen Revolutionäre und Inter-
nationalisten durch Verleumdung und Lüge, Unterstellungen und Ver-
dächtigungen, durch Gerüchte und so weiter und so fort zu besudeln.
Besonders den Bolschewiki ist die Ehre zuteil geworden, diese Art Ver-
folgung durch die republikanischen Imperialisten am eigenen Leibe zu
erfahren. Überhaupt kann der Bolschewik folgenden bekannten Ausspruch
des Dichters auf sich beziehen:
Nicht an des Lobes sanft Tribut,
Am wilden Haßgeschrei der Wut
Erkennet er des Beifalls Stimme. 73
264
W. I. Lenin
Ein wildes Haßgeschrei der Wut erhob sich fast sofort nach dem
Beginn der russischen Revolution in der gesamten bürgerlichen und fast
in der gesamten kleinbürgerlichen Presse gegen die Bolschewiki. Und der
Bolschewik, der Internationalist, der Verfechter der proletarischen Revo-
lution kann tatsächlich an diesem wilden Haßgeschrei der Wut die Stimme
des Beifalls „erkennen", denn der wilde Haß der Bourgeoisie ist oft der
beste Beweis dafür, daß der Verleumdete, gegen den man hetzt und den
man verfolgt, richtig und ehrlich dem Proletariat dient.
Daß die verleumderischen Methoden der Bourgeoisie der Erpressung
dienen, können wir besonders anschaulich an einem Beispiel zeigen, das
nidtt unsere Partei betrifft, an dem Beispiel des Sozialrevolutionärs
Tschemow. Notorische Verleumder, Mitglieder der Kadettenpartei, an
ihrer Spitze Miljukow und Hessen, die Tschemow einschüchtem und
verjagen wollten, inszenierten gegen ihn eine Hetze, weil er im Ausland
angeblich „defätistische“ Artikel veröffentlicht habe und in Beziehungen
zu Leuten stehe, die von Agenten des deutschen Imperialismus Geld er-
halten haben sollen. Eine Hetze entbrannte, die von der gesamten bürger-
lichen Presse aufgegriffen wurde.
Doch dann „einigten sich“ die Kadetten und die Sozialrevolutionäre
über eine bestimmte Zusammensetzung der Regierung. Und - o Wun-
der! - die „Affäre“ Tschemow ward abgetan!! Innerhalb weniger Tage
verschwand die „Affäre“ Tschemow ohne Gerichtsverfahren, ohne Unter-
suchung, ohne Veröffentlichung der Dokumente, ohne Befragung der
Zeugen und ohne Gutachten von Sachverständigen. Als die Kadetten
mit Tschemow unzufrieden waren, entstand die auf Verleumdung be-
ruhende „Affäre“ Tschemow. Als die Kadetten sich, wenn auch nur vor-
übergehend, mit Tschemow politisch „einigten“, verschwand die „Affäre“.
Hier haben wir einen klaren Fall von politischer Erpressung vor uns.
Die Zeitungshetze gegen bestimmte Personen, die Verleumdungen und
Verdächtigungen dienen der Bourgeoisie und solchem Gesindel wie den
Miljukow, Hessen, Saslawski, Dan und anderen als Waffe im politischen
Kampf und als Mittel der politischen Rache. Ist das politische Ziel er-
reicht, dann ist die gegen X und Y inszenierte „Affäre“ „abgetan“; das
beweist die Schmutzigkeit, die niederträchtige Unehrlichkeit und das er-
presserische Tun derer, die die „Affäre“ in Szene setzten.
Denn es ist klar, daß keine politischen Veränderungen einen Men-
Politisdie Erpressung
265
sdien, der kein Erpresser ist, zwingen können, Enthüllungen einzustellen,
die auf ehrlichen Absichten beruhen ; es ist klar, daß ein Mensch, der kein
Erpresser ist, auf jeden Fall seine Enthüllungen zum Abschluß bringen und
nicht rasten würde, bis ein Gerichtsurteil gesprochen ist, bis die Öffent-
lichkeit aufs eingehendste informiert ist. bis alle Dokumente gesammelt
und veröffentlicht sind, oder bis er einsieht, daß er sich geirrt hat oder
daß ein Mißverständnis vorlag, und das offen und ehrlich eingesteht.
Das Beispiel Tschemows, der kein Bolschewik ist, zeigt uns anschaulich
das wahre Wesen des Erpressungsfeldzugs der bürgerlichen und klein-
bürgerlichen Presse gegen die Bolschewiki. Als diesen Rittern und Hand-
langem des Kapitals ihr politisches Ziel erreicht schien, als die Bolsche-
wiki verhaftet und ihre Zeitungen verboten waren, da verstummten die
Erpresser! Die Helden des Feldzugs gegen die Bolschewiki. die Miljukow
und Hessen, die Saslawski und Dan, die alle Mittel zur Enthüllung der
Wahrheit in Händen hatten: die Presse, Geld, die Hilfe der Bourgeoisie
im Ausland, die Unterstützung durch die „öffentliche Meinung“ des ge-
samten bürgerlichen Rußlands, die freundschaftliche Hilfe der Staats-
gewalt eines der größten Staaten der Welt - da verstummten sie, die alle
diese Mittel in Händen hatten.
Jeder ehrliche Mensch erkennt nun, was die klassenbewußten Arbeiter,
die das Leben selbst lehrt, die Methoden der Bourgeoisie rasch zu be-
greifen. sofort erkannt haben, nämlich daß die Miljukow und Hessen, die
Saslawski und Dan usw. usf. politisdie Erpresser sind. Das muß ein für
allemal festgestellt, den Massen auseinandergesetzt und täglich in der
Zeitung veröffentlicht werden ; man muß Dokumente, die das beweisen,
zu einer Broschüre zusammenstellen, die Erpresser müssen boykottiert
werden usw. usf. Das sind die des Proletariats würdigen Methoden im
Kampf gegen Verleumdung und Erpressung!
Eins der letzten Opfer der Erpressung ist unser Genosse Kamenew.
Er hat sich bis zur Untersuchung der Angelegenheit „von der öffentlichen
Tätigkeit zurückgezogen“. Unseres Erachtens ist das ein Fehler. Gerade
das haben die Erpresser bezweckt. Sie wollen die Angelegenheit gar nicht
untersuchen. Es hätte genügt, wenn Kamenew dem Gesindel das Ver-
trauen seiner Partei entgegengestellt hätte, mögen dann die Kläffer aus
der „Retsch“, der „Birshowka“, dem „Den“, der „Rabotschaja Gaseta“ und
den übrigen niederträchtigen Zeitungen bellen, soviel sie wollen.
266 W. I. Lenin
Wenn unsere Partei darauf eingeht, daß ihre Führer von der öffent-
lichen Tätigkeit entfernt werden, weil die Bourgeoisie sie verleumdet, so
wird das für die Partei außerordentlich nachteilig sein, sie wird dem. Pro-
letariat Schaden zufügen, seinen Feinden aber Vergnügen bereiten. Hat
doch die Bourgeoisie viele Zeitungen und noch mehr gedungene Schrei-
berlinge, die sich auf Erpressung verstehen (wie Saslawski und Co.), es
wird ihr nur allzu leicht fallen, unsere Parteiarbeiter zu „entfernen“ ! Sie
denkt gar nicht daran, irgendeine Angelegenheit zu untersuchen und die
Wahrheit festzustellen.
Nein. Genossen I Wir werden dem Geschrei der bürgerlichen Presse
nicht nadigeben! Wir werden den Halunken und Erpressern, den Milju-
kow, Hessen und Saslawski, kein Vergnügen bereiten. Wir werden uns
auf das Urteil der Proletarier verlassen, der klassenbewußten Arbeiter
Unserer Partei, die aus 240 000 Internationalisten besteht. Vergessen wir
nicht, daß die Internationalisten in der ganzen Welt von der Bourgeoisie
und den mit ihr verbündeten Vaterlandsverteidigem mit den Mitteln der
Lüge, der Verleumdung und der Erpressung verfolgt werden.
Laßt uns die Erpresser unnachgiebig brandmarken. Laßt uns uner-
bittlich jeden geringsten Zweifel vor dem Gericht der klassenbewußten
Arbeiter, vor dem Gericht unserer Partei untersuchen; der Partei glau-
ben wir, in ihr sehen wir die Vernunft, die Ehre und das Gewissen unse-
rer Epoche, im internationalen Bündnis der revolutionären Internationa-
listen sehen wir die einzige Gewähr für die Befreiungsbewegung der Ar-
beiterklasse.
Keine Nachgiebigkeit gegenüber der „öffentlichen Meinung“ jener, die
in einer Regierung mit den Kadetten sitzen, die den Miljukow, Dan und
Saslawski die Hand reichen!
Nieder mit d.en politischen Erpressern! Verachtung und Boykott für
sie! Ihre schändlichen Namen müssen vor den Arbeitermassen unaufhör-
lich angeprangert werden! Wir müssen beharrlich unseren Weg gehen,
die Arbeitsfähigkeit unserer Partei erhalten und die Parteiführer davor
bewahren, daß sie an das Gesindel und dessen gemeine Verleumdungen
auch nur die geringste Zeit verschwenden.
„Proletan Nt. 10,
Nach dem Text des „Proletan".
PAPIERNE RESOLUTIONEN
Herr Zereteli ist einer der geschwätzigsten „sozialistischen“ Minister
und Führer des Spießbürgertums. Es fällt einem schwer, seine zahllosen
Reden zu Ende zu lesen, so inhaltslos und abgedroschen, so absolut nichts-
sagend und zu gar nichts verpflichtend, so völlig bar jeder ernsten Be-
deutung sind diese wahrhaft „ministeriellen“ Reden. Was diese sdiön-
rednerischen „Ansprachen“ (durch eben deren Hohlheit Zereteli zum
Liebling der Bourgeoisie werden mußte) besonders unerträglich macht, ist
die maßlose Selbstgefälligkeit des Redners, und es ist schwer zu ent-
scheiden, ob sich hinter diesen geleckten, aalglatten, süßlichen Phrasen
ungewöhnliche Borniertheit oder aber zynische politische Geschäfte-
macherei verbirgt.
Je inhaltsloser Zeretelis Reden sind, um so nachdrücklicher müssen
wir den schier unglaublichen, außerordentlichen Vorfall hervorheben, der
sich bei seiner Rede in der Plenarsitzung des Petrograder Sowjets am
18. August zugetragen hat. Unglaublich, aber wahr: Zereteli sagte ver-
sehentlich ein einfaches, klares, vernünftiges, wahres Wort. Es entschlüpfte
ihm ein Wort, das eine tiefe und ernste politische Wahrheit richtig aus-
drückt, eine Wahrheit, der keine zufällige Bedeutung zukommt, sondern
die die ganze gegenwärtige politische Lage in ihren wesentlichen, wich-
tigsten Zügen, in ihren Grundlagen kennzeichnet.
Dem Bericht der „Retsch“ zufolge sagte Zereteli (der Leser wird sich
gewiß erinnern, daß Zereteli gegen die Resolution über die Abschaffung
der Todesstrafe aufgetreten ist) folgendes:
„All eure Resolutionen werden nicht helfen. Nicht papieme Resolutionen, son-
dern reale Taten tun hier not . . .“
W.I. Lettin
Was wahr ist, ist wahr. Kluge Reden hört man gern . . .
Natürlich trifft Zereteli mit dieser Wahrheit vor allem und am meisten
sich selbst. Denn gerade er, als einer der prominentesten Führer des
Sowjets, hat dazu beigetragen, diese Körperschaft zu prostituieren, sie zur
kläglichen Rolle irgendeiner liberalen Versammlung zu degradieren, die
der Welt ein Archiv mustergültig ohnmächtiger frommer Wünsche als
Erbe hinterläßt. Gerade Zereteli, der Hunderte von „papiemen Resolu-
tionen“ in dem durch die Sozialrevolutionäre und Menschewiki kastrier-
ten Sowjet durchgesetzt hat, steht am wenigsten das Recht zu, wenn dies-
mal eine Resolution angenommen werden sollte, die ihn selbst empfind-
lich trifft, Zeter und Mordio über „papieme Resolutionen“ zu schreien.
Zereteli hat sich selbst in die besonders lächerliche Lage eines Parlamen-
tariers gebracht, der sich stets mehr als andere mit „parlamentarischen“
Resolutionen befaßte, ihre Bedeutung in den Himmel hob und sich am
eifrigsten um sie bemühte, aber nun, wo es sich einmal um eine Resolu-
tion gegen ihn handelt, aus Leibeskräften schreit, „die Trauben sind
sauer“, die Resolution sei ja eigentlich nur eine papieme.
Aber die Wahrheit bleibt doch Wahrheit, auch wenn sie ein Heuchler
in heuchlerischem Tone ausspricht.
Diese Resolution ist nicht aus dem Grunde eine papieme Resolution,
aus dem sie der ehemalige Minister Zereteli so bezeichnete, der die Todes-
strafe zur Verteidigung der Revolution (nicht lachen!) für notwendig
hält. Die Resolution ist deswegen eine papieme, weil darin die scha-
blonenhafte, seit März 1917 auswendig gelernte und seither gedankenlos
hergeleierte Formel wiederholt wird: „Der Sowjet fordert von der Provi-
sorischen Regierang.“ Man hat sich daran gewöhnt, zu „fordern“ und
wiederholt das aus Gewohnheit, ohne zu merken, daß sich die Lage ver-
ändert hat, daß man keine Macht mehr besitzt und daß eine „Forde-
rung“, die sich nicht auf Macht stützt, lächerlich ist.
Mehr noch, die schablonenhaft wiederholte „Forderung“ ruft in den
Massen die Illusion wach, als habe sich die Lage gar nicht verändert, als
sei der Sowjet noch eine Macht, als habe er durch das Aufstellen einer
„Forderung“ etwas vollbracht und dürfe sich nun hinlegen und den Schlaf
des „revolutionären“ (mit Verlaub . . .) „Demokraten“ schlafen, der seine
Pflicht erfüllt hat.
Der eine oder andere Leser wird vielleicht fragen: Ist es denn so, daß
Papieme Resolutionen
die Bolschewiki, die Anhänger der politischen Nüchternheit, der genauen
Kräfteberedmung, die Gegner, der Phrase, nicht für diese Resolution hät-
ten stimmen sollen?
Keineswegs. Man mußte schon deswegen für sie stimmen, weil ein
Paragraph der Resolution (§3) den ausgezeichneten, richtigen (grund-
legenden, wichtigen, entscheidenden) Gedanken enthält, daß die Todes-
strafe eine Waffe ist, die sich gegen die Massen richtet (etwas anderes
wäre es, wenn es sich um eine Waffe gegen die Gutsbesitzer und Kapita-
listen handelte). Man mußte für sie stimmen, obwohl die Sozialrevolutio-
nären Spießer Martows Text verhunzt und an Stelle des Hinweises auf
„die imperialistischen, den Interessen des Volkes fremden“ Ziele, einen
durch und durch verlogenen, das Volk irreführenden und den räuberischen
Krieg beschönigenden Satz von „der Verteidigung des Vaterlandes und
der Revolution“ eingefügt haben.
Man mußte für die Resolution stimmen, gleichzeitig aber den Vor-
behalt machen, daß man mit einzelnen Stellen nicht einverstanden ist,
und erklären: Arbeiter! Glaubt nicht, daß der Sowjet jetzt imstande ist,
irgend etwas von der Provisorischen Regierung zu fordern. Gebt euch
keinen Illusionen hin. Wißt, daß der Sowjet bereits nicht mehr imstande
ist, etwas zu fordern, und daß die jetzige Regierung in jeder Hinsicht eine
Gefangene der konterrevolutionären Bourgeoisie ist. Denkt über diese
bittere Wahrheit ernstlich nach. Niemand konnte die Mitglieder des So-
wjets hindern, für die Resolution zu stimmen und gleichzeitig in dieser
oder jener Form solche Vorbehalte zu machen.
Dann hätte die Resolution aufgehört, eine „papieme“ zu sein.
Dann wären wir der provokatorischen Frage Zeretelis aus dem Weg
gegangen, der die Mitglieder des Sowjets fragte, ob sie die Provisorische
Regierung „stürzen“ wollten - genauso, wortwörtlich so, wie Katkow zur
Zeit Alexanders III. die Liberalen fragte, ob sie die Selbstherrschaft „stür-
zen“ wollten. Wir hätten dem Exminister geantwortet: Verehrter Bürgerl
Sie haben soeben ein Zuchthausgesetz gegen diejenigen erlassen, die
einen „Anschlag“ gegen die Regierung verüben oder auch nur den Ver-
such machen, sie zu „stürzen“ (eine Regierung, gebildet durch einen Pakt
der Gutsbesitzer und Kapitalisten mit den kleinbürgerlichen Verrätern an
der Demokratie). Wir verstehen gut, daß alle Bourgeois Sie noch mehr
loben würden, wenn Sie es „ermöglicht hätten“, dieses (für Sie) ange-
270 W. I. Lettin
nehme Gesetz auf einige Bolschewiki anzuwenden. Wundem Sie sich
aber nicht, wenn wir es nicht als unsere Aufgabe ansehen, es Ihnen zu er-
leichtern, Gelegenheiten für die Anwendung dieses „angenehmen“ Ge-
setzes ausfindig zu machen.
Wie die Sonne in einem winzigen Wassertropfen, so spiegelte sich in
dem Vorfall vom 18. August das ganze politische System Rußlands wider.
Eine bonapartistische Regierang, die Todesstrafe, ein Zuchthausgesetz -
und diese (für die Provokateure) „angenehmen“ Dinge werden durch
ebensolche Phrasen versüßt, wie sie Louis Napoleon stets im Munde
führte: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Ehre und Würde des Vater-
landes, Traditionen der großen Revolution und Unterdrückung der An-
archie.
Die süßlichen, widerlich süßlichen kleinbürgerlichen Minister und Ex-
minister, die sich an die Brust schlagen und versichern, sie hätten eine
Seele und gäben diese der Verdammnis preis, indem sie die Todesstrafe
gegen die Massen einführen und zur Anwendung bringen, und sie täten
dies tränenden Auges - diese Minister sind eine verbesserte Auflage jenes
„Pädagogen“ der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, der, der De-
vise Pirogows folgend, nicht einfach, nicht nach althergebrachter Sitte
prügelte, sondern das „mit Fug und Recht“ verdroschene Spießersöhndien
mit einer menschenfreundlichen Träne benetzte.
Von ihren kleinbürgerlichen Führern betrogen, glauben die Bauern
noch immer, daß aus der Ehe des Blocks der Sozialrevolutionäre und
Menschewiki mit der Bourgeoisie ... die Aufhebung des Privateigentums
an Grand und Boden ohne Entschädigung hervorgehen könne.
Die Arbeiter . . . nun darüber, was die Arbeiter denken, wollen wir so
lange schweigen, bis der „humane“ Zereteli das neue Zuchthausgesetz
abgeschafft hat.
„ Räbotsda " Nt. 2.
8. September (26. August) 1917.
Nack dem Text des „ Räbotschi ".
ÜBER DIE STOCKHOLMER KONFERENZ
Viele interessieren sidi jetzt erneut für die Stockholmer Konferenz.
Die Frage ihrer Bedeutung wurde von den Zeitungen lebhaft erörtert.
Diese Frage ist mit der Einschätzung der eigentlichen Grundlagen des
gesamten Sozialismus der Gegenwart, besonders seiner Stellung zum im-
perialistischen Krieg unlösbar verknüpft. Darum muß man auf die Stodc-
holmer Konferenz ausführlicher eingehen.
Die revolutionären Sozialdemokraten, d. h. die Bolschewiki, haben sich
von Anfang an gegen die Teilnahme an dieser Konferenz ausgesprochen.
Sie gingen dabei von prinzipiellen Erwägungen aus. Es ist allbekannt, daß
die Sozialisten in der ganzen Welt, in allen Ländern, in den kriegführen-
den wie in den neutralen, sich in der Frage der Stellung zum Krieg in zwei
große, grundsätzlich verschiedene Gruppen gespalten haben. Die einen
ergriffen die Partei ihrer Regierungen, ihrer Bourgeoisie. Wir nennen sie
Sozialchauvinisten, d. h. Sozialisten in Worten, Chauvinisten in der Tat.
Als Chauvinisten bezeichnet man den, der mit dem Begriff „Vaterlands-
verteidigung“ die Verteidigung der räuberischen Interessen „seiner“ herr-
schenden Klassen verhüllt. Im gegenwärtigen Krieg verfolgt die Bourgeoi-
sie beider kriegführender Koalitionen räuberische Ziele: die deutsche
Bourgeoisie führt Krieg, weil sie Belgien, Serbien usw. ausplündem will,
die englische und französische, weil sie die deutschen Kolonien usw. an
sich reißen will, die russische um der Plünderung Österreichs (Lwow) und
der Türkei (Armenien, Konstantinopel) willen.
Deshalb haben jene Sozialisten, die sich im jetzigen Krieg auf den
Standpunkt ihrer Bourgeoisie gestellt haben, aufgehört, Sozialisten zu
sein ; sie haben die Arbeiterklasse verraten und sind in Wirklichkeit in das
272
W.J. Lenin
Lager der Bourgeoisie übergegangen. Sie sind Klassenfeinde des Prole-
tariats geworden. Die Geschichte des europäischen und des amerikani-
schen Sozialismus, besonders in der Epoche der II. Internationale, d. h. in
den Jahren 1889 bis 1914 zeigt uns, daß ein derartiges Überlaufen eines
Teils der Sozialisten, besonders der Mehrzahl der Führer und Parlamen-
tarier, ins Lager der Bourgeoisie kein Zufall ist. In allen Ländern stellte
gerade der opportunistische Flügel des Sozialismus die Hauptkader der
Sozialchauvinisten. Der Sozialchauvinismus ist, wenn man ihn wissen-
schaftlich betrachtet, d. h. nicht Einzelpersonen herausgreift, sondern die
ganze internationale Richtung in ihrer Entwicklung, in der Gesamtheit
ihrer sozialen Beziehungen nimmt, der zu seinem logischen Ende gelangte
Opportunismus.
Unter den proletarischen Massen sieht man überall in mehr oder weni-
ger klarer und ausgeprägter Form, daß sie den Verrat der Sozialchauvi-
nisten am Sozialismus erkennen, daß sie die prominentesten Sozialchauvi-
nisten, wie Plechanow in Rußland, Scheidemann in Deutschland, Guesde,
Renaudel und Co. in Frankreich, Hyndman u. a. in England usw. usf.,
hassen und verachten.
In allen Ländern bildete sich während des Krieges die Richtung des
revolutionären Internationalismus heraus, obwohl die Bourgeoisie die An-
hänger dieser Richtung erbittert verfolgte und sich bemühte, sie mund-
tot zu machen. Diese Richtung blieb dem Sozialismus treu. Sie erlag dem
Chauvinismus nicht, duldete es nicht, daß dieser mit verlogenen Phrasen
über Vaterlandsverteidigung verhüllt wurde, sie deckte vielmehr die ganze
Verlogenheit dieser Phrasen und das ganze verbrecherische Wesen die-
ses Krieges auf, den die Bourgeoisie beider Koalitionen um räuberischer
Ziele willen führt. Zu dieser Richtung gehören z. B. Maclean in Eng-
land, der wegen seines Kampfes gegen die räuberische englische Bour-
geoisie zu anderthalb Jahren Zuchthaus verurteilt wurde, und Karl Lieb-
knecht in Deutschland, den die deutschen imperialistischen Räuber zu
Zuchthaus verurteilten, weil er das „Verbrechen“ beging, in Deutschland
zur Revolution aufzurufen und den räuberischen Charakter des Krieges
seitens Deutschlands zu entlarven. Zur selben Richtung gehören die Bol-
sdiewiki in Rußland, die von den Agenten des russischen republikanisch-
demokratischen Imperialismus wegen des gleichen „Verbrechens“ verfolgt
werden wie Maclean und Karl Liebknecht.
Über die Stockholmer Konferenz
273
Diese Richtung ist die einzige, die dem Sozialismus treu geblieben ist.
Diese Richtung ist die einzige, die sich nidit von der feierlichen Prokla-
mation ihrer Überzeugungen losgesagt hat, jenem feierlichen Gelöbnis,
das die Sozialisten der ganzen Welt, ausnahmslos aller Länder im Basler
Manifest vom November 1912 einmütig unterschrieben hatten. In diesem
Manifest ist gerade nicht vom Krieg schlechthin die Rede - Kriege gibt es
verschiedene -, sondern es ist ausdrücklich von dem Krieg die Rede, der
1912 vor aller Augen vorbereitet wurde und 1914 ausgebrochen ist, von
dem Krieg um die Weltherrschaft zwischen Deutschland und England
samt ihren Verbündeten. Angesichts eines solchen Krieges spricht das Bas-
ler Manifest mit keinem Wort von der Pflicht oder dem Recht der Sozia-
listen, „das Vaterland zu verteidigen“ (d. h. ihre Teilnahme am Kriege
zu rechtfertigen), es spricht vielmehr mit aller Bestimmtheit davon, daß
ein solcher Krieg zur „proletarischen Revolution“ führen muß. Der Ver-
rat der Sozialchauvinisten aller Länder am Sozialismus ist besonders an-
schaulich daraus zu ersehen, daß sie jetzt alle - wie ein Dieb, der die
Stelle meidet, wo er gestohlen hat - feige jene Stelle des Basler Mani-
fests umgehen, wo vom Zusammenhang gerade zwischen dem gegenwär-
tigen Krieg und der proletarischen Revolution die Rede ist.
Es ist klar, welch unüberbrückbarer Abgrund zwischen den Sozialisten,
die dem Basler Manifest treu geblieben sind und den Krieg mit der Pro-
pagierung und Vorbereitung der proletarischen Revolution „beantwor-
ten“, und den Sozialchauvinisten klafft, die den Krieg mit der Unterstüt-
zung „ihrer“ nationalen Bourgeoisie beantworten. Es ist klar, wie hilflos,
naiv und heuchlerisch die krampfhaften Anstrengungen sind, die eine und
die andere Richtung miteinander „auszusöhnen“ oder „zu vereinigen“.
Gerade solche krampfhaften und kläglichen Anstrengungen werden
von der dritten Strömung im Weltsozialismus, von dem sogenannten
„Zentrum“ oder „Kautskyanertum“ (so benannt nach Karl Kautsky, dem
prominentesten Vertreter des „Zentrums“) gemacht. In den drei Kriegs-
jahren hat diese Strömung in allen Ländern ihre völlige Prinzipienlosig-
keit und ihre Hilflosigkeit offenbart. In Deutschland z. B. hat der Gang
der Ereignisse die Kautskyaner gezwungen, sich von den deutschen Ple-
chanow zu trennen und eine besondere Partei, die sogenannte „Unab-
hängige Sozialdemokratische Partei“ 74 zu gründen; dennoch scheut sich
diese Partei, die notwendigen Konsequenzen zu ziehen, sie predigt „Einig-
Lcnin, Werke. Bd. 25
274
W.J. Lenin
keit“ mit den Sozialchauvinisten im internationalen Maßstab, sie be-
trügt nach wie vor die Arbeitermassen mit der Hoffnung auf die Her-
stellung einer solchen Einigkeit in Deutschland und hemmt die einzig rich-
tige proletarische Taktik des revolutionären Kampfes gegen die „eigene“
Regierung, des Kampfes auch während des Krieges, eines Kampfes, des-
sen Formen sich ändern können und müssen, der aber nicht verzögert,
nicht hinausgeschoben werden darf.
So stehen die Dinge im internationalen Sozialismus. Ohne klare Ein-
schätzung dieser Lage, ohne prinzipielle Stellungnahme zu allen Strömun-
gen des internationalen Sozialismus kann man an eine Frage praktischer
Natur, wie z. B. an die Frage der Stockholmer Konferenz, nicht einmal
herantreten. Indes hat einzig und allein die Partei der Bolschewiki in einer
auf der Konferenz vom 24. bis 29. April 1917 angenommenen und im
August vom VI. Parteitag bestätigten ausführlichen Resolution eine prin-
zipielle Einschätzung aller Richtungen des internationalen Sozialismus
gegeben. Vergißt man diese prinzipielle Einschätzung und redet, ohne sie
zu beachten, über die Stockholmer Konferenz, so bedeutet das, sich auf
den Boden völliger Prinzipienlosigkeit zu stellen.
Als Musterbeispiel dieser Prinzipienlosigkeit, wie sie bei allen klein-
bürgerlichen Demokraten, den Sozialrevolutionären und Menschewiki,
herrscht, kann man einen Artikel in der „Nowaja Shisn“ vom 10. August
anführen. Dieser Artikel verdient gerade deshalb Aufmerksamkeit, weil
er in einer Zeitung, die auf dem äußersten linken Flügel der kleinbürger-
lichen Demokraten steht, die meistverbreiteten Fehler, die Vorurteile und
die Prinzipienlosigkeit in bezug auf Stockholm vereinigt.
„Man kann der Stockholmer Konferenz", so heißt es im Leitartikel der „Nowaja
Shisn“, „aus diesen oder jenen Gründen ablehnend gegenüberstehen ; man kann die
Verständigungsversudie der .auf den Positionen der Vaterlandsverteidigung stehen-
den Mehrheiten' prinzipiell verurteilen. Wozu aber etwas leugnen, was so offen-
kundig ist, daß es in die Augen springt? Hat doch die Konferenz nach dem be-
kannten Beschluß der englischen Arbeiter, der eine politische Krise im Lande her-
vorrief und in der .nationalen Einigung' Großbritanniens den ersten tiefen Riß er-
zeugte, eine Bedeutung erlangt, die sie bis dahin noch nicht hatte.“
Dieser Gedankengang ist ein Musterbeispiel an Prinzipienlosigkeit. In
der Tat, wie kann man aus der unbestreitbaren Tatsache, daß aus Anlaß
Über die Stockholmer Konferenz
275
der Stockholmer Konferenz ein tiefer Riß in der „nationalen Einigung“
Englands entstand, den Schluß ziehen, daß wir diesen Riß verkleistern
sollen, statt ihn zu vertiefen? Prinzipiell steht die Frage so und nur so:
entweder Bruch mit den Vaterlandsverteidigem (den Sozialchauvinisten)
oder Verständigung mit ihnen. Die Stockholmer Konferenz war einer der
vielen Verständigungs versuche. Er ist mißlungen. Sein Mißerfolg kommt
daher, daß die englischen und französischen Imperialisten jetzt keine
Friedensverhandlungen führen wollen, während die deutschen Imperia-
listen dazu bereit sind. Die englischen Arbeiter haben den Betrug deut-
licher zu spüren bekommen, den die englische imperialistische Bourgeoi-
sie an ihnen verübt.
Die Frage ist nun, wie soll man dies ausnutzen? Wir, die revolutio-
nären Internationalisten, sagen : Das muß ausgenutzt werden zur Ver-
tiefung des Bruchs der proletarischen Massen mit ihren eigenen Sozial-
chauvinisten, zur Vollendung dieses Bruchs, zur Beseitigung jeglicher Hin-
dernisse, die der Entwicklung des revolutionären Kampfes der Massen
gegen die eigenen Regierungen, gegen die eigene Bourgeoisie im Wege
stehen. Durch ein solches Vorgehen vertiefen gerade wir und nur wir den
Riß und steigern ihn bis zum Bruch.
Was erreichen aber praktisch diejenigen, die jetzt, wo das Leben dieses
Vorhaben „erledigt“ hat, nach Stockholm gehen oder, richtiger, den Mas-
sen die Notwendigkeit predigen hinzugehen? Weiter nichts, als daß sie
den Riß verkleistern, denn es steht fest, daß die Stockholmer Konferenz
von Leuten einberufen und unterstützt wird, die ihre eigenen Regierun-
gen unterstützen, von den Ministerialisten, den Tschemow und Zereteli,
den Stauning, Branting und Troelstra, ganz zu schweigen von den
Scheidemännem.
Das ist es, was „so offenkundig ist, daß es allen in die Augen springt“,
das ist es, was die Opportunisten von der „Nowaja Shisn“ vergessen oder
vertuschen, die völlig prinzipienlos urteilen, ohne den Sozialchauvinis-
mus als Richtung allgemein einzuschätzen. Die Stockholmer Konferenz ist
eine Aussprache zwischen Ministem, die in den imperialistischen Regie-
rungen sitzen. So sehr die „Nowaja Shisn“ sich auch bemüht, diese Tat-
sache zu umgehen, man kommt nicht darum herum. Die Arbeiter auffor-
dem, nach Stockholm zu gehen, auf Stockholm zu warten, auf Stockholm
irgendwelche Hoffnungen zu setzen, heißt den Massen sagen: Ihr könnt.
276
W. /. Lenin
ihr müßt Gutes erwarten von der Verständigung zwischen den kleinbür-
gerlichen Parteien und Ministem, die in den imperialistischen Regierun-
gen sitzen und die imperialistischen Regierungen unterstützen.
Gerade eine solche völlig prinzipienlose und überaus schädliche Propa-
ganda betreibt die „Nowaja Shisn“, ohne es selbst zu merken.
Über dem Konflikt zwischen den englischen und französischen Sozial-
chauvinisten und ihren Regierungen vergißt die „Nowaja Shisn“, daß die
Tschemow, Skobelew, Zereteli, Awksentjew, Branting, Stauning und die
Scheidemänner ebensolche Sozialchauvinisten bleiben, die ihre Regierun-
gen unterstützen. Ist das nicht Prinzipienlosigkeit?
Statt den Arbeitern zu sagen: Seht, die englischen und französischen
Imperialisten haben ihren Sozialchauvinisten nicht einmal erlaubt, mit
den deutschen Sozialchauvinisten zu sprechen; der Krieg ist also auch
von seiten Englands und Frankreichs ein räuberischer Krieg; es gibt also
keine andere Rettung als den endgültigen Bruch mit allen Regierungen,
mit allen Sozialchauvinisten. Statt das zu sagen, tröstet die „Nowaja
Shisn“ die Arbeiter mit Illusionen:
„Man beabsichtigt in Stockholm“, schreibt sie. „zu einer Einigung über den
Frieden zu kommen und will dort gemeinsam einen allgemeinen Kampfplan aus-
arbeiten: Verweigerung der Kredite, Bruch mit der .nationalen Einigung', Ab-
berufung der Minister aus den Regierungen u. dgl. m.“
Die ganze Beweiskraft dieses durch und durch verlogenen Satzes läuft
darauf hinaus, daß darin das Wort „Kampf“ fett gedruckt ist. Ein schöner
Beweis, das muß man sagen!
Nach drei Jahren Krieg speist man die Arbeiter noch immer mit leeren
Versprechungen ab: „Man beabsichtigt in Stockholm“, mit der nationalen
Einigung zu brechen . . .
Wer beabsichtigt das? Die Scheidemänner, die Tschemow, Skobelew,
Awksentjew, Zereteli, Stauning und Branting, d. h. gerade die Leute (und
Parteien), die schon jahrelang und monatelang die Politik der nationalen
Einigung betreiben. Wie aufrichtig auch der Glaube der „Nowaja Shisn“
an ein solches Wunder sein mag, wie ehrlich sie sich auch zu der .Über-
zeugung bekennen mag, daß dies möglich sei, so müssen wir doch sagen,
daß die „Nowaja Shisn“ den größten Schwindel unter den Arbeitern ver-
breitet.
Über die Stockholmer Konferenz
277
Die „Nowaja Shisn“ betrügt die Arbeiter, indem sie ihnen Vertrauen
zu den Sozialchauvinisten einflößt. Es kommt bei ihr so heraus, daß die
Sozialchauvinisten bisher zwar in den Regierungen gesessen und eine
Politik der nationalen Einigung betrieben haben, daß sie sich aber in
Stockholm in allernächster Zeit miteinander aussprechen, verständigen,
einigen und aufhören werden, so zu handeln. Sie werden den Kampf
für den Frieden beginnen, sie werden sich weigern, für die Kredite zu
stimmen und so weiter und so fort ...
Das ist alles ein einziger großer Betrug. Dies alles sind reaktionäre
Versuche, die Arbeiter zu vertrösten und zu beschwichtigen, ihnen Ver-
trauen zu den Sozialchauvinisten einzuflößen. Die Sozialisten jedoch, die
nicht nur in Worten, nicht um sich selbst und die Arbeiter zu täuschen,
„für den Frieden kämpfen“, haben schon längst diesen Kampf begonnen,
ohne irgendwelche internationale Konferenzen abzuwarten; sie haben
diesen Kampf gerade damit begonnen, daß sie die nationale Einigung
durchbrachen wie Maclean in England, Karl Liebknecht in Deutschland
und die Bolschewiki in Rußland.
„Wir verstehen vollkommen“, schreibt die „Nowaja Shisn“, „den be-
rechtigten und gesunden Skeptizismus der Bolschewiki gegenüber den
Renaudel und den Scheidemännern, doch wollen die Publizisten aus dem
.Rabotsdhi i Soldat' in doktrinärer Weise den Wald vor lauter Bäumen
nicht sehen: sie berücksichtigen nicht den Stimmungsumschwung unter
den Massen, auf die sich Renaudel und Scheidemann stützten.“ Es handelt
sich hier nicht um Skeptizismus, ihr Herren, gerade bei euch ist die
vorherrschende Stimmung ein Intellektuellenskeptizismus, der die Prin-
zipienlosigkeit sowohl verdeckt als auch zum Ausdruck bringt. Wir sind
den Renaudel und den Scheidemännem gegenüber keine Skeptiker, wir
sind ihre Feinde. Das ist ein gewaltiger Unterschied. Wir haben mit ihnen
gebrochen und rufen die Massen auf, mit ihnen zu brechen. Gerade wir,
und nur wir allein „berücksichtigen“ den Stimmungsumschwung unter den
Massen und dabei auch noch etwas anderes, was viel wichtiger ist und
tiefer geht als Stimmungen und ihr Umschwung: die Grundinteressen der
Massen, die Unversöhnlichkeit dieser Interessen mit der Politik des So-
zialchauvinismus, deren Vertreter die Renaudel und die Scheidemänner
sind. In Stockholm werden die Herren von der „Nowaja Shisn“ samt den
Ministern der imperialistischen Regierung Rußlands gerade mit den
278
Scheidemännern und den Renaudel zusammentreff en (denn Stauning und
Troelstra, von Awksentjew und Skobelew ganz zu schweigen, unterschei-
den sich in nichts ernstlich von den Renaudel). Wir aber wenden uns ab
von der Stockholmer Komödie, gespielt von Sozialchauvinisten im Kreise
von Sozialchauvinisten, wir wenden uns von ihr gerade aus dem Grunde
und zu dem Zweck ab, um den Massen die Augen zu öffnen, um ihre
Interessen zum Ausdruck zu bringen, um sie zur Revolution aufzurufen,
um ihren Stimmungsumschwung auszunutzen, nicht zur prinzipienlosen
Anpassung an die gegenwärtige Stimmung, sondern zum prinzipiellen
Kampf für den völligen Bruch mit dem Sozialchauvinismus.
„Die Bolschewiki“. schreibt die „Nowaja Shisn“, „werfen mit Vorliebe den
Internationalisten, die nach Stockholm gehen, ihr Paktieren mit den Scheidemän-
nern und den Henderson vor, .ohne zu merken', daß sie selbst - natürlich aus
grundverschiedenen Ursachen - in der Stellung zur Konferenz mit den Pledianow,
Guesde und Hyndman Zusammengehen.“
Es ist nicht wahr, daß wir in der Stellung zur Konferenz mit den Ple-
chanow Zusammengehen! Das ist offenbarer Unsinn. Wir stimmen mit
den Plechanow darin überein, daß wir nicht mit einem Teil der Sozial-
chauvinisten an einer Konferenz der Halbheiten teilnehmen wollen. Unsere
Stellung zur Konferenz ist jedoch weder prinzipiell noch praktisch die-
selbe wie die der Plechanow. Ihr aber nennt euch Internationalisten
und geht in Wirklichkeit mit den Scheidemännem, den Stauning und
Branting zusammen zur Konferenz, ihr paktiert in Wirklichkeit mit
ihnen. Das ist doch eine Tatsache. Die kleinliche, erbärmliche und in
hohem Maße intrigenhafte, von den Imperialisten einer der Koalitionen
abhängende Sache der Vereinigung der Sozialdiauvinisten nennt ihr „das
große Werk der Vereinigung des internationalen Proletariats“. Das ist
eine Tatsache.
Ihr Pseudointemationalisten könnt den Massen die Teilnahme an der
Stockholmer Konferenz nicht predigen (höchstwahrscheinlich wird es bei
der bloßen Predigt sein Bewenden haben, denn die Konferenz wird nicht
stattfinden, aber die ideologische Bedeutung der Predigt wird anhalten),
ihr könnt den Massen die Teilnahme an der Stockholmer Konferenz nicht
predigen, ohne eine Menge Unwahrheiten zu sagen, ohne Illusionen zu
wecken, ohne die Sozialchauvinisten reinzuwaschen, ohne den Massen
die Hoffnung einzuflößen, die Stauning und Branting, Skobelew und
Über die Stockholmer Konferenz
279
Awksentjew wären imstande, ernstlich mit der „nationalen Einigung“ zu
brechen.
Wir aber, wir Bolschewiki, sagen den Massen in unserer Propaganda
gegen Stockholm die volle Wahrheit, wir entlarven nach wie vor die
Sozialchauvinisten und die Politik des Paktierens mit ihnen und führen
die Massen zum völligen Bruch mit ihnen. Wenn sich die Dinge so ge-
staltet haben, daß der deutsche Imperialismus den gegenwärtigen Augen-
blick für geeignet hält, an der Stockholmer Konferenz teilzunehmen, und
seine Agenten, die Scheidemänner, dorthin schickt, während der eng-
lische Imperialismus den Augenblick für ungeeignet hält und jetzt vom
Frieden nicht einmal sprechen will, so entlarven wir den englischen Impe-
rialismus und benutzen seinen Konflikt mit den englischen proletarischen
Massen zur Vertiefung ihres Klassenbewußtseins, zur verstärkten Pro-
paganda des Internationalismus, zur Aufklärung dieser Massen über die
Notwendigkeit des völligen Bruchs mit dem Sozialchauvinismus.
Die Pseudointernationalisten von der „Nowaja Shisn“ handeln wie
intelligenzlerische Impressionisten, d. h. wie Leute, die charakterlos jeder
Augenblicksstimmung erliegen und die Grundprinzipien des Internatio-
nalismus vergessen. Die Leute von der „Nowaja Shisn“ urteilen so : Da
der englische Imperialismus gegen die Stockholmer Konferenz ist, so müs-
sen wir dafür sein. Demnach hat die Konferenz eine Bedeutung erlangt,
die sie bisher nicht hatte.
So urteilen heißt in der Tat in Prinzipienlosigkeit verfallen, denn der
deutsche Imperialismus ist doch jetzt für die Stockholmer Konferenz, weil
das seinen eigennützigen und räuberischen imperialistischen Interessen
entspricht. Was ist der „Internationalismus“ solcher „Internationalisten“
wert, die sich fürchten, diese unbestreitbare und offenkundige Tatsache
offen zuzugeben, die gezwungen sind, sich vor ihr zu verstecken? Wo
habt ihr die Garantie, meine Herren, daß ihr, wenn ihr mit den Scheide-
männem, den Stauning und Co. zusammen an der Stockholmer Konfe-
renz teilnehmt, nicht in Wirklichkeit ein Spielzeug, ein Werkzeug in den
Händen der Geheimdiplomaten des deutschen Imperialismus sein werdet?
Eine solche Garantie könnt ihr nicht haben. Eine solche Garantie gibt es
nicht. Die Stockholmer Konferenz wird, wenn sie dennoch stattfindet, was
sehr unwahrscheinlich ist, ein Versuch der deutschen Imperialisten sein,
das Terrain zu sondieren, inwieweit dieser oder jener Austausch von
W. I. Lenin
Annexionen möglich ist. Das wird die reale, wirkliche Bedeutung der
schönen Reden sein, welche die Scheidemänner, die Skobelew und Co.
halten werden. Findet aber diese Konferenz nicht statt, so wird von realer
Bedeutung eure Propaganda unter den Massen sein, die ihnen trügerische
Hoffnungen auf die Sozialchauvinisten, auf deren nah bevorstehende,
mögliche, wahrscheinliche „Besserung“ einflößt.
In beiden Fällen seid ihr, die ihr Internationalisten sein wollt, in Wirk-
lichkeit Helfershelfer der Sozialchauvinisten bald der einen Koalition,
bald beider Koalitionen.
Wir aber tragen allen Wendungen der Politik im großen wie im klei-
nen Rechnung, bleiben dabei konsequente Internationalisten und propa-
gieren das brüderliche Bündnis aller Arbeiter, den Bruch mit den Sozial-
chauvinisten und die Arbeit für die proletarische Revolution.
.Rabotsda" Nr. 2, Nach dem Text des „ Rabotsdti “.
8. September (26. August) 1917.
Unterschrift: N.K-ow.
AUS DEM TAGEBUCH EINES PUBLIZISTEN
Bauern und Arbeiter
In Nr. 88 der „Iswestija Wserossiskowo Sowjeta Krestjanskidi Depu-
tatow“ 75 vom 19. August wurde ein außerordentlich wichtiger Artikel ver-
öffentlicht, der für jeden Parteipropagandisten und -agitator, der mit der
Bauernschaft zu tun hat, für jeden klassenbewußten Arbeiter, der aufs
Land geht oder Verbindung mit dem Land hat, ein grundlegendes Doku-
ment werden müßte.
Es ist dies der Artikel „Muster-Wählerauftrag, zusammengestellt an
Hand von 242 Wähleraufträgen, die von den örtlichen Deputierten dem
1. Gesamtrussischen Kongreß der Bauemdeputierten 1917 in Petrograd
überreicht wurden“.
Es wäre höchst wünschenswert, wenn der Sowjet der Bauemdeputier-
ten möglichst ausführliche Angaben über alle diese Wähleraufträge ver-
öffentlichte (falls es absolut unmöglich ist, sie in vollem Wortlaut abzu-
drucken, was natürlich das beste wäre). Besonders notwendig wäre zum
Beispiel eine vollständige Liste der Gouvernements, der Kreise und Amts-
bezirke, aus der die Zahl der in den einzelnen Orten abgefaßten Wähler-
aufträge. hervorgeht sowie der Zeitpunkt, an dem sie abgefaßt oder über-
reicht wurden, ferner eine Analyse wenigstens der in ihnen enthaltenen
Hauptforderungen, damit man sehen kann, ob sich in den Gebieten
Unterschiede in diesen oder jenen Punkten feststellen lassen. Zum Bei-
spiel die Gebiete mit Einzelhof-Landbesitz und die mit Dorfgemeinde-
Landbesitz, die großrussischen Gebiete und die anderer Nationalitäten,
die zentral gelegenen und die Randgebiete, die Gebiete, wo es keine Leib-
eigenschaft gegeben hat usw. - unterscheiden sich diese Gebiete in ihrer
Stellung zur Aufhebung des Privateigentums am gesamten Bauernland,
282
W. I. Lenin
zu den periodischen Neuaufteilungen des Bodens, zur Nichtzulassung der
Lohnarbeit, zur Beschlagnahme des lebenden und toten Inventars der
Gutsbesitzer usw. usw.? Eine wissenschaftliche Untersuchung des unge-
mein wertvollen Materials dieser bäuerlichen Wähleraufträge ist ohne
solche ausführlichen Angaben nicht möglich. Wir Marxisten müssen aber
mit aller Kraft bestrebt sein, die unserer Politik zugrunde liegenden Tat-
sachen wissenschaftlich zu untersuchen.
Da es an besserem Material mangelt, bleibt diese Zusammenfassung
der Wähleraufträge (so wollen wir den „Muster-Wählerauftrag“ nen-
nen), solange nicht irgendwelche faktischen Unrichtigkeiten darin nach-
gewiesen werden, ein in seiner Art einzigartiges Material, das, wir wie-
derholen es, unbedingt in den Händen eines jeden Mitglieds unserer
Partei sein muß.
Der erste Teil der Zusammenfassung der Wähleraufträge ist allgemei-
nen politischen Leitsätzen, Forderungen nach politischer Demokratie ge-
widmet, der zweite Teil der Frage des Grund und Bodens. (Wir wollen
hoffen, daß der Gesamtrussische Sowjet der Bauemdeputierten oder
jemand anders eine Zusammenfassung der Wähleraufträge und Resolu-
ttonen der Bauern zur Frage des Krieges vornehmen wird.) Den ersten
Teil wollen wir jetzt nicht ausführlich behandeln, wir werden nur zwei
Punkte hervorheben. Im § 6 wird die Wählbarkeit aller Amtspersonen
gefordert, im § 11 die Abschaffung des stehenden Heeres nach Beendi-
gung des Krieges. Durch diese Punkte kommt das politische Programm
der Bauern dem Programm der Partei der Bolschewiki sehr nahe. Ge-
stützt auf diese Punkte, müssen wir in unserer ganzen Propaganda und
Agitation darlegen und beweisen, daß die menschewistischen und sozial-
revolutionären Führer nicht nur den Sozialismus, sondern auch die
Demokratie verraten, denn in Kronstadt z. B. sind sie entgegen dem Wil-
len der Bevölkerung, entgegen den Prinzipien der Demokratie, den Kapi-
talisten zuliebe dafür eingetreten, daß der Kommissar von der Regierung
bestätigt werden müsse, daß also dieses Amt kein reines Wahlamt sei.
Die Führer der Sozialrevolutionäre und Menschewiki bekämpfen in den
Bezirksdumas von Petrograd und in anderen Körperschaften der örtlichen
Selbstverwaltung, entgegen den Prinzipien der Demokratie, die Forde-
rung der Bolschewiki, sofort mit der Einführung der Arbeitermiliz zu
beginnen und dann zur allgemeinen Volksmiliz überzugehen.
Aus dem Tagebuch eines Publizisten 283
Der Zusammenfassung der Wähleraufträge zufolge bestehen die Bo-
denforderungen der Bauernschaft vor allem in der entschädigungslosen
Aufhebung des Privateigentums an Grund und Boden jeder Art ein-
schließlich des Bauernlandes ; in der Übergabe von Ländereien mit hoch-
entwickelten Wirtschaften an den Staat oder die Gemeinden, in der
Beschlagnahme des gesamten lebenden und toten Inventars der beschlag-
nahmten Ländereien (hiervon sind die landarmen Bauern ausgenommen)
und dessen Übergabe an den Staat oder an die Gemeinden ; in der Nicht-
zulassung der Lohnarbeit; in der ausgleichenden Verteilung des Grund
und Bodens an die Werktätigen mit periodisch vorzunehmenden Neu-
aufteilungen usw. Als Übergangsmaßnahmen bis zur Einberufung der
Konstituierenden Versammlung verlangen die Bauern den sofortigen Er-
laß von Gesetzen, die den Kauf und Verkauf des Bodens verbieten, die
Aufhebung der Gesetze über das Ausscheiden aus der Dorfgemeinde und
die Zuweisung von Gemeindeland u. a„ über den Schutz der Wälder, der
Fischerei und sonstiger Gewerbe usw., über die Aufhebung der langfristi-
gen und die Revision der kurzfristigen Pachtverträge u. dgl. m.
Man braucht über diese Forderungen nur ein wenig nachzudenken, um
einzusehen, daß es völlig unmöglich ist, sie im Bunde mit den Kapita-
listen zu verwirklichen, ohne den völligen Bruch mit ihnen, ohne den ent-
schlossensten, erbarmungslosesten Kampf gegen die Kapitalistenklasse,
ohne den Sturz ihrer Herrschaft.
Der Selbstbetrug der Sozialrevolutionäre und der Betrug, den sie an
der Bauernschaft begehen, besteht gerade darin, daß sie den Gedanken
gelten lassen und verbreiten, solche Umgestaltungen, derartige Umgestal-
tungen wären möglich ohne den Sturz der Kapitalistenherrschaft, ohne
den Übergang der gesamten Staatsmacht an das Proletariat, ohne daß die
arme Bauernschaft die entschlossensten revolutionären Maßnahmen der
proletarischen Staatsmacht gegen die Kapitalisten unterstützt. Die Be-
deutung des sich herausbildenden linken Flügels der „Sozialrevolutio-
näre“ liegt gerade darin, daß er davon zeugt, wie dieser Betrug innerhalb
dieser Partei selbst mehr und mehr erkannt wird.
In der Tat, die Konfiskation des gesamten in Privatbesitz befindlichen
Grund und Bodens bedeutet Konfiskation Hunderter von Millionen Ka-
pital der Banken, an die diese Ländereien größtenteils verpfändet sind.
Ist etwa eine solche Maßnahme denkbar, ohne daß die revolutionäre
W. I. Lenin
Klasse durch revolutionäre Maßnahmen den Widerstand der Kapitalisten
bricht? Dabei handelt es sich hier um das am stärksten zentralisierte
Kapital, das Bankkapital, das durch Milliarden Fäden mit all den wich-
tigsten Zentren der kapitalistischen Wirtschaft des riesigen Landes ver-
bunden ist und das nur durch die nicht minder zentralisierte Kraft des
städtischen Proletariats bezwungen werden kann.
Weiter. Die Übergabe hochentwickelter Wirtschaften an den Staat. Ist
es nicht klar, daß der „Staat“, der imstande ist, diese Betriebe zu über-
nehmen und sie tatsächlich im Interesse der Werktätigen und nicht der
Beamten und eben der Kapitalisten zu bewirtschaften, nur der proleta-
rische, revolutionäre Staat sein kann?
Die Konfiskation der Gestüte usw. sowie des gesamten lebenden und
toten Inventars - das sind nicht nur weitere wuchtige Schläge gegen das
Privateigentum an den Produktionsmitteln. Das sind Schritte zum Sozia-
lismus hin, denn der Übergang des Inventars „in die ausschließliche Nut-
zung durch den Staat oder die Dorfgemeinde“ bedeutet die Notwendig-
keit der Bildung einer sozialistischen Großlandwirtschaft oder wenigstens
einer sozialistischen Kontrolle über die vereinigten Kleinwirtschaften,
einer sozialistischen Regulierung ihrer Wirtschaftsführung.
Und die „Nichtzulassung“ der Lohnarbeit? Das ist eine leere Phrase,
ein hilfloser, naiver Wunsch der niedergedrückten kleinen Landwirte, die
nicht begreifen, daß die gesamte kapitalistische Industrie Stillstehen
würde, wenn auf dem Lande keine Reservearmee von Lohnarbeitern
mehr vorhanden wäre, daß es unmöglich ist, die Lohnarbeit auf dem
Lande „nicht zuzulassen“, wenn man sie in der Stadt zuläßt, und daß
schließlich die „Nichtzulassung“ der Lohnarbeit nichts anderes bedeutet
als einen Schritt zum Sozialismus.
Damit sind wir bei der Kernfrage angelangt, der Frage des Verhält-
nisses der Arbeiter zu den Bauern.
Seit über 20 Jahren gibt es in Rußland eine sozialdemokratische Mas-
senbewegung des Proletariats (wenn man von den großen Streiks im
Jahre 1896 an rechnet). In dieser großen Zeitspanne, über zwei große
Revolutionen hinweg, zieht sich durch die ganze politische Geschichte
Rußlands wie ein roter Faden die Frage: Wird die Arbeiterklasse die
Bauern vorwärts, zum Sozialismus führen, oder wird die liberale Bour-
geoisie sie rückwärts zerren, zur Versöhnung mit dem Kapitalismus?
Aus dem Tagebuch eines Publizisten
Der opportunistische Flügel der Sozialdemokratie argumentiert die
ganze Zeit nach folgender überklugen Formel: Da die Sozialrevolutio-
näre Kleinbürger sind, leimen „wir“ ihre kleinbürgerlich-utopischen An-
sichten über den Sozialismus im Namen der bürgerlichen Verneinung des
Sozialismus ab. Der Marxismus wird somit glücklich durch den Struvis-
mus ersetzt, und der Menschewismus sinkt zur Rolle eines Lakaien der
Kadetten herab, der die Bauern mit der Herrschaft der Bourgeoisie „aus-
söhnt“. Zereteli und Skobelew sind in trautem Verein mit Tschernow und
Awksentjew damit beschäftigt, im Namen der „revolutionären Demo-
kratie“ die reaktionären, den Gutsbesitzern dienenden Erlasse der Ka-
detten zu unterschreiben - das ist der letzte und anschaulichste Ausdruck
dieser Rolle.
Die revolutionäre Sozialdemokratie, die niemals auf die Kritik an den
kleinbürgerlichen Illusionen der Sozialrevolutionäre verzichtet und sich
mit den Sozialrevolutionären niemals anders als gegen die Kadetten ver-
bündet hat, kämpft die ganze Zeit darum, die Bauern dem Einfluß der
Kadetten zu entreißen, sie stellt den kleinbürgerlich-utopischen Ansichten
über den Sozialismus nicht die liberale Versöhnung mit dem Kapitalismus,
sondern den revolutionär-proletarischen Weg zum Sozialismus entgegen.
Jetzt, da der Krieg die Entwicklung außerordentlich beschleunigt, die
Krise des Kapitalismus unglaublich verschärft und die Völker vor die
unaufschiebbare Wahl gestellt hat: Untergang oder sofort entschiedene
Schritte zum Sozialismus - jetzt offenbart sich anschaulich, in der Praxis,
die tiefe Kluft zwischen dem halbliberalen Menschewismus und dem revo-
lutionär-proletarischen Bolschewismus als Frage der Aktion von Dutzen-
den von Millionen Bauern.
Findet euch ab mit der Herrschaft des Kapitals, denn für den Sozialis-
mus sind „wir“ noch nicht reif - das sagen die Menschewiki den Bauern,
wobei sie unter anderem die konkrete Frage, ob die Wunden, die der
Krieg geschlagen hat, ohne entschiedene Schritte zum Sozialismus geheilt
werden können, durch die abstrakte Frage „Sozialismus“ schlechthin er-
setzen.
Findet euch ab mit dem Kapitalismus, denn die Sozialrevolutionäre
sind kleinbürgerliche Utopisten - das sagen die Menschewiki den Bauern
und unterstützen Arm in Arm mit den Sozialrevolutionären die Regie-
rung der Kadetten . . .
286
Die Sozialrevolutionäre aber schlagen sich an die Brust und versichern
den Bauern, daß sie gegen jeden Frieden mit den Kapitalisten seien, daß
sie die russische Revolution niemals als eine bürgerliche Revolution be-
trachtet hätten - und darum bilden sie einen Block gerade mit den oppor-
tunistischen Sozialdemokraten und unterstützen gerade die bürgerliche
Regierung . . . Die Sozialrevolutionäre unterschreiben alle möglichen, die
allerrevolutionärsten Programme der Bauernschaft - um sie nicht durch-
zuführen, um sie zu den Akten zu legen, um die Bauern mit leeren Ver-
sprechungen zu betrügen, und beschäftigen sich in Wirklichkeit monate-
lang damit, sich mit den Kadetten in der Koalitionsregierung zu „ver-
ständigen“.
Dieser himmelschreiende, faktische, unmittelbare, handgreifliche Ver-
rat, den die Sozialrevolutionäre an den Interessen der Bauern begehen,
verändert die Lage ganz außerordentlich. Dieser Veränderung müssen
wir Rechnung tragen. Es geht nicht an, nur in der alten Weise gegen die
Sozialrevolutionäre zu agitieren, nur so, wie wir es in den Jahren 1902
und 1903 sowie 1905-1907 getan haben. Wir dürfen uns nicht beschrän-
ken auf die theoretische Entlarvung der kleinbürgerlichen Illusionen von
der „Sozialisierung des Grund und Bodens“, der „ausgleichenden Boden-
nutzung“, der „Nichtzulassung der Lohnarbeit“ u. dgl. m.
Damals standen wir am Vorabend der bürgerlichen Revolution bzw. in
der nichtvollendeten bürgerlichen Revolution, und die ganze Aufgabe
bestand darin, diese Revolution vor allem bis zum Sturz der Monarchie
weiterzuführen.
Heute ist die Monarchie gestürzt. Die bürgerliche Revolution ist inso-
fern vollendet, als Rußland eine demokratische Republik geworden ist mit
einer Regierung aus Kadetten, Menschewiki und Sozialrevolutionären.
Der Krieg hat uns in drei Jahren um dreißig Jahre vorwärtsgebracht, hat
in Europa die allgemeine Arbeitspflicht und die Zwangssyndizierung der
Betriebe geschaffen, hat den fortgeschrittensten Ländern Hungersnot und
unerhörte Verwüstungen gebracht und sie gezwungen, Schritte in der
Richtung zum Sozialismus zu tun.
Nur das Proletariat und die Bauernschaft können die Monarchie stür-,
zen - das war damals das Grundprinzip unserer Klassenpolitik. Und
dieses Prinzip war richtig. Der Februar und März 1917 haben das ein
übriges Mal bestätigt.
Aus dem Tagebuch eines Publizisten
287
Nur das Proletariat, das die arme Bauernschaft (die Halbproletarier,
wie es in unserem Programm heißt) führt, kann den Krieg durch einen
demokratischen Frieden beenden, die Kriegswunden heilen und die unbe-
dingt notwendig und unaufschiebbar gewordenen Schritte zum Sozialis-
mus tun - das ist heute das Prinzip unserer Klassenpolitik.
Daraus folgt: Der Schwerpunkt der Propaganda und Agitation gegen
die Sozialrevolutionäre muß auf die Tatsache verlegt werden, daß sie die
Bauern verraten haben. Sie vertreten nicht die Masse der armen Bauern,
sondern die Minderheit der wohlhabenden Landwirte. Sie führen die
Bauernschaft nicht zum Bündnis mit den Arbeitern, sondern zum Bündnis
mit den Kapitalisten, d. h. zur Unterwerfung unter diese. Sie haben die
Interessen der werktätigen und ausgebeuteten Massen für Ministersessel
und für den Blöde mit den Menschewiki und Kadetten verkauft.
Die durdi den Krieg beschleunigte Geschichte hat einen so großen
Schritt vorwärts getan, daß sich die alten Formeln mit neuem Inhalt ge-
füllt haben. „Nichtzulassung der Lohnarbeit", das bedeutete früher nur
eine leere Phrase kleinbürgerlicher Intellektueller. Im heutigen Leben
bedeutet es etwas anderes: Millionen armer Bauern erklären in 242 Wäh-
leraufträgen, daß sie die Aufhebung der Lohnarbeit wollen, aber nicht
wissen, wie das gemacht werden soll. Wir wissen, wie das zu machen ist.
Wir wissen, daß man das nur im Bündnis mit den Arbeitern, unter ihrer
Führung und gegen die Kapitalisten erreichen kann, nicht aber durch
„Verständigung“ mit den Kapitalisten.
In dieser Weise muß jetzt die Grundlinie unserer Propaganda und
Agitation gegen die Sozialrevolutionäre, die Grundlinie unserer Sprache
der Bauernschaft gegenüber geändert werden.
Die Partei der Sozialrevolutionäre hat euch verraten. Genossen Bauern.
Sie hat die Hütten verraten und sich auf die Seite der Paläste geschlagen,
wenn auch nicht der Zarenpaläste, so doch der Paläste, in denen die Ka-
detten, die schlimmsten Feinde der Revolution und besonders der Bauem-
revolution, in ein und derselben Regierung mit den Tschernow, Pesche-
chonow und Awksentjew sitzen.
Nur das revolutionäre Proletariat, nur die Avantgarde, die es vereinigt,
die Partei der Bolschewiki, kann in der Tat das Programm der armen
Bauernschaft durchführen, das in den 242 Wähleraufträgen daigdegt
ist Denn das revolutionäre Proletariat schreitet tatsächlich zur Abschaf-
W. I. Lenin
fung der Lohnarbeit, und zwar auf dem einzig richtigen Weg: durch den
Sturz des Kapitals und nicht dadurch, daß man verbietet, daß man „nicht
zuläßt“, einen Knecht zu dingen. Das revolutionäre Proletariat schreitet
tatsächlich zur Konfiskation der Ländereien, des Inventars, der industriel-
len Betriebe in der Landwirtschaft, zu alledem, was die Bauern wollen
und was die Sozialrevolutionäre ihnen nickt geben können.
In dieser Weise muß sich jetzt die Grundlinie der Sprache des Arbei-
ters dem Bauern gegenüber ändern. Wir Arbeiter können und werden
das geben, was die amen Bauern wollen, wonach sie trachten, nicht immer
wissend, wo und wie sie das erlangen können. Wir Arbeiter verteidigen
unsere eigenen Interessen und zugleich die Interessen der überwältigenden
Mehrheit der Bauern gegen die Kapitalisten, die Sozialrevolutionäre aber
verraten diese Interessen, indem sie sich mit den Kapitalisten verbünden.
Wir wollen den Leser daran erinnern, was Engels kurz vor seinem
Tode über die Bauernfrage gesagt hat. Engels betonte, daß die Sozia-
listen gar nicht daran denken, die Kleinbauern zu expropriieren, daß sie
ihnen die Vorzüge der mit Maschinen betriebenen sozialistischen Land-
wirtschaft nur durch die Macht des Beispiels klarmachen werden. 76
Der Krieg hat Rußland jetzt praktisch vor eine Frage eben dieser Art
gestellt. Es mangelt an Inventar. Man muß es beschlagnahmen und darf
hochentwickelte Wirtschaften „nicht aufteilen“.
Die Bauern haben angefangen, das zu begreifen. Die Not hat sie dazu
gezwungen. Der Krieg hat sie dazu gezwungen, denn Inventar ist nicht
zu beschaffen. Man muß sorgsam damit umgehen. Und der Großbetrieb
bedeutet eben Arbeitserspamis an Inventar und an vielem anderen.
Die Bauern wollen ihre Kleinwirtschaft behalten, sie ausgleichend nor-
mieren, periodisch erneut ausgleichen . . . Und wenn schon. Deshalb wird
sich kein vernünftiger Sozialist mit den amen Bauern entzweien. Sind
die Ländereien konfisziert, so heißt das, daß die Herrschaft der Banken
untergraben ist, ist das Inventar konfisziert, so heißt das, daß die Herr-
schaft des Kapitals untergraben ist - dann wird sich bei Herrsdutft des
Proletariats im Zentrum, wenn die politische Macht an das Proletariat
übergegangen ist, alles andere von selbst ergeben, wird sich alles andere
durch die „Macht des Beispiels“ einstellen, aus der Praxis heraus lösen.
Aus dem Tagebuch eines Publizisten
Der Übergang der politischen Macht an das Proletariat, das ist der
Kern der Sache. Dann wird alles Wesentliche, Grundlegende, Wichtigste
im Programm der 242 Wähleraufträge durchführbar. Das Leben wird
schon zeigen, mit welchen Modifikationen dies durchgeführt wird. Das
ist unsere kleinste Sorge! Wir sind keine Doktrinäre. Unsere Lehre ist
kein Dogma, sondern eine Anleitung zum Handeln.
Wir behaupten nicht, daß Marx oder die Marxisten den Weg zum
Sozialismus in all seinen Einzelheiten kennen. Das wäre Unsinn. Wir
kennen die Richtung dieses Weges, wir wissen, welche Klassenkräfte auf
diesem Wege führend sind, doch konkret, praktisch wird das nur die
Erfahrung der Millionen zeigen, sobald sie die Sache in Angriff nehmen.
Vertraut euch den Arbeitern an. Genossen Bauern, brecht das Bündnis
mit den Kapitalisten! Nur im engsten Bündnis mit den Arbeitern könnt
ihr mit der Verwirklichung des Programms der 242 Wähleraufträge be-
ginnen. Im Bunde mit den Kapitalisten, unter der Führung der Sozial-
revolutionäre, werdet ihr niemals erleben, daß auch nur ein entschiede-
ner, unwiderruflicher Schritt im Geiste dieses Programms getan wird.
Wenn ihr aber im Bunde mit den Arbeitern in der Stadt, im scho-
nungslosen Kampf gegen das Kapital, beginnen werdet, das Programm
der 242 Wähleraufträge zu verwirklichen, dann wird euch und uns die
ganze Welt zu Hilfe kommen, dann wird der Erfolg dieses Programms
- nicht in seiner vorliegenden Formulierung, sondern seinem Wesen nach -
gesichert sein. Dann wird das Ende der Herrschaft des Kapitals und der
Lohnsklaverei kommen. Dann wird das Reich des Sozialismus, das Reich
des Friedens, das Reich der Werktätigen zur Wirklichkeit werden.
„ Rabotschi " Nr. 6, Nach dem Text des „ Rabotschi
11. September (29. August) 1917.
Unterschrift: N. Lenin.
19 Lenin. Werke. Bd. 25
DIE VERLEUMDER
Die „Retsch“ vom 20. August wie auch die „Russkaja Wolja“, ein mit
Geldmitteln offenkundig dunklen Ursprungs gegründetes Blatt, das dep
Wählern, wenn sie „sozialistisch gesinnt“ sind, empfiehlt, für das
„Jedinstwo“ und für die „Volkssozialisten“ zu stimmen, veröffentlichen
wiederum verleumderische Behauptungen über midi.
Beide Zeitungen teilen mit, daß diese Informationen aus dem „Kriegs-
ministerium“ kommen, und die „Retsch“ behauptet sogar, daß sie „auf
dokumentarischem Material und auf zahlreichen Angaben einzelner Per-
sonen“ beruhen.
Das Gesetz über Verleumdungen in der Presse äst in Rußland faktisch
außer Kraft gesetzt. Die Herren Verleumder, besonders die von der bür-
gerlichen Presse, genießen volle Freiheit: man trete in der Presse anonym
auf, man lüge und verleumde, so viel man will, man verstecke sich hinter
Mitteilungen, die von keiner offiziellen Person unterzeichnet, aber angeb-
lich offiziell sind - alles ist erlaubt! Die schmutzigen Verleumder, an der
Spitze die Herren Miljukow, genießen das Privileg der Unantastbarkeit.
Die Verleumder behaupten, ich hätte gewisse Beziehungen zu dem
„Bund zur Befreiung der Ukraine“. Die Zeitung Miljukows schreibt:
„Lenin hat von der deutschen Regierung den Auftrag bekommen, Pro-
paganda für den Frieden zu machen.“ ... „In Berlin haben zwei Sozia-
listenversammlungen stattgefunden, an denen Lenin und Joltuchowski
teilgenommen haben.“ Diesem letzten Satz fügt die „Russkaja Wolja“
hinzu: „Lenin war bei Joltuchowski abgestiegen.“
Wenn Herr Miljukow und andere solche Halunken, Helden gemeiner
Verleumdungen, Straflosigkeit genießen, bleibt mir nur eins übrig: noch
Die Verleumder
291
einmal zu wiederholen, daß das Verleumdung ist, noch einmal diesen
Helden der Erpressung, die sich auf Zeugenaussagen berufen, einen Zeu-
gen entgegenzustellen, den die Massen kennen.
Ein Führer des „Bundes zur Befreiung der Ukraine“, Bassok, ist mir
seit 1906 bekannt, als er - damals war er Menschewik - zusammen mit
mir am Stockholmer Parteitag teilnahm. Im Herbst 1914 oder Anfang
1915, als ich in Bern lebte, erschien in meiner Wohnung der bekannte
kaukasische Menschewik Tria, der aus Konstantinopel gekommen war.
Tria erzählte mir von Bassoks Beteiligung am „Bund zur Befreiung der
Ukraine" und von der Verbindung dieses Bundes mit der deutschen Re-
gierung. Er übergab mir dabei einen an mich gerichteten Brief von Bassok.
In diesem Brief sprach mir Bassok seine Sympathien aus und brachte seine
Hoffnung auf eine Annäherung unserer Auffassungen zum Ausdruck. Ich
war so entrüstet, daß ich sofort, in Anwesenheit von Tria, einen Antwort-
brief an Bassok schrieb, den ich Tria zur Weitergabe aushändigte, da er
beabsichtigte, wieder nach Konstantinopel zu fahren.
In dem Brief an Bassok erklärte ich, daß sich unsere Wege unbedingt
trennen und daß es nichts Gemeinsames zwischen uns gebe, da er mit
einer der imperialistischen Mächte in Verbindung trete.
Darauf beschränkten sich alle meine „Beziehungen“ zum „Bund zur
Befreiung der Ukraine“.
„Rabotschi" Nt. 8, Nadi dem Text des .Rabotsdii'.
12. September (30. August) 1917.
Unterschrift: N. Lenin.
AN DAS ZENTRALKOMITEE DER SDAPR
Es ist möglich, daß diese Zeilen zu spät kommen, denn die Ereignisse
entwickeln sich mit einer zuweilen geradezu schwindelerregenden Schnel-
ligkeit. Ich schreibe dies Mittwoch, den 30. August, und die Empfänger
werden es frühestens Freitag, den 2. September, lesen. Dennoch halte ich
es für meine Pflicht, auf alle Fälle folgendes zu schreiben.
Der Aufstand Komilows ist eine ganz und gar unerwartete (zu diesem
Zeitpunkt und in dieser Form unerwartete) und geradezu unwahrschein-
lich schroffe Wendung der Ereignisse.
Wie jede schroffe Wendung, erfordert auch diese eine Überprüfung und
Änderung der Taktik. Und wie bei jeder Überprüfung, muß man außer-
ordentlich vorsichtig sein, um nicht in Prinzipienlosigkeit zu verfallen.
Meiner Überzeugung nach verfallen jene in Prinzipienlosigkeit, die
(wie Wolodarski) zum Standpunkt der Vaterlandsverteidigung oder (wie
andere Bolschewiki) zu einem Block mit den Sozialrevolutionären, zur
Unterstützung der Provisorischen Regierung abgleiten. Das ist grund-
falsch, das ist Prinzipienlosigkeit. Vaterlandsverteidiger werden wir erst
nach dem Übergang der Macht an das Proletariat, nach, dem Friedens-
angebot, nachdem die Geheimverträge zerrissen und die Verbindungen
mit den Banken gelöst sind, erst nachher. Weder die Besetzung von
Riga noch die Besetzung von Petrograd wird uns zu Vaterlandsverteidi-
gem machen. (Ich bitte sehr, dies Wolodarski zum Lesen zu geben.) Bis
dahin sind wir für die proletarische Revolution, sind wir gegen den Krieg,
sind wir keine Vaterlandsverteidiger.
Die Kerenskiregierung dürfen wir selbst jetzt nicht unterstützen. Das
wäre Prinzipienlosigkeit. Man wird fragen: Sollen wir etwa nicht gegen
Komilow kämpfen? Natürlich sollen wir das! Aber das ist nicht dasselbe;
da gibt es eine Grenze, sie wird von manchen Bolschewiki überschritten,
die in „Verständigungspolitik“ verfallen, sich vom Strom der Ereignisse
mitreißen lassen.
&> *~z*t*- ■&■ ■
<Äa- ***-,*<*
Erste Seite von W. I. Lenins
Brief an das Zentralkomitee der SDAPR
30. August (12. September) 1917
An das Zentralkomitee der SDAPR
295
Wir werden kämpfen, wir kämpfen gegen Komilow ebenso wie die
Truppen Kerenskis, aber wir unterstützen Kerenski nicht, sondern ent-
larven seine Schwäche. Das ist ein Unterschied. Das ist ein recht feiner,
aber überaus wesentlicher Unterschied, den man nicht vergessen darf.
Worin besteht nun die Änderung unserer Taktik nach dem Aufstand
von Komilow?
Darin, daß wir die Form unseres Kampfes gegen Kerenski ändern.
Ohne unsere Feindschaft gegen ihn auch nur um einen Deut zu mildem,
ohne ein Wort von dem, was wir gegen ihn gesagt haben, zuriidczu-
nehmen, ohne auf die Aufgabe zu verzichten, Kerenski zu stürzen, sagen
wir: Man muß der Situation Rechnung tragen, jetzt werden wir Kerenski
nicht stürzen, wir werden jetzt an die Aufgabe, den Kampf gegen ihn zu
führen, anders herangehen, und zwar werden wir das Volk (das gegen
Komilow kämpft) über Kerenskis Schwäche und über seine Schwankun-
gen aufklären. Das taten wir auch früher, jetzt aber ist das die Haupt-
sache geworden: darin besteht die Änderung.
Ferner besteht die Änderung darin, daß jetzt die verstärkte Agitation
für gewisse „Teilforderungen“ an Kerenski zur Hauptsache geworden
ist: verhafte Miljukow, bewaffne die Petrograder Arbeiter, rufe die Kron-
städter, Wiborger und Helsingforser Truppen nach Petrograd, jage die
Reichsduma auseinander, verhafte Rodsjanko, erhebe die Übergabe der
Gutsbesitzerländereien an die Bauern zum Gesetz, führe über die Brot-
versorgung und in den Fabriken die Arbeiterkontrolle ein, usw. usf. Und
nicht nur an Kerenski, nicht so sehr an Kerenski müssen wir diese
Forderangen richten als vielmehr an die Arbeiter, Soldaten und Bauern,
die vom Verlauf des Kampfes gegen Komilow mitgerissen worden sind.
Wir müssen sie weiter mitreißen, sie anspomen, den Generalen und Of-
fizieren, die für Komilow eintreten, das Fell zu gerben ; wir müssen darauf
bestehen, daß s i e die sofortige Übergabe des Bodens an die Bauern for-
dern ; wir müssen sie auf den Gedanken bringen, daß Rodsjanko und
Miljukow verhaftet, die Reichsduma auseinandergejagt, die „Retsch“ und
andere bürgerliche Zeitungen verboten werden müssen, daß man eine
Untersuchung gegen sie einleiten muß. Ganz besonders müssen die „lin-
ken“ Sozialrevolutionäre in diese Richtung gedrängt werden.
Es wäre falsch anzunehmen, daß wir uns von der Aufgabe der Er-
oberung der Macht durch das Proletariat entfernt haben. Nein. Wir sind
296
dieser Aufgabe ganz erheblich näher gekommen, aber nicht direkt, son-
dern von der Seite her. Und audi die Agitation muß momentan nicht
so sehr direkt gegen Kerenski gerichtet sein, wie indirekt gegen ihn, indi-
rekt, indem wir den aktiven, den alleraktivsten, den wahrhaft revolutio-
nären Krieg gegen Komilow fordern. Einzig und allein die Entwicklung
dieses Krieges kann uns an die Macht bringen, doch davon soll bei der
Agitation möglichst wenig geredet werden (wobei man stets daran
denken muß, daß die Ereignisse uns morgen schon an die Macht bringen
können, die wir dann nicht wieder aus der Hand geben werden). Meines
Erachtens müßte man das in einem Brief an die Agitatoren (nicht
in der Presse) den Gruppen der Agitatoren und Propagandisten
und überhaupt den Parteimitgliedern mitteilen. Die Phrasen von der
Verteidigung des Landes, von der Einheitsfront der revolutionären
Demokratie, von der Unterstützung der Provisorischen Regierung usw.
usf. müssen wir schonungslos bekämpfen, eben als Phrasen bekämpfen.
Jetzt ist es Zeit zu handeln. Ihr Herren Sozialrevolutionäre und Men-
schewiki habt diese Phrasen längst abgedroschen. Jetzt ist es Zeit zu
handeln, den Krieg gegen Komilow muß man revolutionär führen, in-
dem man die Massen hineinzieht, sie in Bewegung bringt, sie entflammt
(Kerenski aber fürchtet die Massen, fürchtet das Volk). Im Krieg
gegen die Deutschen gilt es gerade jetzt zu handeln: sofort unbe-
dingt den Frieden zu präzisen Bedingungen anbieten. Tut
man das, so kann man entweder einen raschen Frieden oder die Um-
wandlung des Krieges in einen revolutionären Krieg erreichen, andernfalls
bleiben alle Menschewiki und Sozialrevolutionäre Lakaien des Imperia-
lismus.
PS. Nach Niederschrift dieser Zeilen las idi sechs Nummern des
„Rabotschi“ 77 und muß sagen, daß wir vollkommen übereinstimmen. Ich
begrüße von ganzem Herzen die ausgezeichneten Leitartikel, die Presse-
rundschau und die Artikel von W. M-n und Wol-i. Was die Rede von
Wolodarski betrifft, so habe ich seinen Brief an die Redaktion gelesen,
durch den ebenfalls meine Vorwürfe hinfällig werden. Noch einmal beste
Grüße und Wünsche ! Lenin
Geschrieben am 30. August (12. September) 1917.
Zuerst veröffentlicht am 7. November 1920
m der „ Prawda ' Nr. 250.
Nach dem Manuskript.
AUS DEM TAGEBUCH EINES PUBLIZISTEN
1. DIE WURZEL DES ÜBELS
Wenn wir von dem Publizisten der „Nowaja Shisn“ N. Suchanow
sprechen, werden sicherlich alle damit einverstanden sein, daß er nicht der
schlechteste, sondern einer der besten Vertreter der kleinbürgerlichen
Demokratie ist. Er hat eine aufrichtige Neigung zum Internationalismus,
die er in den schwersten Zeiten, mitten im Wüten der zaristischen Reak-
tion und des Chauvinismus bewiesen hat. Er hat Kenntnisse, und ihm ist
das Bestreben eigen, sich über ernste Fragen ein selbständiges Urteil zu
bilden, was er durch seine lange Entwicklung von der Sozialrevolutionären
Ideologie in Richtung zum revolutionären Marxismus hin bewiesen hat.
Um so bezeichnender ist es, daß sogar solche Leute es fertigbringen,
in den entscheidenden Augenblicken der Revolution den Lesern so leicht-
fertige Urteile über grundlegende Fragen der Revolution vorzusetzen
wie folgende:
„Wie viele revolutionäre Errungenschaften uns in den letzten Wochen auch
verlorengegangen sind, eine davon, die wichtigste vielleicht, bleibt in Kraft: die
Regierung kann sich mit ihrer Politik nur durch den Willen der Sowjetmehrheit
halten. Die revolutionäre Demokratie hat all ihren Einfluß aus freien Stücken
abgetreten: die demokratischen Organe könnten diesen Einfluß noch ganz leicht
wieder zurücknehmen: hätten sie das nötige Verständnis dafür, was die gegen-
wärtige Situation erfordert, so könnten sie die Politik der Provisorischen Regie-
rung mühelos in das richtige Fahrwasser leiten.“ („Nowaja Shisn“ Nr. 106 vom
20. August.)
Diese Worte enthalten eine sehr leichtfertig dahingesagte ungeheuer-
liche Unwahrheit über die wichtigste Frage der Revolution, eine Unwahr-
heit, die in den verschiedensten Ländern in den Kreisen der kleinbürger-
W. I. Lenin
Iidien Demokratie weit verbreitet ist und den meisten Revolutionen zum
Verhängnis wurde.
Überdenkt man all die kleinbürgerlichen Illusionen, die in der ange-
führten Betrachtung enthalten sind, so kommt man unwillkürlich auf den
Gedanken, daß die Bürger von der „Nowaja Shisn“ gar nicht zufällig auf
dem „Vereinigungs“kongreß 78 mit den Ministem, mit den ministeriablen
Sozialisten, mit den Zereteli und Skobelew, mit den Mitgliedern der
Regierung, den Kollegen von Kerenski, Komilow und Co., zusammen-
sitzen. Das ist ganz und gar kein Zufall. Diese Leute haben in der Tat
eine gemeinsame ideologische Grandlage: die vemunftlose, kritiklos aus
dem Milieu der Spießer übernommene philisterhafte Vertrauensseligkeit
frommen Wünschen gegenüber. Denn eben von einer solchen Vertrauens-
seligkeit ist die ganze Betrachtung Suchanows durchdrungen, ebenso wie
die ganze Tätigkeit jener menschewistisdien Vaterlandsverteidiger, die in
gutem Glauben handeln. In dieser kleinbürgerlichen Vertrauensseligkeit
liegt die Wurzel des Übels unserer Revolution.
Sicherlich wäre Suchanow durchaus bereit, die Forderung zu unter-
schreiben, die der Marxismus an jede ernsthafte Politik stellt, nämlich,
daß der Politik Tatsachen zugrunde liegen, zugrunde gelegt werden, die
eine genaue objektive Prüfung gestatten. Versuchen wir vom Standpunkt
dieser Forderung aus an die Behauptung Suchanows in dem angeführten
Zitat heranzugehen.
Welche Tatsachen liegen dieser Behauptung zugrunde? Womit könnte
Suchanow beweisen, daß die Regierung sich „nur durch den Willen“ der
Sowjets „halten kann“, daß es den Sowjets „ganz leicht“ wäre, „all ihren
Einfluß wieder zurückzunehmen“, daß sie „mühelos“ die Politik der Pro-
visorischen Regierung ändern könnten?
Suchanow könnte sich erstens auf seinen allgemeinen Eindruck, auf die
„offensichtliche“ Stärke der Sowjets, auf Kerenskis Erscheinen im Sowjet,
auf die liebenswürdigen Äußerungen dieses oder jenes Ministers berufen
u. dgl. m. Das wäre natürlich ein ganz untauglicher Beweis, damit würde
Suchanow vielmehr den völligen Mangel an Beweisen, das völlige Fehlen
objektiver Tatsachen eingestehen.
Zweitens könnte sich Suchanow auf die objektive Tatsache berufen,
daß sich die überwältigende Mehrheit der Resolutionen der Arbeiter, Sol-
daten und Bauern entschieden für die Sowjets und für ihre Unterstützung
Aus dem Tagebuch eines Publizisten
ausspricht. Diese Resolutionen drücken also den Willen der Mehrheit des
Volkes aus.
Diese Auffassung ist bei den Spießern nicht weniger verbreitet als die
zuerst angeführte. Sie ist aber völlig unhaltbar.
In allen Revolutionen war der Wille der Mehrheit der Arbeiter und
Bauern, d. h. ohne Zweifel der Wille der Mehrheit der Bevölkerung, für
die Demokratie, und dennoch endete die überwiegende Mehrzahl aller
Revolutionen mit einer Niederlage der Demokratie.
Ausgehend von diesen Erfahrungen der meisten Revolutionen, beson-
ders der Revolution von 1848 (die unserer jetzigen am ähnlichsten ist),
verspottete Marx erbarmungslos die kleinbürgerlichen Demokraten, die
mit Hilfe von Resolutionen und durch Berufung auf den Willen der
Mehrheit des Volkes siegen wollten.
Unsere eigene Erfahrung bestätigt das noch anschaulicher. Im Frühjahr
1906 war die Mehrzahl der Arbeiter- und Bauemresolutionen zweifellos
für die erste Duma. Zweifellos stand die Mehrheit des Volkes hinter dieser
Duma, und dennoch gelang es dem Zaren, sie auseinanderzujagen, weil der
Aufschwung der revolutionären Klassen (die Arbeiterstreiks und Bauem-
unruhen im Frühjahr 1906) zu schwach für eine neue Revolution war.
Man denke einmal über die Erfahrungen der jetzigen Revolution nach.
Sowohl im März und April als audx im Juli und August 1917 war die
Mehrheit der Resolutionen, die Mehrheit des Volkes für die Sowjets,
doch ein jeder sieht, weiß und fühlt heute, daß die Revolution im März
und April vorwärtsging, während sie im Juli und August zurückgegangen
ist. Also entscheidet die Berufung auf die Mehrheit des Volkes in den
konkreten Fragen der Revolution noch gar nichts.
Mit dieser Berufung allein irgend etwas beweisen zu wollen ist das
Musterbeispiel einer kleinbürgerlichen Illusion. Man will nicht zugeben,
daß in der Revolution die feindlichen Klassen besiegt werden müssen, die
sie verteidigende Staatsgewalt gestürzt werden muß und daß dazu „der
Wille der Mehrheit des Volkes“ nicht genügt, sondern daß dazu die Kraft
der kampfbereiten und kampffähigen revolutionären Klassen unerläßlich
ist, eine Kraft, die die feindlichen Kräfte im entscheidenden Augenblick
an der entscheidenden Stelle zerschmettert.
Wie oft haben in Revolutionen die zahlenmäßig geringen, aber gut
organisierten, bewaffneten und zentralisierten Kräfte der herrschenden
300
W. L Lenin
Klassen, der Gutsbesitzer und der Bourgeoisie, die schlecht organisierten,
schlecht bewaffneten, zersplitterten Kräfte der „Mehrheit des Volkes“
nacheinander niedergeschlagen.
Nur einem ganz und gar bornierten Kleinbürger steht es an, die kon-
kreten Fragen des Klassenkampfes in einer Zeit, in der er durch die Revo-
lution besonders verschärft wird, durch „allgemeine“ Hinweise auf den
„Willen des Volkes“ zu ersetzen.
Drittens führt Suchanow in der angegebenen Betrachtung ein „Argu-
ment“ an, das unter den Spießern ebenfalls ziemlich geläufig ist. Er beruft
sich darauf, daß „die revolutionäre Demokratie ihren ganzen Einfluß aus
freien Stücken abgetreten hat“. Daraus wird anscheinend der Schluß ge-
zogen, daß das, was „aus freien Stücken“ abgetreten wurde, auch leicht
wieder zurückgenommen werden kann . . .
Diese Schlußfolgerung taugt nichts. Vor allem setzt die Zurücknahme
des freiwillig Abgetretenen das „freiwillige Einverständnis“ desjenigen
voraus, der das Abgetretene erhalten hat. Also müßte ein solches frei-
williges Einverständnis vorhanden sein. An wen aber würde etwas „ab-
getreten“? Wer hat den „Einfluß“ ausgenutzt, den die „revolutionäre
Demokratie“ abgetreten hat?
Es ist sehr bezeichnend, daß Suchanow diese für jeden nicht ganz denk-
unfähigen Politiker grundlegende Frage überhaupt nicht berührt . . . Doch
gerade das ist der Kern, darin besteht das Wesen der Sache: in wessen
Händen befindet sich tatsädilidi das, was die (mit Verlaub zu sagen)
„revolutionäre Demokratie“ „aus freien Stücken abgetreten hat“?
Gerade dieses Wesen der Sache umgeht Suchanow, wie das alle Men-
schewiki und Sozialrevolutionäre, alle kleinbürgerlichen Demokraten
überhaupt machen.
Weiter. Im Kinderzimmer mag es wohl Vorkommen, daß man das, was
man „aus freien Stücken abgetreten hat“, ohne Schwierigkeiten zurück-
nehmen kann: wenn Katja ihren Ball freiwillig Mascha gegeben hat, so
ist es möglich, daß sie ihn „ganz leicht zurücknehmen“ kann. Doch wohl
nur ein russischer Intellektueller wird es unternehmen, diese Begriffe
auf die Politik, auf den Klassenkampf zu übertragen.
In der Politik beweist das freiwillige Abtreten des „Einflusses“ ein
solches Unvermögen, eine solche Schwäche, eine solche Charakterlosig-
keit und Waschlappigkeit des Verzichtenden, daß man daraus überhaupt
Aus dem Tagebuch eines Publizisten
301
nur eins „schließen“ kann: wer freiwillig den Einfluß abtritt, ist es „wert“,
daß man ihm nicht nur den Einfluß, sondern auch die Existenzberech-
tigung nimmt. Oder, mit anderen Worten, die Tatsache des freiwilligen
Verzichts auf den Einfluß „beweist“ an sidi nur, daß der, an den dieser
freiwillig abgetretene Einfluß übergegangen ist, unvermeidlich dem Ver-
zichtenden auch seine Rechte nehmen wird.
Hat die „revolutionäre Demokratie“ freiwillig ihren Einfluß abgetre-
ten, so war sie keine revolutionäre, sondern eine spießerhaft niedrige,
feige, noch im knechtischen Denken befangene Demokratie, die von ihren
Feinden (gerade nach diesem Verzicht) auseinandergejagt oder auf ein
Nichts reduziert werden kann, der es überlassen bleibt, ebenso „aus
freien Stücken“ zu sterben, wie sie „aus freien Stücken“ ihren Einfluß
abgetreten hat.
In dem Verhalten politischer Parteien nur Launen sehen heißt auf
jedes Studium der politischen Zusammenhänge verzichten. Einem solchen
Verhalten wie dem „freiwilligen Abtreten des Einflusses“, das zwei große
Parteien an den Tag legen, die nach allen Informationen, Nachrichten und
objektiven Ergebnissen der Wahlen die Mehrheit des Volkes hinter sich
haben, einem solchen Verhalten muß man auf den Grund gehen. Es kann
nicht zufällig sein. Es muß mit der bestimmten ökonomischen Lage irgend-
einer großen Klasse des Volkes Zusammenhängen. Es muß unweigerlich
mit der geschichtlichen Entwicklung dieser Parteien Zusammenhängen.
Suchanows Betrachtung ist deshalb so typisch für Tausende Und aber
Tausende gleichartiger Betrachtungen von Spießern, weil sie im Grunde
genommen auf dem Begriff des freien Willens („aus freien Stücken“)
beruht und die Geschuhte der in Frage kommenden Parteien ignoriert.
Suchanow hat einfach .diese Geschichte aus seiner Überlegung gestrichen;
er hat vergessen, daß das freiwillige Abtreten des Einflusses eigentlich am
28. Februar begonnen hat, als der Sowjet Kerenski das Vertrauen aus-
sprach und das „Abkommen“ mit der Provisorischen Regierung billigte.
Der 6. Mai war dann ein geradezu ungeheuerlicher Verzicht auf den Ein-
fluß. Im ganzen gesehen haben wir es hier mit einer klaren, in die Augen
springenden Erscheinung zu tun: die Parteien der Sozialrevolutionäre und
Menschewiki gerieten von Anfang an auf die schiefe Ebene und rollten mit
immer wachsender Geschwindigkeit hinab. Nach dem 3. bis 5. Juli waren
sie unten in der Mistgrube gelandet.
302
Jetzt aber zu sagen, der Verzicht wäre aus freien Stücken erfolgt, man
könne „ganz leicht“ die großen politischen Parteien rechtsum kehrt-
machen lassen, sie „mühelos“ dazu bewegen, ihre in vielen Jahren (und
vielen Monaten der Revolution) verfolgte Richtung zu verlassen und die
entgegengesetzte Richtung einzuschlagen, man könne sich „ganz leicht“
aus der Mistgrube wieder herausarbeiten und die schiefe Ebene wieder
hinaufklettem - ist das nicht der Gipfel der Leichtfertigkeit?
Viertens schließlich könnte sich Sudianow zur Verteidigung seiner An-
sicht darauf berufen, daß die Arbeiter und Soldaten, die dem Sowjet das
Vertrauen ausgesprochen haben, bewaffnet seien und deshalb den ganzen
Einfluß „ganz leicht“ zurücknehmen könnten. Doch gerade in diesem, dem
vielleicht wichtigsten Punkt steht es besonders schlimm um die Auffassun-
gen der Spießer, die uns der Mitarbeiter der „Nowaja Shisn“ wiedergibt.
Um möglichst konkret zu sein, wollen wir den 20. und 21. April mit
dem 3. bis 5. Juli vergleichen.
Am 20. April kommt die Empörung der Massen gegen die Regierung
zum Durchbruch. Ein bewaffnetes Regiment geht in Petrograd auf die
Straße, um die Regierung zu verhaften. Zur Verhaftung kommt es nicht.
Aber die Regierung sieht deutlich, daß sie keine Stütze mehr hat. Sie hat
keine Truppen mehr hinter sidi. Eine soldte Regierung zu stürzen ist tat-
sächlich „ganz leicht“, deshalb stellt die Regierung dem Sowjet ein Ulti-
matum : Entweder wir gehen, oder ihr unterstützt uns.
Am 4. Juli sehen wir den gleichen Ausbruch der Massenempörung,
einen Ausbruch, den alle Parteien einzudämmen suchten, der sich aber
trotz aller dieser, Versuche Bahn bricht. Die gleiche bewaffnete Demon-
stration gegen die Regierung. Doch der ungeheure Unterschied besteht in
folgendem die verwirrten, dem Volke entfremdeten Führer der Sozial-
revolutionäre und Menschewiki verständigten sich bereits am 3. Juli mit
der Bourgeoisie darüber, daß die Käledinschen Truppen nach Petrograd
beordert werden. Da liegt der Hase im Pfeffer!
Mit soldatischer Offenheit sprach es Kaledin auf der Moskauer Beratung
aus : Ihr sozialistischen Minister habt „uns“ ja selbst am 3. Juli zu Hilfege-
rufen! . . . Niemand auf der Beratung wagte es, Kaledin zu widersprechen,
denn er sagte die Wahrheit. Kaledin verhöhnte die Menschewiki und Sozial-
revolutionäre, sie aber mußten dazu schweigen. Ein Kosakengeneral spuckte
ihnen ins Gesicht, sie aber wischten sich ab und sagten : „Tautropfen“ !
Aus dem Tagebuch eines Publizisten 303
Die bürgerlichen Zeitungen veröffentlichten die Worte Kaledins, aber
die menschewistische „Rabotschaja Gaseta“ und das Sozialrevolutionäre
„Delo Naroda“ verheimlichten ihren Lesern diese wesentlichste politische
Erklärung, die auf der Moskauer Beratung abgegeben wurde.
So geschah es, daß die Regierung zum erstenmal speziell die Kaledin-
schen Truppen zu ihrer Verfügung hatte, während die entschlossenen,
wirklich revolutionären Truppen und Arbeiter entwaffnet wurden. Das
ist die wesentliche Tatsache, die Suchanow so „ganz leicht“ mit Schwei-
gen übergeht, die er vergißt, die aber Tatsache bleibt. Sie ist die ent-
scheidende Tatsache für die gegenwärtige Phase der Revolution, für die
erste Revolution.
An der entscheidenden Stelle ging die Macht, erst an der Front, dann
in der ganzen Armee, in die Hände der Kaledin über. Das ist eine Tat-
sache. Die aktivsten der ihnen feindlich gesinnten Truppen wurden ent-
waffnet. Wenn die Kaledin auch nicht sofort ihre Macht dazu ausnutzen,
eine umfassende Diktatur aufzurichten, so widerlegt das in keiner Weise
die Tatsache, daß sie die Macht besitzen. Besaß etwa der Zar nach dem
Dezember 1905 die Macht nicht mehr? Zwangen ihn denn nicht die Um-
stände, diese Macht so vorsichtig zu handhaben, daß er erst noch zwei
Dumas einberief, bevor er die ganze Madit an sich riß, d. h., bevor er den
Staatsstreich vollzog? 79
Die Macht muß man nach Taten, nicht nach Worten einschätzen. Die
Taten der Regierung seit dem 5. Juli beweisen, daß die Kaledin im Besitz
der Macht sind, die langsam, aber unbeirrt immer weiter vorrücken und
jeden Tag neue, kleine und große „Konzessionen“ erlangen: heute -
Straflosigkeit für die Offiziersschüler, die die Redaktion der „Prawda“
demolieren, Prawdisten ermorden und willkürlich Verhaftungen vor-
nehmen, morgen - ein Gesetz über Zeitungsverbote, über die Auflösung
von Versammlungen und Tagungen, über Landesverweisungen ohne Ge-
richtsverfahren, über Gefängnisstrafen wegen Beleidigung „befreundeter
Botschafter“, über Zuchthausstrafen für Anschläge gegen die Regierung,
über die Einführung der Todesstrafe an der Front und so weiter und so
weiter.
Die Kaledin sind keine Dummköpfe. Weshalb sollten sie unbedingt
draufgängerisch mit dem Kopf durch die Wand wollen und einen Miß-
erfolg riskieren, wenn sie tagtäglich Stück für Stück das in die Hand be-
304
W. I. Lenin
kommen, was sie haben wollen? Die Einfaltspinsel, die Skobelew und
Zereteli, Tschemow und Awksentjew, Dan und Liber aber schreien bei
jedem Schritt, den die Kaledin vorwärts tun: „Triumph der Demokratie!
Sieg!“ Den „Sieg“ sehen sie darin, daß die Kaledin, Komilow und
Kerenski sie nicht mit einem Male verschlingen ! !
Die Wurzel des Übels besteht eben darin, daß die kleinbürgerliche
Masse schon durch ihre ökonomische Lage zu einer geradezu erstaun-
lichen Vertrauensseligkeit und Unbewußtheit erzogen worden ist, daß
sie immer noch halb schläft und im Schlaf murmelt: Es ist „ganz leicht“,
das aus freien Stücken Abgetretene zurückzunehmen ! Versucht doch
zurüdczunehmen, laßt euch doch von Kaledin und Komilow freiwillig
etwas zurückgeben !
Die Wurzel des Übels besteht auch darin, daß die „demokratische“
Publizistik diese einschläfernde, spießerhaft bornierte, einer Knechtseele
würdige Illusion unterstützt, statt sie zu bekämpfen.
Geht man so an die Dinge heran, wie es normalerweise ein Historiker
der politischen Geschichte und besonders ein Marxist tun muß, d. h„
betrachtet man die Ereignisse in ihrem Zusammenhang, so ergibt sich
ganz klar, daß die entscheidende Wende jetzt nicht nur nicht „leicht“,
sondern im Gegenteil ohne eine neue Revolution überhaupt immög-
lich ist.
Ich gehe hier gar nicht auf die Frage ein, ob eine solche Revolution er-
wünscht ist, ich untersuche gar nicht, ob sie friedlich und legal vor sich
gehen kann (in der Geschichte hat es, allgemein gesprochen, Beispiele
friedlicher und legaler Revolutionen gegeben). Ich stelle nur fest, daß
eine entscheidende Wende ohne eine neue Revolution historisch gesehen
unmöglich ist. Denn die Macht ist bereits in anderen Händen, sie ist
nicht mehr in den Händen der „revolutionären Demokratie“, sie wurde
bereits von anderen ergriffen und gefestigt. Das Verhalten der Parteien
der Sozialrevolutionäre und Menschewiki aber ist nicht zufällig, es ist
das Produkt der ökonomischen Lage des Kleinbürgertums und das Resul-
tat der langen Kette von politischen Ereignissen vom 28. Februar bis zum
6. Mai, vom 6. Mai bis zum 9. Juni, vom 9. Juni bis zum 18. und 19. Juni
(Offensive) usw. Eine Wende ist im ganzen Machtverhältnis erforderlich,
in der gesamten Zusammensetzung der Staatsmacht, in allen Bedingungen
für die Betätigung der größten Parteien, in den „Bestrebungen“ der
Aus dem Tagebuch eines Publizisten 305
Klasse, die diese Parteien stützt. Soldie Wendungen sind historisch un-
denkbar ohne eine neue Revolution.
Statt dem Volk alle wichtigen geschichtlichen Vorbedingungen einer
neuen Revolution, ihre ökonomischen und politischen Voraussetzungen,
die politischen Aufgaben, das ihr entsprechende Verhältnis der Klassen
zueinander usw. auseinanderzusetzen, schläfern Suchanow und viele
andere kleinbürgerliche Demokraten das Volk durch müßige Spielereien
ein, suchen es damit zu beruhigen, daß wir doch „mühelos alles zurück-
nehmen können", daß das „ganz leicht“ sei, daß die „wichtigste“ revo-
lutionäre Errungenschaft „in Kraft bleibe“, und mit ähnlichem leicht-
sinnigem, dummem, geradezu verbrecherischem Unsinn.
Die Anzeichen einer tiefgreifenden gesellschaftlichen Wende sind vor-
handen. Sie zeigen deutlich die Richtung der zu leistenden Arbeit. Der
Einfluß der Sozialrevolutionäre und Menschewiki im Proletariat sinkt
ganz offensichtlich, während der Einfluß der Bolschewiki offensichtlich
steigt. Übrigens haben sogar die Wahlen vom 20. August in Petro-
grad gegenüber den Juniwahlen zu den Bezirksdumas in Petrograd 80 den
Bolschewiki einen Zuwachs an Stimmen gebracht und das, obwohl man
„Kaledinsdie Truppen nach Petrograd“ gebracht hat!
Das objektive Anzeichen für eine Wende bei der unvermeidlich zwi-
schen Proletariat und Bourgeoisie schwankenden kleinbürgerlichen Demo-
kratie ist die Tatsache, daß die revolutionären internationalistischen Strö-
mungen erstarken, sich festigen und weiterentwickeln: Martow und an-
dere bei den Menschewiki, Spiridonowa, Kamkow und andere bei den
Sozialrevolutionären. Es braucht nicht erst erwähnt zu werden, daß die
herannahende Hungersnot, die Zerrüttung und die militärischen Nieder-
lagen diese Wende zur Machtergreifung durch das von der armen
Bauernschaft unterstützte Proletariat außerordentlich beschleunigen
können.
2. FRONDIENST UND SOZIALISMUS
Besonders erbitterte Gegner des Sozialismus erweisen diesem zuweilen
einen Dienst durch einen unvernünftigen Eifer bei ihren „Enthüllungen“.
Sie fallen gerade über das her, was Sympathie und Nachahmung ver-
ain, Werke. Bd. 25
W. I. Lenin
dient. Sie öffnen dem Volk schon durch den Charakter ihrer Angriffe die
Augen über die Niedertracht der Bourgeoisie.
Gerade so ist es einer der niederträchtigsten bürgerlichen Zeitungen,
der „Russkaja Wolja“, ergangen, die am 20. August unter dem Titel
„Frondienst“ einen Bericht aus Jekaterinburg brachte, in dem folgendes
mitgeteilt wird:
„Der Sowjet, der Arbeiter- und Soldatendeputierten hat in unserer Stadt den
Bürgern, die Pferde besitzen, die Verpflichtung auferlegt, für die täglichen Dienst-
fahrten der Mitglieder des Sowjets abwechselnd ihre Pferde zur Verfügung zu
stellen.
Die Reihenfolge dieser Dienstleistung wurde in einem besonderen Plan fest-
gelegt. Pünktlich wird jeder .Pferde besitzende Bürger' schriftlich davon benach-
richtigt, wo, an welchem Tage und zu welcher Stunde er mit seinem Pferd zur
Dienstleistung antreten soll.
Um der Sache mehr Nachdruck zu verleihen, wird dem .Befehl' hinzugefügt:
.Sollten Sie dieser Aufforderung nicht nachkommen, wird der Sowjet auf Ihre
Kosten für einen Betrag bis zu 25 Rubel einen Wagen mieten'
Der Verteidiger der Kapitalisten ist natürlich entrüstet. Die Kapita-
listen sehen seelenruhig zu. wie die ungeheure Mehrheit des Volkes sich
ihr ganzes Leben im Elend abrackert, nicht nur „im Frondienst“, sondern
geradezu im Zuchthaus der Fabrik, des Bergwerks oder bei einer anderen
Lohnarbeit, oder auch oft genug hungert, weil keine Arbeit da ist. Da
sehen die Kapitalisten ruhig zu.
Wenn aber die Arbeiter und Soldaten den Kapitalisten eine auch nur
ganz geringfügige gesellschaftliche Pflicht auferlegen, dann erheben die
Herren Ausbeuter ein Geschrei über „Frondienst“ ! !
Man frage einen beliebigen Arbeiter, einen beliebigen Bauern, ob er
es schlecht fände, wenn die Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputier-
ten die einzige Macht im Staate wären und überall gesellschaftliche
Dienstpflichten für die Reichen einführten, z. B. obligatorischen Dienst
mit ihren Pferden, Autos und Fahrrädern oder obligatorische tägliche
Schreibarbeiten zur Registrierung der Lebensmittel, der Zahl der Bedürf-
tigen usw. usf.?
Jeder Arbeiter und jeder Bauer, mit Ausnahme vielleicht des Kulaken,
wird das gutheißen.
Aus dem Tagebuch eines Publizisten
307
Das ist richtig so. Es ist das nodi kein Sozialismus, sondern nur einer
der ersten Schritte zum Sozialismus, aber es ist gerade das, was das arme
Volk dringend und unverzüglich braucht. Ohne solche Maßnahmen kann
man das Volk nicht vor dem Hunger und dem Untergang retten.
Warum bleibt nun aber der Sowjet in Jekaterinburg eine seltene Aus-
nahme? Warum werden solche Maßnahmen nicht schon längst in ganz
Rußland durchgeführt? Warum werden nicht gerade Maßnahmen solcher
Art zu einem ganzen System ausgebaut?
Warum führt man nach der gesellschaftlichen Pflicht für die Reichen,
ihre Pferde zur Verfügung zu stellen, nicht auch eine gesellschaftliche
Pflicht für die Reichen ein, über ihre Geldgeschäfte umfassend Rechen-
schaft abzulegen, besonders bei Lieferungen an den Staat, unter einer
ebensolchen Kontrolle durch die Sowjets, mit einer ebensolchen „pünkt-
lichen schriftlichen Benachrichtigung“, wann und wo die Abrechnung vor-
zulegen ist, wann, wo und wieviel Steuern zu entrichten sind?
Deshalb nicht, weil an der Spitze der überwiegenden Mehrzahl der
Sowjets Sozialrevolutionäre und menschewistisdie Führer stehen, die in
Wirklichkeit zur Bourgeoisie übergelaufen sind, die in eine bürgerliche
Regierung eingetreten sind, zu deren Unterstützung sie sich verpflich-
teten, die nicht nur den Sozialismus, sondern auch die Demokratie ver-
raten haben. Diese Führer „verständigen“ sich mit der Bourgeoisie, die
z. B. in Petrograd nicht nur die Einführung einer gesellschaftlichen Dienst-
pflicht für die Reichen nicht zulassen würde, sondern seit Monaten viel
bescheidenere Reformen hintertreibt.
Diese Führer betrügen ihr eigenes Gewissen und das Volk mit dem
Argument, daß „Rußland für die Einführung des Sozialismus noch nicht
reif“ sei.
Warum muß man solche Argumente als Betrug ansdien?
Weil mit Hilfe solcher Argumente die Sache fälschlich so dargestellt
wird, als handele es sich um irgendeine ungeheuer komplizierte und
schwierige Umgestaltung, die das gewohnte Leben vieler Millionen Men-
schen zerschlagen würde. Die Sache wird lügnerisch so dargestellt, als
wolle jemand den Sozialismus in Rußland mit einem einzigen Erlaß „ein-
führen“, ohne den Stand der Technik, ohne die unzähligen Kleinbetriebe,
ohne die Gewohnheiten und den Willen der Mehrheit der Bevölkerung
zu berücksichtigen.
W. I. Lenin
Das alles ist eine einzige Lüge. Niemand hat ähnliches vorgeschlagen.
Keine Partei, kein Mensch hat daran gedacht, durch einen Erlaß „ den
Sozialismus einzuführen“. Es handelt und handelte sich ausschließlich
um solche Maßnahmen, die, so wie die Einführung einer gesellschaft-
lichen Dienstpflicht für die Reichen in Jekaterinburg, von der Masse der
Armen, d. h. von der Mehrheit der Bevölkerung, vollauf gebilligt wer-
den, um Maßnahmen, die technisch und kulturell vollkommen zeitgemäß
sind, die eine unmittelbare Erleichterung der Lebensbedingungen der
Armen bedeuten und es ermöglichen, die Kriegslasten zu mildem und
gleichmäßiger zu verteilen.
Fast ein halbes Jahr Revolution liegt hinter uns, aber die Sozialrevolu-
tionären und menschewistischen Führer hintertreiben alle solche Maß-
nahmen, sie verraten die Interessen des Volkes um der „Verständigung“
mit der Bourgeoisie willen.
Solange die Arbeiter und Bauern nicht begreifen, daß diese Führer
Verräter sind, daß sie verjagt und all ihrer Posten enthoben werden
müssen, solange werden die Werktätigen unvermeidlich Sklaven der Bour-
geoisie bleiben.
„RabotschC Nt. 10, Nadt dem Text des JRabotsdii".
14. (1.) September 1917.
Unterschrift: N. Lenin.
ZUR FRAGE DES PARTEIPROGRAMMS
Die Mitteilung des Gen. Budiarin im „Spartak“ 81 über die Einberufung
eines „engeren“ Parteitags, der das Programm annehmen soll, zeigt, wie
diese Frage zur Lösung drängt.
Diese Frage ist wirklich unaufschiebbar.
Unsere Partei steht an der Spitze der anderen internationalistischen
Parteien, das ist jetzt eine Tatsache.
Sie hat die Pflicht, die Initiative zu ergreifen und mit einem Programm
aufzutreten, das auf die Probleme des Imperialismus Antwort gibt.
Es wäre ein Skandal und eine Schande, wenn wir das nicht täten.
Ich schlage dem ZK vor zu beschließen :
Jede Parteiorganisation ernennt sofort eine oder mehrere Kommis-
sionen zur Vorbereitung des Programms und v erpf lichtet diese
sowie alle Theoretiker, Publizisten u. a., ohne Aufschub diese Arbeit in
Angriff zu nehmen und entweder einen eigenen Entwurf oder Abände-
rungsvorschläge und Zusatzanträge zu anderen Entwürfen innerhalb von
höchstens 3-7 Tagen einzureichen.
Das ist bei beharrlicher Arbeit durchaus durchführbar.
Diese Entwürfe zusammenzufassen, drucken zu lassen oder in Schreib-
maschinenabschriften an die wichtigsten Organisationen zu versenden,
wird ein paar Wochen erfordern.
Dann ist sofort die Einberufung eines engeren Parteitags (ein Dele-
gierter auf 4000 oder 5000 Mitglieder) bekanntzugeben.
damit das Programm in einem Monat angenommen wird.
Unsere Partei ist verpflichtet, mit diesem Programm hervorzutreten,
nur s o werden wir nicht in Worten, sondern in der Tat die III. Inter-
nationale v ot anbr in gen.
310
W.I. Lenin
Alles andere sind Phrasen und Versprechungen, alles andere bedeutet
Verschiebung bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag. Wenn wir die Initiative
ergreifen, werden wir die Arbeit in jeder Hinsicht beschleunigen, und
nur so können wir das Programm der III. Internationale vorbereiten.
Geschrieben nicht später als am
3. (16.) September 1917.
Zuerst veröffentlicht 1928 Nach dem Manuskript,
im Lenin-Sammetband VII.
311
ZUR ZIMMERWALDER FRAGE
Es ist jetzt besonders klar, daß es ein Fehler von uns war, nicht aus der
Zimmerwalder Vereinigung auszu treten.
Man betrügt alle mit der Hoffnung auf Stockholm. Die Stockholmer
Konferenz aber wird von Monat zu Monat „aufgeschoben“.
Zimmerwald „ märtet “ auf Stockholm! Kautskyaner + Italiener,
d. h. die Mehrheit von Zimmerwald „wartet“ auf Stockholm.
Und wir beteiligen uns an dieser Komödie, für die wir vor den Arbei-
tern die Verantwortung tragen.
Das ist eine Schande.
Man muß sofort aus Zimmerwald austreten.
Wenn wir nur zu Informationszwecken dort bleiben, verlieren wir
nichts, tragen aber keine Verantwortung für die Komödie des „Wartens“
auf Stockholm.
Wir müssen das morsche Zimmerwald verlassen und sofort, auf der
Plenarsitzung am 3. September 1917, beschließen : wir berufen
eine Konf er enz der Linken ein und beauftragen damit
unsere Vertreter in Stodcholm.
Nachdem wir die Dummheit gemacht haben, in der Zimmerwalder
Vereinigung zu bleiben, kommt es so heraus, als ob unsere Partei, die ein-
zige internationalistische Partei der Welt mit 17 Zeitungen usw., mit den
deutschen und italienischen Martow und Zereteli ein ebensolches Kom-
promißlerspiel treibt wie Martow mit Zereteli, Zereteli mit den
Sozialrevolutionären und die Sozialrevolutionäre mit der Bourgeoisie . . .
Und das nennt man „für“ die III. Internationale „einsteben“ ! I !
Geschrieben nicht später als am
3. (16.) September 1917.
Zuerst veröffentlicht 1928
im Lenin-Sammelband VH.
Nach dem Manuskript.
312
VERLETZUNG DER DEMOKRATIE IN DEN
MASSENORGANISATIONEN
Es muß eine Resolution angenommen werden, die Methoden, wie die
des Sowjets der Soldatendeputiertea (bei den Soldaten 1 Vertreter auf
500, bei den Arbeitern 1 Vertreter auf 1000) 82 oder des Büros der Ge-
werkschaften (in den kleinen Verbänden 1 Vertreter auf a Mitglieder,
in den großen 1 Vertreter auf a-b Mitglieder) als Fälschung* brand-
markt, die eines Nikolaus II. würdig wäre.
Was wären wir für Demokraten, wenn wir diese Fälschung schwei-
gend duldeten?
Was soll man dann Nikolaus II. vorweifen, der ebenfalls eine un-
gleiche Vertretung, ungleich für Bauern und Gutsbesitzer, „gewährt“
hatte??
Wenn wir solche Dinge dulden, prostituieren wir die Demokratie.
Wir müssen eine Resolution annehmen, das gleiche Wahlrecht for-
dern (sowohl für die Sowjets als auch für die Gewerkschaftskongresse),
die kleinste Abweichung von der Gleichheit als Fälschung, mit
gerade diesem Wort, als Methode eines Nikolaus II. brand-
marken und diese volkstümlich geschriebene Resolution des ZK-Plenums
als Flugblatt unter die Arbeitermassen bringen.
Man kann nicht eine F älschung der Demokratie dulden und sich
„Demokrat“ nennen. Wenn wir das dulden, sind wir keine Demokraten,
sondern prinzipienlose Menschen! !
Gesdtrieben nicht später als am
3. (16.) September 1917.
Zuerst veröffentlicht 1928 Nach dem Manuskript,
int Lenin-Satnmelband VII.
* „Ein Vertreter überall und immer von der gleichen Zahl Wähler“ -
das ist das Abc der Demokratie. Alles andere ist F äls chun g.
ÜBER KOMPROMISSE
Einen Kompromiß eingehen bedeutet in der Politik, gewisse Forde-
rungen preisgeben, wegen der Verständigung mit einer anderen Partei auf
einen Teil der eigenen Forderungen verzichten.
Die übliche Vorstellung der Spießbürger von den Bolsdiewiki, bestärkt
von der die Bolsdiewiki verleumdenden Presse, besagt, daß die Bolsche-
wiki auf keinerlei Kompromisse eingingen - mit niemandem und niemals.
Eine solche Vorstellung ist für uns als Partei des revolutionären Proleta-
riats schmeichelhaft, denn sie beweist, daß selbst der Feind gezwungen ist,
unsere Treue zu den Grundprinzipien des Sozialismus und der Revolution
anzuerkennen. Aber man muß doch der Wahrheit die Ehre geben: diese
Vorstellung entspricht nicht den Tatsachen. Engels hatte recht, als er sich
(1873) in seiner Kritik am Manifest der blanquistischen Kommunisten
über ihre Erklärung: „Keinerlei Kompromisse!“ 83 lustig machte. Das sei
eine Phrase, sagte er, denn einer kämpfenden Partei werden oft Kom-
promisse unvermeidlich durch die Verhältnisse aufgedrängt, und es wäre
unsinnig, ein für allemal darauf zu verzichten, „Abschlagszahlungen zu
akzeptieren“ 84 . Die Aufgabe einer wahrhaft revolutionären Partei be-
steht nicht darin, den unmöglichen Verzicht auf jegliche Kompromisse
zu proklamieren, sondern darin, durch alle Kompromisse hindurch, so-
weit sie unvermeidlich sind, zu verstehen, ihren Prinzipien, ihrer Klasse,
ihrer revolutionären Aufgabe - Vorbereitung der Revolution, Befähigung
der Volksmassen zum Sieg in der Revolution - treu zu bleiben.
Ein Beispiel. Die Teilnahme an der III. und IV. Duma war ein Kom-
promiß, ein vorübergehender Verzicht auf revolutionäre Forderungen.
Doch es war ein ganz und gar erzwungener Kompromiß, denn das
314
W. I. Lenin
Kräfteverhältnis hinderte uns eine gewisse Zeit lang, den revolutionären
Massenkampf zu führen, und hei der langwierigen Vorbereitung dieses
Kampfes mußte man es verstehen, auch innerhalb eines solchen „Saustalls“
zu arbeiten. Daß diese Auffassung der Bolschewiki als Partei vollkommen
richtig war, hat die Geschichte bewiesen.
Jetzt steht nicht die Frage des erzwungenen, sondern die des frei-
willigen Kompromisses auf der Tagesordnung.
Unsere Partei erstrebt wie jede andere politische Partei die politische
Herrschaft für sich. Unser Ziel ist die Diktatur des revolutionären Pro-
letariats. Ein halbes Jahr Revolution hat mit ungewöhnlicher Klarheit,
Kraft und Eindringlichkeit bestätigt, wie richtig und unvermeidlich diese
Forderung im Interesse gerade der gegenwärtigen Revolution ist, denn
anders kann das Volk weder einen demokratischen Frieden noch Land
für die Bauern, noch die volle Freiheit (eine wahrhaft demokratische
Republik) erlangen. Der Gang der Ereignisse in dem halben Jahr unserer
Revolution, der Kampf der Klassen und Parteien und die Entwick-
lung der Krisen vom 20. und 21. April, vom 9. und 10., 18. und 19. Juni,
vom 3. bis 5. Juli und vom 27. bis 31. August haben das gezeigt und be-
wiesen.
Nun ist eine so jähe und einzigartige Wendung in der russischen Revo-
lution eingetreten, daß wir als Partei einen freiwilligen Kompromiß an-
bieten können, freilich nicht der Bourgeoisie, unserem unmittelbaren und
hauptsächlichen Klassenfeind, sondern den uns nächsten Gegnern, den
„herrschenden“ kleinbürgerhch-demokratischen Parteien, den Sozialrevo-
lutionären und den Menschewiki.
Nur ausnahmsweise, lediglich wegen der besonderen Lage, die offenbar
nur sehr kurze Zeit andauem wird, können wir diesen Parteien einen
Kompromiß vorschlagen, und wir müssen das meines Erachtens tun.
Ein Kompromiß ist unserseits die Rückkehr zu der Forderung, die wir
bis zum Juli stellten : Alle Macht den Sowjets, eine den Sowjets verant-
wortliche Regierung aus Sozialrevolutionären und Menschewiki.
Jetzt und nur jetzt, vielleicht nur während weniger Tage oder nur ein,
zwei Wochen lang, könnte sich eine solche Regierung vollkommen fried-
lich bilden und festigen. Sie könnte mit größter Wahrscheinlichkeit eine
friedliche V orawtsentwicklung der ganzen russischen Revolution gewähr-
leisten und außerordentlich viel dazu beitragen, daß die internationale
Über Kompromisse 315
Bewegung für den Frieden und den Sieg des Sozialismus große Fort-
schritte macht.
Nur um dieser friedlichen Entwiddung der Revolution willen, einer
in der Geschichte höchst seltenen und höchst wertvollen, einer außeror-
dentlich seltenen Möglichkeit, können und müssen meines Erachtens die
Bolschewiki, die Anhänger der Weltrevolution, die Anhänger revolutio-
närer Methoden, auf einen solchen Kompromiß eingehen.
Der Kompromiß bestünde darin, daß die Bolschewiki, ohne Anspruch
auf Beteiligung an der Regierung zu erheben (was für einen Internatio-
nalisten ohne tatsächliche Verwirklichung der Voraussetzungen zur Dik-
tatur des Proletariats und der armen Bauernschaft unmöglich ist), darauf
verzichten würden, unverzüglich den Obergang der Macht an das Pro-
letariat und die armen Bauern zu fordern, daß sie darauf verzichten wür-
den, diese Forderung mit revolutionären Methoden des Kampfes durch-
zusetzen. Eine selbstverständliche und für die Sozialrevolutionäre und
Menschewiki nicht neue Bedingung wäre volle Freiheit der Agitation und
Einberufung der Konstituierenden Versammlung ohne neue Verzögerun-
gen oder sogar zu einem früheren Termin.
Die Menschewiki und Sozialrevolutionäre wären als Regierungsblock
(vorausgesetzt, der Kompromiß ist verwirklicht) einverstanden, eine Re-
gierung zu bilden, die vollständig und ausschließlich den Sowjets verant-
wortlich ist, wobei auch die ganze örtliche Macht an die Sowjets über-
gehen müßte. Das wäre die »neue“ Bedingung. Weitere Bedingungen
würden die Bolschewiki, denke ich, nicht stellen, da sie sich darauf ver-
lassen, daß die tatsächlich volle Agitationsfreiheit und die unverzügliche
Verwirklichung eines neuen Demokratismus bei der Zusammensetzung
(Neuwahlen) und der Tätigkeit der Sowjets die friedliche Vorwärtsent-
wicklung der Revolution und das friedliche Austragen des Parteienkamp-
fes innerhalb der Sowjets ganz von selbst sichern würden.
Vielleicht ist das schon nicht mehr möglich? Vielleicht. Aber wenn
auch nur eine Chance unter hundert besteht, so wäre der Versuch, eine
solche Möglichkeit zu verwirklichen, immerhin wert, gemacht zu werden.
Was würden die beiden „sich verständigenden“ Seiten, d. h. die Bol-
schewiki einerseits und der Block der Sozialrevolutionäre und der Men-
schewiki anderseits, durch diesen „Kompromiß“ gewinnen? Wenn beide
Seiten nichts gewinnen, so muß der Kompromiß als undurchführbar
316
W. I. Lenin
betrachtet werden, und dann ist jedes Wort darüber überflüssig. Wie
schwierig dieser Kompromiß jetzt (nach dem Juli und August, zwei Mo-
naten, die zwei Jahrzehnten „friedlicher“, verschlafener Zeit gleichkom-
men) auch ist, so glaube ich doch, daß eine kleine Chance besteht, ihn
zu verwirklichen; diese Chance hat der Beschluß der Sozialrevolutio-
näre und Menschewiki geschaffen, nicht in eine Regierung mit den Ka-
detten gemeinsam einzutreten.
Der Gewinn für die Bolschewiki wäre, daß sie die Möglichkeit be-
kämen, völlig frei für ihre Ansichten zu agitieren und unter tatsächlich
demokratischen Verhältnissen Einfluß in den Sowjets zu erlangen. In
Worten räumen jetzt „alle“ den Bolschewiki diese Freiheit ein. In Wirk-
lichkeit kann es diese Freiheit unter einer bürgerlichen Regierung oder
einer Regierung mit Beteiligung der Bourgeoisie, unter einer Regierung,
die keine Regierung der Sowjets ist, nicht geben. Unter einer Regierung
der Sowjets wäre eine solche Freiheit möglich (wir sagen nicht: unbedingt
gesichert, aber doch möglich). Um dieser Möglichkeit willen müßte man
in einer so schwierigen Zeit auf einen Kompromiß mit der gegenwärtigen
Mehrheit in den Sowjets eingehen. Bei einer wirklichen Demokratie
hätten wir nichts zu befürchten, denn das Leben arbeitet für uns, und
sogar die Entwicklung der Strömungen innerhalb der uns feindlich ge-
sinnten Parteien der Sozialrevolutionäre und Menschewiki bestätigt, daß
wir recht haben.
Der Gewinn für die Menschewiki und Sozialrevolutionäre wäre, daß
sie mit einem Schlag die uneingeschränkte Möglichkeit erhielten, das
Programm ihres Blocks zu verwirklichen, wobei sie sich auf die offen-
kundig überwiegende Mehrheit des Volkes stützen könnten und sich die
„friedliche“ Ausnutzung ihrer Mehrheit in den Sowjets gesichert hätten.
Gewiß, aus diesem Block, der uneinheitlich wäre, sowohl weil er ein
Block ist als auch weil die kleinbürgerliche Demokratie stets weniger ein-
heitlich ist als die Bourgeoisie und als das Proletariat - aus diesem Block
würden sich wahrscheinlich zwei Stimmen erheben.
Die eine Stimme würde sagen: Wir haben keineswegs denselben Weg
wie die Bolschewiki, wie das revolutionäre Proletariat. Das Proletariat
wird ohnehin Übermäßiges verlangen und die arme Bauernschaft dem-
agogisch mitreißen. Es wird den Frieden und den Bruch mit den Alliier-
ten fordern. Das ist nicht tragbar für uns. Die Bourgeoisie steht uns
Über Kompromisse
317
näher, und wir fahren besser mit ihr, wir haben doch mit ihr nicht ge-
brochen, sondern haben uns nur vorübergehend mit ihr ü berroorfen, nur
wegen des einen Zwischenfalls mit Komilow. Wir haben uns gestritten,
wir werden uns aussöhnen. Außerdem „geben“ uns die Bolschewiki über-
haupt nichts, denn ihre Aufstandsversuche sind ohnehin ebenso rum
Scheitern verurteilt, wie es die Kommune von 1871 war.
Die andere Stimme würde sagen: Der Hinweis auf die Kommune ist
sehr oberflächlich und sogar dumm. Erstens haben die Bolschewiki seit
1871 immerhin einiges gelernt, sie würden nicht verfehlen, die Bank in
Beschlag zu nehmen, auch würden sie nicht, darauf verzichten, gegen
Versailles zu marschieren ; unter solchen Umständen aber hätte sogar die
Kommune siegen können. Außerdem konnte die Kommune dem Volke
nicht sofort das bieten, was die Bolschewiki bieten können, wenn sie an
die Macht gelangt sind, nämlich: Land für die Bauern, ein sofortiges
Friedensangebot, eine wirkliche Kontrolle der Produktion, einen ehr-
lichen Frieden mit den Ukrainern, den Finnen u. a. Die Bolschewiki
haben, grob gesagt, zehnmal mehr „Trümpfe“ in den Händen, als die
Kommune sie hatte. Zweitens bedeutet die Kommune schließlich harten
Bürgerkrieg und danach eine lange Stockung in der friedlichen kulturellen
Entwicklung, eine Erleichterung der Operationen und Machenschaften
aller möglichen Mac-Mahon und Komilow, solche Operationen aber ge-
fährden unsere ganze bürgerliche Gesellschaft. Ist es da vernünftig,
eine Kommune zu riskieren?
Eine Kommune aber ist in Rußland unvermeidbar, wenn wir nicht
die Macht ergreifen, wenn die Lage so schwierig bleibt, wie sie es vom
6. Mai bis zum 31. August war. Jeder revolutionäre Arbeiter und Soldat
wird unvermeidlich an die Kommune denken, wird an sie glauben und
unvermeidlich Versuche unternehmen, sie zu verwirklichen, da er sich
sagt: Das Volk geht zugrunde, Krieg, Hunger und Zerrüttung greifen
immer mehr um sich. Nur die Kommune wird uns retten. Und wenn
wir untergehen, wenn wir alle sterben, die Kommune verwirklichen wir
doch. - Solche Gedanken sind bei den Arbeitern unausbleiblich, und die
Kommune zu besiegen wird jetzt nicht so leicht sein wie 1871. Die rus-
sische Kommune wird hundertmal mächtigere Verbündete in der ganzen
Welt haben als die Kommune von 1871 ... Ist es vernünftig von uns,
eine Kommune zu riskieren? Ich kann mich auch nicht damit einverstan-
318
W. I. Lenin
den erklären, daß die Bolschewiki uns durdi ihren Kompromiß im Grunde
genommen nichts bieten. In allen Kulturländern schätzen gebildete Mini-
ster jede, auch die geringste Übereinkunft mit dem Proletariat während
des Krieges sehr hoch ein, schätzen sie überaus hoch ein. Und das sind
doch gewitzte Leute, wirkliche Minister. Die Bolschewiki aber nehmen
trotz aller Repressalien, trotz der Schwäche ihrer Presse recht schnell an
Kraft zu . . . Ist es vernünftig von uns, eine Kommune zu riskieren?
Wir haben eine sichere Mehrheit, bis zum Erwachen der armen Bau-
ernschaft ist, es noch weit, das werden wir wohl nicht mehr erleben. Daß
in einem Bauernland die Mehrheit den Extremisten folgt, glaube ich
nicht. Und gegen die offenkundige Mehrheit ist in einer wirklich demo-
kratischen Republik der Aufstand unmöglich. - So würde die zweite
Stimme sprechen.
Es würde womöglich noch eine dritte Stimme laut werden, aus der
Mitte irgendwelcher Anhänger Martows oder der Spiridonowa, die sagen
könnte: Mich empört es, »Genossen“, daß ihr beide, wenn ihr von der
Kommune sprecht und davon, daß es bei uns dazu kommen kann, euch
ohne Zaudern auf die Seite ihrer Gegner stellt. Der eine in der einen
Form, der andere in einer anderen, aber beide steht ihr auf seiten derer,
die die Kommune unterdrückt haben. Ich werde nicht für die Kommune
agitieren. Ich kann nicht von vornherein versprechen, in ihren Reihen
zu kämpfen, wie es jeder Bolschewik tun wird, ich muß aber sagen, daß,
wenn die Kommune, ungeachtet meiner Bemühungen, entsteht, ich eher
ihren Verteidigern als ihren Gegnern helfen werde . . .
Die Unterschiedlichkeit der Auffassungen im „Block" ist groß und un-
vermeidlich, denn in der kleinbürgerlichen Demokratie sind zahllose
Schattierungen vertreten, vom voll und ganz ministeriablen Vollbourgeois
bis zum armen Schlucker, der noch nicht ganz imstande ist, sich auf den
Standpunkt des Proletariats zu stellen. Welches Resultat sich aber jeweils
aus diesen unterschiedlichen Auffassungen ergeben wird, das weiß nie-
mand.
Diese Zeilen wurden Freitag, den 1. September, geschrieben und sind
aus zufälligen Gründen (die Geschichte wird feststellen, daß unter Ke-
renski nicht alle Bolschewiki das Recht hatten, ihren Aufenthaltsort frei
zu wählen) nicht am selben Tag in die Redaktion gelangt. Nachdem ich
Über Kompromisse
319
die Zeitungen vom Sonnabend und von heute, Sonntag, gelesen habe,
sage ich mir, daß der Vorschlag des Kompromisses wohl schon zu spät
kommt. Die wenigen Tage, in deren Verlauf eine friedliche Entwicklung
noch möglich war, sind wohl auch schon vorbei. Ja, aus allem ist ersicht-
lich, daß sie schon vorbei sind. 85 Kerenski wird, so oder so, aus der Partei
der Sozialrevolutionäre austreten, wird sich von den Sozialrevolutionären
abwenden, er wird ohne die Sozialrevolutionäre - infolge ihrer Untätig-
keit - mit Hilfe der Bourgeoisie seine Position stärken ... Ja, aus allem
ist ersichtlich, daß die Tage, in denen der Weg friedlicher Entwicklung
zufällig möglich wurde, schon vergangen sind. Es bleibt nur übrig, diese
Notizen der Redaktion mit der Bitte einzusenden, sie „Verspätete Ge-
danken“ zu betiteln . . . Manchmal ist es vielleicht nicht uninteressant,
auch verspätete Gedanken kennenzulemen.
3. September 1917
Geschrieben 1.-3. (14.-16.) September 1917.
Veröffentlicht am 19. (6.) September 1917
im „ Rabotschi Put “ (Weg des Arbeiters) Nr. 3.
Unterschrift : N. Lenin.
Nach dem Text des
.Rabotschi Put'.
ENTWURF EINER RESOLUTION
ZUR GEGENWÄRTIGEN POLITISCHEN LAGE 86
Auf Grund der vom Sechsten Parteitag der SDAPR (Bolschewiki) ange-
nommenen Resolution zur politischen Lage und in Anwendung dieser
Resolution auf die heutige Situation stellt das ZK der SDAPR in seiner
Plenarsitzung fest:
1. In den zwei Monaten vom 3. Juli bis zum 3. September haben der
Verlauf des Klassenkampfes und die Entwicklung der politischen Ereig-
nisse infolge des unerhört raschen Tempos der Revolution das ganze
Land $o weit vorwärtsgebracht, wie dies eine lange Reihe von Jahren in
friedlichen Zeiten ohne Revolution und ohne Krieg nicht vermocht hätte.
2. Immer deutlicher zeigt sich, daß die Ereignisse vom 3. bis 5. Juli ein
Wendepunkt in der ganzen Revolution waren. Ohne richtige Einschät-
zung dieser Ereignisse ist weder eine richtige Einschätzung der Auf-
gaben des Proletariats noch der - nicht von unserem Willen abhängi-
gen - Entwicklungsgeschwindigkeit der revolutionären Ereignisse mög-
lich.
3. Die mit unglaublichem Eifer von der Bourgeoisie gegen die Bolsche-
wiki ausgestreuten Verleumdungen, die sie mit Hilfe der in den kapita-
listischen Zeitungen und Verlagen investierten Millionen in riesigem Um-
fang unter den Volksmassen verbreitet, diese Verleumdungen werden
immer rascher und vor immer breiteren Massen entlarvt. Es wird den
Arbeitermassen in der Hauptstadt und in den Großstädten und dann auch
der Bauernschaft immer klarer, daß die Verleumdungen gegen die Bol-
schewiki eine Hauptwaffe der Gutsbesitzer und Kapitalisten im Kampf
gegen die Verteidiger der Interessen der Arbeiter und armen Bauern, d. h.
gegen die Bolschewiki, sind.
321
4. Der Aufstand Komilows, d. h. der Generale und Offiziere, hinter
denen die Gutsbesitzer und Kapitalisten stehen, an ihrer Spitze die Partei
der Kadetten (die Partei der „Volksfreiheit“), dieser Aufstand suchte
direkt durch Wiederholung der alten Verleumdungen gegen die Bolsdie-
wiki seine Ziele zu verschleiern und trug eben dazu bei, den breiten
Volksmassen endgültig die Augen über die wahre Bedeutung der Ver-
leumdungen zu öffnen, die von der Bourgeoisie gegen die bolschewistische
Arbeiterpartei, gegen die Partei der wahren Verteidiger der Armen aus-
gestreut werden.
5. Wenn unsere Partei es abgelehnt hätte, die - trotz unserer Ver-
suche, sie aufzuhalten - spontan ausgebrochene Massenbewegung vom
3. und 4. Juli zu unterstützen, so wäre dies glatter Verrat am Proletariat
gewesen, denn die Massen waren in Bewegung geraten aus begründeter
und gerechter Empörung über die Verlängerung des imperialistischen,
d. h. annexionistischen, räuberischen, im Interesse der Kapitalisten ge-
führten Krieges und über die Untätigkeit der Regierung und der Sowjets
gegenüber der Bourgeoisie, die ihrerseits die Zerrüttung und die Hungers-
not noch steigert und verschärft.
6. Trotz aller Anstrengungen der Bourgeoisie und der Regierung, trotz
der Verhaftungen von Hunderten Bolschewiki, trotz der Beschlagnahme
ihrer Papiere und Dokumente, trotz der Durchsuchungen der Redaktio-
nen usw. - trotz alledem ist es nicht gelungen und wird es niemals ge-
lingen, den Beweis für die verleumderische Behauptung zu erbringen, daß
unsere Partei der Bewegung vom 3. und 4. Juli irgendein anderes Ziel
gestellt habe als das einer „friedlichen und organisierten“ Demonstration
unter der Losung der Übergabe der gesamten Macht im Staate an die
Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten.
7. Es wäre ein Fehler gewesen, wenn sich die Bolschewiki am 3. und
4. Juli die Aufgabe gestellt hätten, die Macht zu ergreifen, denn damals
hatte die Mehrheit nicht nur des Volkes, sondern auch der Arbeiter die
konterrevolutionäre Politik der Generale in der Armee, der Gutsbesitzer
auf dem Lande und der Kapitalisten in der Stadt noch nicht am eigenen
Leib zu spüren bekommen, eine Politik, die sich nach dem 5. Juli den
Massen enthüllte und das Ergebnis des Paktierens der Sozialrevolutio-
näre und Menschewiki mit der Bourgeoisie war. Doch hat keine ein-
zige, weder eine zentrale noch eine lokale Organisation unserer Partei
ün, Werke. Bd. 25
322
W. 1. Lenin
mündlich oder schriftlich am 3. und 4. Juli die Losung der Machtergrei-
fung ausgegeben oder diese Frage auch nur zur Erörterung gestellt.
8. Der wirkliche Fehler unserer Partei in den Tagen des 3. und 4. Juli,
den die Ereignisse jetzt aufgedeckt haben, bestand nur darin, daß die
Partei die allgemeine Lage im Volke für weniger revolutionär hielt,
als das der Fall war, daß die Partei eine friedliche Entwicklung der poli-
tischen Umgestaltungen durch Änderung der Politik der Sowjets noch
für möglich hielt, während sich in Wirklichkeit die Mensdiewiki und
Sozialrevolutionäre durch das Paktieren mit der Bourgeoisie schon so
weit verstrickt und gebunden hatten, die Bourgeoisie selbst aber so kon-
terrevolutionär geworden war, daß von einer friedlichen Entwicklung gar
keine Rede mehr sein konnte. Diese irrige Ansicht aber, die nur auf der
Annahme beruhte, daß sich die Ereignisse nicht allzu rasch entwickeln
würden, diese irrige Ansicht konnte die Partei nicht anders überwinden
als durch ihre Beteiligung an der Volksbewegung vom 3. und 4. Juli mit
der Losung „Alle Macht den Sowjets!" und mit der Aufgabe, der Be-
wegung einen friedlichen und organisierten Charakter zu verleihen.
9. Die historische Bedeutung des Komilowaufstands besteht gerade
darin, daß er den Volksmassen sehr eindringlich die Wahrheit vor Augen
führte, die durch die paktiererischen Phrasen der Sozialrevolutionäre und
Menschewiki verhüllt wurde und auch jetzt noch verhüllt wird, nämlich :
Die Gutsbesitzer und die Bourgeoisie, an der Spitze die Partei der Kadet-
ten, sowie die auf ihrer Seite stehenden Generale und Offiziere haben
sich organisiert, sie sind bereit, die unerhörtesten Verbrechen zu begehen
und begehen sie schon, sie sind bereit, Riga (und dann auch Petrograd)
den Deutschen auszuliefem, ihnen die Front zu öffnen, bolschewistische
Regimenter füsilieren zu lassen, einen Putsch anzuzetteln, Truppen mit
der „Wilden Division“ an der Spitze gegen die Hauptstadt zu führen
usw. - und das alles, damit die Bourgeoisie alle Macht an sich reißen
kann, damit die Macht der Gutsbesitzer im Dorf gefestigt und das Land
mit dem Blut der Arbeiter und Bauern getränkt werde.
Der Aufstand Komilows hat für Rußland das bewiesen, was die
Geschichte in allen Ländern bewiesen hat, nämlich, daß die Bourgeoi-
sie das Vaterland verrät und zu jedem Verbrechen bereit ist, nur um
ihre Herrschaft über das Volk aufrechtzuerhalten und ihre Profite zu
schützen.
Entwurf einer Resolution zur gegenwärtigen politischen Lage 323
10. Die Arbeiter und Bauern Rußlands haben gar keinen anderen Aus-
weg als den entschlossenen Kampf und den Sieg über die Gutsbesitzer
und die Bourgeoisie, über die Partei der Kadetten und die mit ihr sym-
pathisierenden Generale und Offiziere. In einen solchen Kampf und zu
einem solchen Sieg kann das Volk, d. h. können alle Werktätigen nur
von der Klasse der städtischen Arbeiter geführt werden, wenn die ge-
samte Staatsmacht in die Hände dieser Klasse übergeht und wenn sie
von den armen Bauern unterstützt wird.
11. Die Ereignisse in der russischen Revolution entwickeln sich, vor
allem nach dem 6. Mai und noch mehr nach dem 3. Juli, mit solch außer-
ordentlich stürmischer, orkanartiger Geschwindigkeit, daß es keineswegs
Aufgabe der Partei sein kann, sie zu beschleunigen, im Gegenteil, all
unsere Anstrengungen müssen darauf gerichtet sein, nicht hinter den Er-
eignissen zurückzubleiben, Schritt zu halten bei unserer, mit ganzer Kraft
zu leistenden Aufklärungsarbeit unter den Arbeitern und den arideren
Werktätigen über die Veränderungen in der Lage und im Verlauf des
Klassenkampfes. Die Hauptaufgabe der Partei besteht jetzt gerade in
folgendem: die Massen darüber aufzuklären, daß die Lage außerordent-
lich kritisch ist, daß jede Aktion mit einer Explosion enden und daher ein
vorzeitiger Aufstand den größten Schaden anrichten kann. Gleichzeitig
aber führt die kritische Lage die Arbeiterklasse unweigerlich - vielleicht
mit katastrophaler Geschwindigkeit - dahin, daß sie durch eine von ihr
unabhängige Wendung der Ereignisse gezwungen sein wird, den Ent-
scheidungskampf gegen die konterrevolutionäre Bourgeoisie aufzuneh-
men und die Macht zu erobern.
12. Der Aufstand Komilows hat restlos die Tatsache enthüllt, daß die
Armee, die ganze Armee das Hauptquartier haßt. Das mußten sogar
jene Menschewiki und Sozialrevolutionäre zugeben, die in monatelangen
Anstrengungen bewiesen haben, daß sie die Bolschewiki hassen und die
Politik der Vereinbarungen der Arbeiter und Bauern mit den Gutsbesit-
zern und der Bourgeoisie verfechten. Der Haß der Armee gegen das
Hauptquartier wird nicht abnehmen, sondern noch zunehmen, nachdem
sich die Kerenskiregierung darauf beschränkt hat, Komilow durch Alexe-
jew zu ersetzen, Klembowski und die anderen Komilowgenerale aber auf
ihren Posten zu belassen, und überhaupt nichts Ernsthaftes zur Demo-
kratisierung der Armee und zur Beseitigung des konterrevolutionären
324
W. I. Lenin
Offizierskorps unternommen hat. Die Sowjets, die diese kraftlose,
schwankende und prinzipienlose Politik Kerenskis dulden und unter-
stützen, die Sowjets, die sich im Augenblick der Niederschlagung des
Kornilowauf Stands noch eine weitere Gelegenheit zur friedlichen Über-
nahme der gesamten Macht entgehen ließen - diese Sowjets machen
sich nicht nur des Paktierens, sondern bereits eines verbrecherischen Pak-
tierens schuldig.
Die Armee, die das Hauptquartier haßt und die den Krieg, über des-
sen Eroberungscharakter ihr die Augen aufgegangen sind, nicht weiter-
führen will, ist unweigerlich zu neuen Katastrophen verurteilt.
13. Einzig und allein die Arbeiterklasse vermag, wenn sie die Macht
erobert hat, eine Friedenspolitik der Tat zu betreiben, eine Friedens-
politik nicht in Worten, wie es die Menschewiki und Sozialrevolutionäre
tun, die in Wirklichkeit die Bourgeoisie und ihre Geheimverträge unter-
stützen, sondern in der Tat: sie wird sofort, bei jeder beliebigen militäri-
schen Lage, selbst wenn die Komilowgenerale nach der Preisgabe Rigas
auch Petrograd preisgeben, allen Völkern offene, präzise, klare und
gerechte Friedensbedingungen anbieten. Die Arbeiterklasse kann
dies im Namen des ganzen Volkes tun, denn die erdrückende Mehrheit
der Arbeiter und Bauern Rußlands hat sich gegen den jetzigen Erobe-
rungskrieg und für einen Frieden zu gerechten Bedingungen, ohne An-
nexionen (Eroberungen) und Kontributionen ausgesprochen.
Die Sozialrevolutionäre und Menschewiki, die seit Monaten von einem
solchen Frieden sprechen, betrügen sich selbst und betrügen das Volk.
Die Arbeiterklasse wird, wenn sie die Macht erobert hat, ohne einen ein-
zigen Tag zu verlieren, allen einen solchen Frieden anbieten.
Die Kapitalisten aller Länder haben die größte Mühe, die überall her-
anreifende Revolution der Arbeiter gegen den Krieg aufzuhalten, und
wenn die russische Revolution vom ohnmächtigen und jämmerlichen
Seufzen nach Frieden zum direkten Friedensangebot übergeht, wenn sie
zugleich die Geheimverträge usw. veröffentlicht und zerreißt, so stehen
die Chancen neunundneunzig gegen eins dafür, daß es schnell zum Frie-
den kommt, daß die Kapitalisten den Frieden nicht verhindern können.
Sollte aber der am wenigsten wahrscheinliche Fall eintreten, daß die
Kapitalisten gegen den Willen ihrer eigenen Völker die Friedensbedin-
gungen der russischen Arbeiterregierung ablehnen, so wird sich die Revo-
Entwurf einer Resolution zur gegenwärtigen politisdien Lage 325
lution in Europa hundertmal rascher nahem ; die Armee unserer Arbei-
ter und Bauern wird sich nicht verhaßte, sondern geachtete Vorgesetzte
und Heerführer wählen, wird sich davon überzeugen, daß der Krieg
nun ein gerechter Krieg ist, nachdem der Frieden angeboten wurde und
die Geheimverträge zerrissen worden sind, nachdem das Bündnis mit
den Gutsbesitzern und der Bourgeoisie gelöst wurde und der gesamte
Grund und Boden den Bauern übergeben worden ist. Nur dann wird der
Krieg von Rußland aus ein gerechter Krieg sein, nur einen solchen Krieg
werden die Arbeiter und Bauern nicht gezwungen, sondern aus freien
Stücken führen, und ein solcher Krieg wird die unabwendbare Revolution
der Arbeiter in den fortgeschrittenen Ländern noch näher bringen.
14. Einzig und allein die Arbeiterklasse vermag, wenn sie die Macht
erobert hat, sofort den entschädigungslosen Übergang aller Ländereien
der Gutsbesitzer an die Bauern sicherzustellen. Das darf nicht aufge-
schoben werden. Die Konstituierende Versammlung wird das zum Gesetz
erheben, die Bauern aber sind nicht an dem Hinauszögem der Konsti-
tuierenden Versammlung schuld. Die Bauern überzeugen sich mit jedem
Tag immer mehr davon, daß man auf dem Wege der Verständigung mit
den Gutsbesitzern und Kapitalisten keinen Boden bekommen kann. Den
Boden kann man nur durch ein rückhaltloses, brüderliches Bündnis der
armen Bauern mit den Arbeitern erlangen.
Der Austritt Tschemows aus der Regierung, nachdem er monatelang
versucht hatte, die Interessen der Bauern durch Konzessionen und Kon-
zessionen an die kadettischen Gutsbesitzer zu verfechten, und all seine
Versuche Schiffbruch erlitten, hat besonders anschaulich die Hoffnungs-
losigkeit der Politik der Kompromisse offenbart. Die Bauernschaft auf
dem Lande sieht und weiß, fühlt und spürt, wie frech die Gutsbesitzer
in den Dörfern nach dem 5. Juli geworden sind und wie notwendig es ist,
sie zu zügeln und unschädlich zu machen.
15. Einzig und allein die Arbeiterklasse vermag, wenn sie die Macht
erobert hat, der Zerrüttung und der drohenden Hungersnot ein Ende zu
machen. Die Regierung verspricht seit dem 6. Mai Kontrolle und immer
wieder Kontrolle, sie hat aber nichts getan und konnte nichts tun, denn
die Kapitalisten und Gutsbesitzer hintertrieben jede Arbeit. Die Arbeits-
losigkeit wächst, der Hunger rückt heran, das Geld wird entwertet, der
Rücktritt Peschechonows nach der Verdoppelung der Festpreise wird die
326
W. I. Lettin
Krise noch mehr vertiefen und beweist erneut die ganze Schwäche und
Ohnmacht der Regierung. Nur die Arbeiterkontrolle über Produktion
und Verteilung kann Rettung bringen. Nur eine Arbeiterregierung wird
die Kapitalisten zügeln, wird alle Werktätigen veranlassen, die Anstren-
gungen der Staatsmacht heroisch zu unterstützen, wird Ordnung schaffen
und einen richtigen Austausch von Getreide gegen andere Produkte
sichern.
16. Das Vertrauen der armen Bauern zur städtischen Arbeiterklasse,
das vorübergehend durch die Verleumdungen der Bourgeoisie und durch
die auf die Politik des Paktierens gesetzten Hoffnungen erschüttert wor-
den war, stellt sich wieder ein, besonders nachdem die Verhaftungen in
den Dörfern, die verschiedenen Verfolgungen der Werktätigen nach dem
5. Juli und sodann der Kornilowaufstand dem Volk die Augen geöffnet
haben. Eines der Anzeichen dafür, daß das Volk den Glauben an die
Verständigung mit den Kapitalisten verloren hat, besteht darin, daß -
besonders nach dem 5. Juli - in den zwei hauptsächlichsten Parteien, bei
den Sozialrevolutionären und Menschewiki, die diese Politik des Pak-
tierens eingeführt und konsequent durchgeführt haben, die Unzufrieden-
heit innerhalb dieser Parteien, der Kampf gegen das Paktierertum und
die Opposition, die bei der letzten Tagung des „Rates“ der Partei der
Sozialrevolutionäre und auf dem letzten Parteitag der Menschewiki etwa
zwei Fünftel (40 Prozent) der Anwesenden betragen hat, in ständigem
Wachstum begriffen sind.
17. Der ganze Gang der Ereignisse, alle ökonomischen und politischen
Verhältnisse, alle Vorgänge in der Armee schaffen in immer rascherem
Tempo die Voraussetzung zur erfolgreichen Eroberung der Macht durch
die Arbeiterklasse, die Frieden, Brot und Freiheit bringt und den Sieg der
Revolution des Proletariats auch in anderen Ländern beschleunigen wird.
Geschrieben nicht später als am
3. (16.) September 1917.
Zuerst veröffentlicht 1925
int Lettin-Sammelband IV.
Nach dem Manuskript.
DIE DROHENDE KATASTROPHE
UND WIE MAN SIE BEKÄMPFEN SOLL
Veröffentlicht Ende Oktober 1917
als Broschüre im Verlag „Priboi .
DER HUNGER RÜCKT HERAN
Rußland droht eine unabwendbare Katastrophe. Das Eisenbahntrans-
portwesen ist unglaublich zerrüttet, und diese Zerrüttung schreitet immer
weiter fort. Der Eisenbahnverkehr wird zum Erliegen kommen. Die
Rohstoff- und Kohlenzufuhr für die Fabriken wird aufhören. Die Ge-
treidezufuhr wird versiegen. Bewußt und unablässig sabotieren (schädi-
gen, untergraben, lähmen und hemmen) die Kapitalisten die Produktion
in der Hoffnung, daß eine unerhörte Katastrophe zum Zusammenbruch
der Republik und der Demokratie, der Sowjets und überhaupt der pro-
letarischen und bäuerlichen Vereinigungen führen und so die Rückkehr
zur Monarchie und die Wiederherstellung der Allmacht der Bourgeoisie
und der Gutsbesitzer erleichtern werde.
Eine Katastrophe von beispiellosem Ausmaß und eine Hungersnot
drohen uns unabwendbar. Davon war schon in allen Zeitungen unzählige
Male die Rede. Eine Unmenge von Resolutionen sind von den Parteien
und von den Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauemdeputierten
angenommen worden, Resolutionen, in denen festgestellt wird, daß die
Katastrophe unvermeidlich ist, daß sie ganz nahe bevorsteht, daß ein
verzweifelter Kampf gegen sie geführt werden muß und daß „heroische
Anstrengungen“ des Volkes notwendig sind, um den Untergang abzu-
wenden, und so weiter.
Alle sagen das. Alle erkennen das an. Für alle steht das fest.
Und nichts geschieht.
Ein halbes Jahr Revolution ist vergangen. Die Katastrophe ist noch
näher herangerückt. Es ist zur Massenarbeitslosigkeit gekommen. Man
bedenke: Das Land ist ohne Waren, das Land geht aus Mangel an Er-
332
W. I. Lenin
Zeugnissen, aus Mangel an Arbeitskräften zugrunde, obwohl genügende
Mengen von Getreide und Rohstoffen vorhanden sind - und in einem
solchen Land, in einem so kritischen Augenblick ist es zur Massenarbeits-
losigkeit gekommen ! Welcher Beweise bedarf es da noch, um zu zeigen,
daß während des halben Jahres Revolution (die von manchen als große
Revolution bezeichnet wird, die aber vorderhand wohl mit größerer Be-
rechtigung als „faule“ Revolution bezeichnet werden könnte) in einer
demokratischen Republik, bei einer Fülle von Verbänden, Körperschaften
und Institutionen, die sich stolz „revolutionär-demokratisch“ nennen,
praktisch absolut nichts Ernsthaftes gegen die Katastrophe, gegen die
Hungersnot getan worden ist? Wir nähern uns immer rascher dem Zu-
sammenbruch, denn der Krieg wartet nicht, und die durch ihn hervor-
gerufene Zerrüttung aller Gebiete des Volkslebens verschärft sich immer
mehr.
Dabei genügt ein ganz klein wenig Aufmerksamkeit und Nachdenken,
um sich davon zu überzeugen, daß Mittel zur Bekämpfung der Kata-
strophe und des Hungers vorhanden sind, daß die Kampfmaßnahmen
völlig klar und einfach, voll durchführbar, den Volkskräften durchaus
angemessen sind und daß diese Maßnahmen nur deshalb, aus-
schließlich deshalb nicht getroffen werden, weil ihre Verwirk-
lichung die unerhörten Profite eines kleinen Häufleins von Gutsbesitzern
und Kapitalisten beeinträchtigen würde.
In der Tat. Man kann sich dafür verbürgen, daß keine einzige Rede,
kein einziger Artikel in einer Zeitung beliebiger Richtung, keine einzige
Resolution einer beliebigen Versammlung oder Institution zu finden ist,
wo nicht ganz klar und bestimmt die grundlegende und wichtigste Maß-
nahme zur Bekämpfung, zur Abwendung der Katastrophe und der Hun-
gersnot anerkannt worden wäre. Diese Maßnahme ist: Kontrolle, Auf-
sicht, Rechnungsführung, Regulierung durch den Staat, richtige Vertei-
lung der Arbeitskräfte in Produktion und Distribution, Haushalten
mit den Kräften des Volkes, Vermeidung jedes überflüssigen Kraftauf-
wands, sparsames Umgehen mit den Kräften. Kontrolle, Aufsicht, Rech-
nungsführung - das ist das Entscheidende im Kampf gegen die Kata-
strophe und gegen die Hungersnot. Das wird nicht bestritten und ist all-
gemein anerkannt. Aber gerade das ist es, was nicht getan wird
aus Angst, die Allmacht der Gutsbesitzer und Kapitalisten, ihre maß-
losen, unerhörten, skandalösen Profite anzutasten, Profite, die infolge
der Teuerung und durch Heereslieferungen (für den Krieg aber „arbei-
ten“ jetzt direkt oder indirekt beinah alle) eingeheimst werden, Profite,
von denen jeder weiß, die jeder beobaditet, über die alle zetern.
Und der Staat tut nichts, rein gar nichts, um eine einigermaßen ernst-
hafte Kontrolle, Rechnungsführung und Aufsicht zu verwirklichen.
DIE REGIERUNG IST VÖLLIG UNTÄTIG
Allenthalben findet man eine systematische, ständige Sabotage jeder
Kontrolle, Aufsicht und Rechnungsführung, jeglicher Versuche, sie durch
den Staat in Gang zu bringen. Nun gehört eine unglaubliche Naivität
dazu, nicht zu begreifen - und es gehört ausgesprochene Heuchelei dazu,
so zu tun, als ob man nicht begriffe von wo diese Sabotage ausgeht und
mit welchen Mitteln sie betrieben wird. Denn diese Sabotage der Ban-
kiers und Kapitalisten, dieses Hintertreiben jeder Kontrolle.
Aufsicht und Rechnungsführung wird den staatlichen Formen der demo-
kratischen Republik angepaßt, wird der Existenz „revolutionär-demo-
kratischer“ Institutionen angepaßt. Die Herren Kapitalisten haben sich
sehr gut die Wahrheit zu eigen gemacht, zu der sich in Worten alle An-
hänger des wissenschaftlichen Sozialismus bekennen, die die Mensche-
wiki und: Sozialrevolutionäre aber sofort zu vergessen trachteten, sobald
ihre Freunde Postchen als Minister, Vizeminister usw. gefunden hatten.
Gemeint ist die Wahrheit,, daß das ökonomische Wesen der kapitalisti-
schen Ausbeutung in keiner Weise berührt wird, wenn an die Stelle der
monarchistischen Regierungsformen republikanisch-demokratische treten,
und folglich auch umgekehrt: es braucht bloß die Form des Kampfes
für die Unantastbarkeit und Heiligkeit des kapitalistischen Profits geän-
dert zu werden, damit dieser Profit in der demokratischen Republik
genauso erfolgreich behauptet werden kann, wie dies zur Zeit der abso-
lutistischen Monarchie der Fall war.
Die gegenwärtige, neueste, republikanisch-demokratische Sabotage
jeder Kontrolle, Rechnungsführung und Aufsicht besteht darin, daß die
Kapitalisten in Worten das „Prinzip“ der Kontrolle und deren Not-
wendigkeit „begeistert“ anerkennen (wie alle Menschewiki und Sozial-
334
W. I. Lenin
revolutionäre selbstverständlich auch) und nur darauf bestehen, daß die
Einführung dieser Kontrolle auf „allmähliche“, planmäßige, „staatlich
geregelte“ Weise vor sich gehe. In Wirklichkeit sind diese wohlklingen-
den Worte nur ein Deckmantel, um die Kontrolle hintertreiben zu kön-
nen, sie in ein Nichts, in eine Fiktion zu verwandeln, eine Kontrolle vor-
zutäuschen, alle sachlichen und praktisch wichtigen Schritte zu verschlep-
pen, unglaublich komplizierte, schwerfällige, bürokratisch-unlebendige
Kontrollorgane zu schaffen, die ganz und gar von den Kapitalisten ab-
hängen und rein gar nichts tun und auch nichts tun können.
Damit das Gesagte nicht als leere Behauptung erscheint, wollen wir
uns auf Zeugen aus den Reihen der Menschewiki und Sozialrevolutionäre
berufen, d. h. gerade der Leute, die im ersten Halbjahr der Revolution
in den Sowjets die Mehrheit hatten, die an der „Koalitionsregierung“
teilnahmen und deshalb vor den russischen Arbeitern und Bauern die
politische Verantwortung dafür tragen, daß sie die Kapitalisten gewäh-
ren ließen, dafür, daß diese jede Kontrolle hintertreiben konnten.
Das offizielle Organ der höchsten Körperschaft unter den sogenannten
„machtbefugten“ (nicht lachen!) Körperschaften der „revolutionären“
Demokratie, die „Iswestija“ des ZEK (d. h. des Zentralexekutivkomitees
des Gesamtrussischen Sowjetkongresses der Arbeiter-, Soldaten- und
Bauemdeputierten), veröffentlichte in Nr. 164 vom 7. September 1917
einen Beschluß der von eben den Menschewiki und Sozialrevolutio-
nären geschaffenen und in ihren Händen befindlichen speziellen Institu-
tion für Fragen der Kontrolle. Diese spezielle Institution ist die „Ökono-
mische Abteilung“ des Zentralexekutivkomitees. In ihrem Beschluß wird
„ die absolute Untätigkeit der bei der Regierung
gebildeten zentr alen K örperscha ft en zur Regu-
lierung des Wirtschaftslebens“ offiziell als Tatsache an-
erkannt.
Wahrhaftig, kann man sich ein beredteres Zeugnis für den Bankrott
der mensdhewistischeh und Sozialrevolutionären Politik vorstellen als die-
ses von den Menschewiki und Sozialrevolutionären eigenhändig unter-
schriebene?
Schon zur Zeit des Zarismus wurde die Notwendigkeit der Regulie-
rung des Wirtschaftslebens anerkannt, und einige Institutionen wurden'
zu diesem Zweck geschaffen. Doch griff die Zerrüttung unter dem Zaris-
Die drohende Katastrophe und mie man sie bekämpfen soll 33 5
mus immer mehr um sich und nahm ungeheure Ausmaße an. Es galt von
Anfang an als Aufgabe der republikanischen, revolutionären Regierung,
ernsthafte, entschiedene Maßnahmen zur Überwindung der Zerrüttung
zu ergreifen. Als die „Koalitionsregierung unter Beteiligung der Men-
schewiki und Sozialrevolutionäre gebildet wurde, gab sie in ihrer höchst
feierlichen, an das ganze Volk gerichteten Deklaration vom 6. Mai das
Versprechen und übernahm die Verpflichtung, eine staatliche Kontrolle
und Regulierung einzuführen. Sowohl die Zereteli und Tschemow als
auch die übrigen menschewistischen und Sozialrevolutionären Führer
schwuren und beteuerten, daß sie nicht nur für die Regierung verantwort-
lich seien, sondern daß die in ihren Händen befindlichen „bevollmäch-
tigten Organe der revolutionären Demokratie“ die Arbeit der Regierung
wirklich überwachten und kontrollierten.
Seit dem 6. Mai sind vier Monate, vier lange Monate verflossen, in
denen Rußland für die unsinnige imperialistische „Offensive“ Hundert-
tausende von Soldaten in den Tod getrieben hat, in denen die Zerrüttung
und die Katastrophe mit Riesenschritten immer näher heranrückten, ob-
wohl der Sommer gerade äußerst günstige Möglichkeiten geboten hat,
auf dem Gebiet der Schiffahrt, der Landwirtschaft, der geologischen
Schürfungen usw. usf. vieles zu leisten - nach diesen vier Monaten sehen
sich nun die Menschewiki und Sozialrevolutionäre gezwungen, die „ab-
solute Untätigkeit“ der bei der Regierung gebildeten Kontrollinstitutio-
nen offiziell zuzugeben ! f
Und diese Menschewiki und Sozialrevolutionäre schwatzen jetzt (wir
schreiben diese Zeilen gerade am Vorabend der Demokratischen Bera-
tung, am 12. September® 7 ) mit der ernsten Miene von Staatsmännern da-
von, daß in dieser Sache Abhilfe geschaffen werden könnte, wenn man
die Koalition mit den Kadetten durch eine Koalition mit den Kit Kitytsch*
der Industrie und des Handels, den Rjabuschinski, Bublikow, Tere-
schtschenko und Co. ersetzte !
Nun fragt es sich, wie ist diese erstaunliche Blindheit der Mensche-
wiki und Sozialrevolutionäre zu erklären? Soll man sie als politische
Säuglinge betrachten, die so überaus vemunftlos und naiv sind, daß sie
nicht wissen, was sie tun, und sich in gutem Glauben irren? Oder hat
* Gestalt aus der Komödie A. Ostrowskis „Der bittre Rest beim fremden Fest“.
Die Red.
336
die Fülle der besetzten Postchen von Ministem, Vizeministem, General-
gouvemeuren, Kommissaren und dergleichen mehr die Eigenschaft, eine
besondere, eine „politische“ Blindheit hervorzurufen?
DIE KONTROLLMASSNAHMEN SIND ALLGEMEIN
BEKANNT UND LEICHT DURCHFÜHRBAR
Es kann die Frage auftauchen, ob die Mittel und Methoden der Kon-
trolle nicht etwas außerordentlich Kompliziertes, Schwieriges, Unerprob-
tes, ja selbst Unbekanntes darstellen. Ob sich die Verschleppung nicht
daraus erklärt, daß die Staatsmänner der Kadettenpartei, der Industrie-
und Handelsklasse, der Parteien der Sozialrevolutionäre und Mensche-
wiki sich schon seit einem halben Jahr im Schweiße ihres Angesichts ab-
mühen, Mittel und Methoden der Kontrolle ausfindig zu machen, zu stu-
dieren, zu eröffnen, daß sich die Aufgabe aber als unerhört schwierig
und noch immer als ungelöst erweist.
Mitnichten ! Man ist bestrebt, den unwissenden, analphabetischen, ver-
schüchterten Bäuerlein und auch den Spießern, die alles glauben und
nichts tiefer zu ergründen suchen, „Sand in die Augen zu streuen“ und
die Sache eben in dieser Weise darzustellen. In Wirklichkeit aber mußte
sogar der Zarismus, sogar das „alte Regime“, das die Kriegsindustrie-
komitees schuf, welches die grundlegende Maßnahme ist, worin vor allem
die Mittel und Methoden der Kontrolle bestehen: in der Zusammen-
fassung der Bevölkerung nach den verschiedenen Berufen, Tätigkeits-
arten, Arbeitszweigen usw. Doch der Zarismus fürchtete die Zusammen-
fassung der Bevölkerung und tat daher alles, um diese wohlbekannten,
überaus leicht und voll anwendbaren Mittel und Methoden der Kontrolle
einzuschränken und künstlich zu beschneiden.
Alle kriegführenden Staaten, denen der Krieg schwerste Lasten auf er-
legt, die er in größte Not stürzt und die - in größerem oder geringerem
Maße - unter der Zerrüttung und der Hungersnot leiden, haben schon
längst eine ganze Reihe von Kontrollmaßnahmen vorgesehen, festgelegt,
angewandt und erprobt, die fast immer auf die Zusammenfassung der
Bevölkerung, auf die Schaffung oder Förderung von Vereinigungen aller
Art hinauslaufen, an denen Vertreter des Staates teilnehmen, die unter
Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen sott 337
Aufsicht des Staates stehen usw. Alle diese Kontrollmaßnahmen sind
allgemein bekannt, über sie wurde viel gesprochen und viel geschrieben ;
die Gesetze, die von den fortgeschrittenen kriegführenden Staaten er-
lassen worden sind und die Kontrolle betreffen, sind ins Russische über-
setzt oder in der russischen Presse ausführlich dargelegt worden.
Hätte unser Staat die Kontrolle wirklich ernsthaft und sachlich durch-
führen wollen, hätten sich seine Institutionen nicht selbst durch ihre Krie-
cherei vor den Kapitalisten zur „absoluten Untätigkeit“ verdammt, so
hätte der Staat nur mit beiden Händen aus dem überaus reichen Vorrat
an schon bekannten, schon angewandten Kontrollmaßnahmen zu schöp-
fen brauchen. Das einzige Hindernis, das im Wege steht, ein Hindernis,
das die Kadetten, Sozialrevolutionäre und Menschewiki dem Volke ver-
heimlichen, ist und bleibt eben die Tatsache, daß die Kontrolle die wahn-
witzigen Profite der Kapitalisten aufdecken und diesen Profiten Abbruch
tun würde.
Um diese überaus wichtige Frage anschaulicher zu erläutern (sie ist im
Grunde gleichbedeutend mit der Frage nach dem Programm jeder wirk-
lich revolutionären Regierung, die gewillt wäre, Rußland vor Krieg und
Hungersnot zu retten), wollen wir die wichtigsten Kontrollmaßnahmen
aufzählen und jede einzelne näher untersuchen.
Wir werden sehen, daß es genügt hätte, wenn eine Regierung, die nicht
nur zum Spott revolutionär-demokratisch genannt wird, schon in der
ersten Woche ihres Bestehens die Verwirklichung der Hauptmaßnahmen
für die Kontrolle dekretiert (beschlossen, verfügt) hätte, wenn sie gegen
die Kapitalisten, die sich auf betrügerischem Wege der Kontrolle ent-
ziehen wollen, ernsthafte,- empfindliche Strafen festgesetzt und die Be-
völkerung aufgefordert hätte, selbst die Kapitalisten zu beaufsichtigen,
selbst darüber zu wachen, daß die Kontrollverordnungen von den Kapita-
listen gewissenhaft eingehalten werden - und die Kontrolle wäre in Ruß-
land schon längst verwirklicht.
Diese wichtigsten Maßnahmen sind:
1. Vereinigung aller Banken zu einer einzigen Bank und staatliche
Kontrolle über ihre Operationen oder Nationalisierung der Banken.
2. Nationalisierung der Syndikate, d. h. der größten, der monopolisti-
schen Verbände der Kapitalisten (Zucker-, Erdöl-, Kohlen-, Hüttensyn-
dikat usw.).
i, Werke. Bd. 25
338
3. Aufhebung des Geschäftsgeheimnisses.
4. Zwangssyndizierung (d. h. Zwangsvereinigung in Verbänden) der
Industriellen, Kaüfleute und Unternehmer überhaupt.
5. Zwangsvereinigung der Bevölkerung in Konsumgenossenschaften
oder Förderung einer solchen Vereinigung und Kontrolle über sie.
Wir wollen nunmehr untersuchen, welche Bedeutung jede dieser Maß-
nahmen haben würde, vorausgesetzt, daß sie auf revolutionär-demokra-
tische Weise durchgeführt wird.
NATIONALISIERUNG DER BANKEN
Die Banken sind bekanntlich die Zentren des modernen Wirtschafts-
lebens, die wichtigsten Nervenknoten des gesamten kapitalistischen
Systems der Volkswirtschaft. Von einer „Regulierung des Wirtschafts-
lebens“ sprechen und die Frage der Nationalisierung der Banken um-
gehen heißt entweder krasseste Unwissenheit an den Tag legen oder das
„einfache Volk“ mit hochtrabenden Redensarten und einem Schwall von
Versprechungen betrügen, die man von vornherein nicht zu halten beab-
sichtigt.
Die Getreidebelieferung oder überhaupt die Produktion und Vertei-
lung der Produkte kontrollieren und regulieren zu wollen, ohne dabei die
Bankoperationen zu kontrollieren und zu regulieren, ist Unsinn. Das ist
ungefähr so, als wollte man nach Kopeken greifen, die einem zufällig
unter die Finger kommen, während man Millionen Rubel unbeachtet läßt.
Die modernen Banken sind so eng und untrennbar mit dem Handel (dem
Getreidehandel und jedem sonstigen) und der Industrie verwachsen, daß
man, ohne auf die Banken „die Hand zu legen“, absolut nichts Ernsthaf-
tes, nichts „Revolutionär-Demokratisches“ tun kann.
Aber vielleicht ist es eine sehr schwierige und verwickelte Operation
für den Staat, auf die Banken „die Hand zu legen“? Man bemüht sich
gewöhnlich, die Spießer gerade durch solch eine Darstellung einzu-
sdiüchtem - natürlich sind es die Kapitalisten und ihre Verteidiger, die
sich bemühen, denn für sie ist das vorteilhaft.
In Wirklichkeit bietet die Nationalisierung der Banken, durch die kei-
nem einzigen „Eigentümer“ auch nur eine Kopeke genommen wird, über-
bekämpfen soll
339
haupt keinerlei Schwierigkeiten, weder technischer noch kultureller Art,
sie wird vielmehr aussdiließlidi durch die schmutzige Profitgier eines
verschwindend kleinen Häufleins von Reichen hintertrieben. Wenn die
Nationalisierung der Banken so oft mit der Konfiskation der Privatver-
mögen verwechselt wird, so trägt die Schuld an der Verbreitung dieser
Begriffsverwirrung die bürgerliche Presse, in deren Interesse es liegt, die
Öffentlichkeit zu betrügen.
Das Eigentum an den Kapitalien, mit denen die Banken operieren und
die in den Banken konzentriert sind, wird durch gedruckte und schrift-
liche Urkunden bescheinigt, die man Aktien, Obligationen, Wechsel,
Quittungen u. dgl. m. nennt. Keine einzige derartige Bescheinigung
würde durch die Nationalisierung der Banken, d. h. durch die Ver-
schmelzung aller Banken zu einer einzigen Staatsbank, verfallen oder
ihren Charakter ändern. Wer auf einem Sparkassenbuch 15 Rubel be-
sessen hat, bleibt auch nach der Nationalisierung der Banken der Besitzer
dieser 15 Rubel, und wer 15 Millionen hatte, dem verbleiben auch nach
der Nationalisierung der Banken 15 Millionen in Gestalt von Aktien,
Obligationen, Wechseln, Warenzertifikaten und dergleichen mehr.
Worin besteht also die Bedeutung der Nationalisierung der Banken?
Darin, daß über die einzelnen Banken und ihre Operationen eine wirk-
liche Kontrolle (selbst wenn man das Geschäftsgeheimnis usw. aufge-
hoben hat) unmöglich ist, denn man kann unmöglich die überaus kompli-
zierten, verwickelten und raffinierten Methoden durchschauen, die bei
der Aufstellung der Bilanzen, bei der Gründung von fiktiven Unterneh-
men und von Zweigstellen, beim Verschieben von Strohmännern usw.
usf. angewendet werden. Nur die Vereinigung aller Banken zu einer ein-
zigen, was an sich nicht die geringste Veränderung der Eigentumsverhält-
nisse bedeutet und, wir wiederholen das, keinem einzigen Eigentümer
auch nur eine Kopeke wegnimmt, ermöglidtt eine wirkliche Kontrolle,
selbstverständlich unter der Voraussetzung, daß alle anderen oben an-
geführten Maßnahmen zur Anwendung kommen. Nur wenn die Banken
nationalisiert sind, kann man erreichen, daß der Staat darüber unterrich-
tet ist, wohin und woher, wie und wann die Millionen und Milliarden
kommen und gehen. Und nur die Kontrolle über die Banken, über dieses
Zentrum, dieses Kernstück, den Hauptmechanismus der kapitalistischen
Zirkulation, würde es ermöglichen, in der Tat und nicht nur in Worten
340
W.I. Lenin
die Kontrolle über das gesamte Wirtschaftsleben, über die Produktion und
Verteilung der wichtigsten Erzeugnisse in Gang zu bringen, jene „Regu-
lierung des Wirtschaftslebens“ in die Wege zu leiten, die sonst unweiger-
lich dazu verurteilt ist, eine Phrase der Minister zur Irreführung des ein-
fachen Volkes zu bleiben. Nur die Kontrolle über die Bankoperationen
- bei Vereinigung der Banken zu einer einzigen Staatsbank - schafft die
Möglichkeit, unter Anwendung weiterer leicht durchführbarer Maßnah-
men die Einkommensteuer wirklich einzuziehen, ohne daß dabei Ver-
mögen und Einkommen verheimlicht werden können, denn gegenwärtig
bleibt die Einkommensteuer in höchstem Grade eine Fiktion.
Die Nationalisierung der Banken brauchte man nur zu dekretieren,
durchführen würden sie die Direktoren und Angestellten selber. Dazu
bedarf es keines besonderen Apparats, keinerlei besonderer vorbereiten-
der Schritte des Staates, diese Maßnahme läßt sich durch einen einzigen
Erlaß, „mit einem Schlag“ verwirklichen. Denn eine solche Maßnahme ist
gerade vom Kapitalismus ökonomisch ermöglicht worden, nachdem er
sich bis zu Wechseln. Aktien. Obligationen usw. entwickelt hat. Was zu
tun übrigbleibt, ist nur noch die Zusammenlegung der Buchführung und
wenn der revolutionär-demokratische Staat beschlösse: es sind sofort,
telegrafisch, in jeder Stadt Versammlungen und in den Gebieten und im
ganzen Lande Tagungen der Direktoren und Angestellten einzuberufen,
um alle Banken unverzüglich zu einer einzigen Staatsbank zu vereini-
gen. so würde diese Reform in wenigen Wochen durchgeführt sein. Frei-
lich würden gerade die Direktoren und höheren Angestellten Wider-
stand leisten und sich bemühen, den Staat zu betrügen, die Sache auf die
lange Bank zu schieben usw., denn diese Herren würden ja ihre beson-
ders einträglichen Postchen verlieren, würden die Möglichkeit zu beson-
ders gewinnbringenden Schwindeloperationen verlieren; das ist der Kern
der ganzen Sache. Jedoch stehen der Vereinigung der Banken nicht die
geringsten technischen Schwierigkeiten im Wege, und wenn die Staats-
macht nicht nur in Worten revolutionär ist (d. h. wenn sie sich nicht
fürchtet, mit althergebrachten Anschauungen und verknöcherten Gewohn-
heiten zu brechen), wenn sie nicht nur in Worten demokratisch ist (d. h.
wenn sie im Interesse der Mehrheit des Volkes und nicht im Interesse
einer Handvoll Reicher handelt), so braucht sie nur zu dekretieren, daß
Direktoren, Verwaltungsmitglieder und Großaktionäre, die die Sache
Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll
341
auch nur im geringsten verschleppen, die versuchen, Dokumente oder
Abrechnungen auf die Seite zu schaffen, mit Vermögenseinzug und Ge-
fängnis bestraft werden, so braucht sie z. B. nur die armen Angestellten
gesondert zusammenzufassen und ihnen Prämien auszusetzen für die
Aufdeckung der Gaunereien und Verschleppungen seitens der Reichen -
und die Nationalisierung der Banken ginge glatter und rascher vonstat-
ten, als man sich träumen läßt.
Die Vorteile, die das ganze Volk, und zwar in der Hauptsache nicht
die Arbeiter (denn die Arbeiter haben mit Banken wenig zu tun), sondern
die Masse der Bauern und kleinen Unternehmer, aus der Nationalisie-
rung der Banken zöge, wären ganz gewaltig. Die Ersparnis an Arbeits-
aufwand wäre enorm, und wenn man annimmt, daß der Staat die bis-
herige Anzahl der Bankangestellten beibehielte, ergäbe das einen überaus
großen Schritt vorwärts in Richtung auf eine universelle (allgemeine)
Benutzung der Banken, eine Zunahme ihrer Zweigstellen, eine größere
Zugänglichkeit der Bankgeschäfte usw. usf. Gerade für die kleinen Eigen-
tümer, für die Bauernschaft, würden Kredite dadurch außerordentlich
erleichtert und viel zugänglicher gemacht werden. Der Staat aber bekäme
zum erstenmal die Möglichkeit, zunächst alle wichtigen Geldoperatio-
nen. ohne daß diese verheimlicht werden können, zu überblidien und
dann zu kontrollieren, ferner das Wirtschaftsleben zu regtdieren und
schließlich Millionen und Milliarden für große staatliche Operationen
zu erhalten, ohne den Herren Kapitalisten wahnwitzige „Provisionen“
für ihre „Dienste“ zu zahlen. Das und nur das ist der Grund, warum
alle Kapitalisten, alle bürgerlichen Professoren, die ganze Bourgeoisie,
alle ihr gegenüber dienstbeflissenen Plechanow, Potressow und Co. bereit
sind, mit Schaum vor dem Munde gegen die Nationalisierung der Ban-
ken zu kämpfen, tausenderlei Einwände gegen diese überaus leicht durch-
zufülyende und dringliche Maßnahme zu ersinnen, obwohl diese Maß-
nahme sogar vom Standpunkt der „Landesverteidigung“, d. h. vom
militärischen Standpunkt aus, von gewaltigem Vorteil wäre und die
„militärische Macht“ des Landes in ungeheurem Maße steigern würde.
Hier könnte man vielleicht einwenden: Warum führen denn so fort-
geschrittene Länder wie Deutschland und die Vereinigten Staaten von
Amerika eine großartige „Regulierung des Wirtschaftslebens“ durch, ohne
an eine Nationalisierung der Banken auch nur zu denken?
342
W.I. Lenin
Darum, antworten wir, weil diese Staaten, obwohl der erste eine Mon-
archie und der zweite eine- Republik ist, beide nicht nur kapitalistische,
sondern auch imperialistische Staaten sind. Als solche führen sie die für sie
notwendig gewordenen Reformen auf reaktionär-bürokratischem Wege
durch, wir aber sprechen hier vom revolutionär-demokratischen Weg.
Dieser „kleine Unterschied“ ist sehr wesentlich. Es ist meist „nicht
üblich“, über ihn nachzudenken. Das Wort „revolutionäre Demokratie“
ist bei uns (besonders bei den Sozialrevolutionären und Menschewiki)
beinahe zu einer konventionellen Phrase geworden, wie etwa der Aus-
druck „Gott sei Dank“, der auch von Leuten gebraucht wird, die nicht so
unwissend sind, an Gott zu glauben, oder wie etwa der Ausdrude „ehren-
werter Bürger“, mit dem man mitunter sogar die Mitarbeiter des „Den“
oder des „Jedinstwo“ anspricht, obwohl fast alle wissen, daß diese Zei-
tungen von Kapitalisten im Interesse der Kapitalisten gegründet wurden
und unterhalten werden und daß darum die Mitarbeit von Pseudosozia-
listen an diesen Zeitungen sehr wenig „Ehrenwertes“ enthält.
Wenn man die Worte „revolutionäre Demokratie“ nicht als schablo-
nenhafte Paradephrase, nicht ab konventionelle Redewendung gebraucht,
sondern über ihre Bedeutung nadidenkt, dann heißt Demokrat sein,
Wirklich den Interessen der Mehrheit und nicht der Minderheit des Vol-
kes Rechnung tragen, dann heißt Revolutionär sein, alles Schädliche und
Veraltete mit größter Entschiedenheit und Schonungslosigkeit nieder-
reißen.
Weder in Amerika noch in Deutschland erheben die Regierungen oder
die herrschenden Klassen, soviel man hört, Anspruch auf den Titel „revo-
lutionäre Demokratie“, den unsere Sozialrevolutionäre und Mensche-
wiki für sich beanspruchen (und den sie prostituieren).
In Deutschland gibt es alles in allem vier private Großbanken von
gesamtnationaler Bedeutung, in Amerika alles in allem zwei. Für die
Finanzkönige dieser Banken ist es leichter, bequemer und vorteilhafter,
sich privat und heimlich, auf reaktionäre und nicht revolutionäre, bürokra-
tische und nicht demokratische Weise zusammenzutun, die Staatsbeamten
zu bestechen (das ist die allgemeine Regel, sowohl in Amerika wie in
D eutschland) und den privaten Charakter der Banken beizubehal-
ten, gerade um das Geschäftsgeheimnis zu wahren, gerade um Millionen
und aber Millionen von „Extraprofiten“ aus eben dem Staat herauszu-
Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soü 343
schlagen, gerade um betrügerische Finanzmanipulationen durchführen zu
können.
Sowohl Amerika als auch Deutschland „regulieren das Wirtschafts-
leben“ so, daß dabei für die Arbeiter (und zum Teil für die Bauern) ein
Militärzuchthaus, für die Bankiers und Kapitalisten aber ein Paradies
geschaffen wird. Ihre Regulierung besteht darin, daß man die Arbeiter
„durchhalten“ und hungern läßt, den Kapitalisten aber (insgeheim, auf
reaktionär-bürokratische Weise) höhere Profite sichert als vor dem Krieg.
Diese Methode ist auch im republikanisch-imperialistischen Rußland
durchaus möglich; sie wird nicht nur von den Miljukow und Schingarjow,
, sondern auch von Kerenski in Eintracht mit Tereschtschenko, Nekras-
sow, Bemazki, Prokopowitsch und Co. angewandt, die ebenfalls auf
reaktionär-bürokratische Weise die „Unantastbarkeit“ der Banken, deren
geheiligte Rechte auf wahnwitzige Profite schützen. Laßt uns doch lieber
die Wahrheit sagen: Im republikanischen Rußland möchte man das Wirt-
schaftsleben auf reaktionär-bürokratische Weise regulieren, nur weiß
man „oft“ nicht recht, wie man das durchführen soll angesichts der Exi-
stenz der „Sowjets“, die auseinanderzüjagen Komilow Nummer eins
nicht vermocht hat, die aber Komilow Nummer zwei auseinanderzujagen
bemüht sein wird . . .
So sieht die Wahrheit aus. Und diese einfache, wenn auch bittere
Wahrheit ist zur Aufklärung des Volkes nützlicher als die süßliche Lüge
von „unserer“, „großen“, „revolutionären“ Demokratie . . .
Die Nationalisierung der Banken würde auch die gleichzeitige Natio-
nalisierung des Versicherungswesens äußerst erleichtern, d. h. die Ver-
einigung aller Versicherungsgesellschaften zu einer einzigen, die Zentra-
lisierung ihrer Tätigkeit und die staatliche Kontrolle über sie. Tagungen
der Angestellten der Versicherungsgesellschaften könnten auch hier sofort
und ohne jede Mühe diese Vereinigung durchführen, wenn der revolutio-
när-demokratische Staat das anordnete und den Direktoren der Ver-
waltungen und den Großaktionären unter strenger Haftbarmachung
eines jeden einzelnen vorschriebe, die Vereinigung ohne den geringsten
Aufschub durchzuführen. Im Versicherungswesen haben die Kapitalisten
Hunderte von Millionen investiert, die ganze Arbeit wird von Angestell-
344
W. I. Lenin
ten geleistet. Die Zusammenlegung der Versicherungsgesellschaften
würde die Versicherungsprämien herabsetzen, allen Versicherten eine
Menge Vorteile und Erleichterungen bringen und es ermöglichen, bei
gleichbleibendem Aufwand an Kraft und Mitteln den Kreis der Ver-
sicherten zu erweitern. Außer althergebrachten Anschauungen und ver-
knöcherten Gewohnheiten sowie dem Eigennutz einer Handvoll Inhaber
von einträglichen Postchen hindert rein gar nichts diese Reform, die
ebenfalls dazu beitragen würde, die „Verteidigungsfähigkeit“ des Lan-
des zu heben, da sie Volksarbeit einspart und eine Reihe bedeutsamer
Möglichkeiten eröffnet, nicht nur in Worten, sondern in Wirklichkeit
das „Wirtschaftsleben zu regulieren“.
NATIONALISIERUNG DER SYNDIKATE
Der Kapitalismus unterscheidet sich von den alten, vorkapitalistischen
Systemen der Volkswirtschaft dadurch, daß er die verschiedenen Zweige
der Volkswirtschaft in engste Verbindung und gegenseitige Abhängig-
keit gebracht hat. Wäre das nicht der Fall, so würden, nebenbei gesagt,
keinerlei Schritte zum Sozialismus technisch durchführbar sein. Der
moderne Kapitalismus aber hat mit seiner Herrschaft der Banken über
die Produktion diese gegenseitige Abhängigkeit der verschiedenen
Zweige der Volkswirtschaft bis zum höchsten Grade gesteigert. Die
Banken und die wichtigsten Zweige der Industrie und des Handels sind
untrennbar miteinander verwachsen. Einerseits bedeutet das, daß es nicht
möglich ist. nur die Banken zu nationalisieren, ohne gleichzeitig Schritte
zu unternehmen, aus den Handels- und Industriesyndikaten (Zucker-,
Kohlen-, Eisen-, Erdölsyndikat usw.) ein Staatsmonopol zu schaffen,
ohne diese Syndikate zu nationalisieren. Anderseits bedeutet das, daß die
Regulierung des Wirtschaftslebens, wenn sie ernstlich durchgeführt wer-
den soll, gleichzeitig die Nationalisierung sowohl der Banken wie auch
der Syndikate erforderlich macht.
Nehmen wir beispielsweise das Zuckersyndikat. Es wurde noch unter
dem Zarismus geschaffen und führte damals zu einer großangelegten
kapitalistischen Vereinigung vorzüglich ausgerüsteter Fabriken und
Werke, wobei diese Vereinigung selbstverständlich durch und durch von
Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll 345
erzreaktionärem und bürokratischem Geist durchdrungen war, den Kapi-
talisten skandalös hohe Profite sicherte, die Angestellten und Arbeiter
aber in die Lage von absolut rechtlosen, erniedrigten, geknechteten, ver-
sklavten Menschen versetzte. Der Staat kontrollierte und regulierte schon
damals die Produktion - zugunsten der Geldmagnaten, der Reichen.
Man braucht hier nur die reaktionär-bürokratische Regulierung in eine
revolutionär-demokratische zu verwandeln, und zwar durch einfacheVer-
fügungen über die Einberufung einer Tagung der Angestellten, Inge-
nieure, Direktoren und Aktionäre, über die Einführung einer einheit-
lichen Rechenschaftslegung, über die Kontrolle durch die Arbeiterver-
bände usw. Das ist die denkbar einfachste Sache - und gerade sie bleibt
ungetan 1! In der demokratischen Republik bleibt in Wirklichkeit die
reaktionär-bürokratische Regulierung der Zuckerindustrie bestehen, alles
bleibt beim alten: die Vergeudung von Volksarbeit, die verknöcherten
Gewohnheiten, die Stagnation und die Bereicherung der Bobrinski und
Tereschtschenko. Die Demokratie und nicht die Bürokratie, die Arbeiter
und Angestellten und nicht die „Zuckeikönige“ zur selbständigen Initia-
tive aufrufen - das hätte in ein paar Tagen, mit einem Schlag getan
werden können und müssen, wenn die Sozialrevolutionäre und Mensche-
wiki das Bewußtsein des Volkes nicht durch Pläne einer „Koalition“
gerade mit diesen Zuckerkönigen getrübt hätten, gerade der Koalition
mit den Geldsäcken, aus der sich ganz zwangsläufig die „absolute Un-
tätigkeit“ der Regierung in Sachen der Regulierung des Wirtschaftslebens
ergibt.*
Nehmen wir die Erdölindustrie. Sie ist bereits durch die vorangegan-
gene Entwicklung des Kapitalismus in riesigem Ausmaß „vergesellschaf-
tet“ worden. Ein paar Petroleumkönige sind es, die mit Hunderten und
aber Hunderten von Millionen schalten und walten; sie beschäftigen sich
mit Kuponschneiden Und mit dem Einheimsen phantastisch hoher Profite
aus einem „Geschäft“, das in Wirklichkeit technisch bereits in nationalem
Maßstab gesellschaftlich organisiert ist und bereits von Hunderten und
Tausenden von Angestellten, Ingenieuren usw. geleitet wird. Die Natio-
* Diese Zeilen waren bereits geschrieben, als ich in den Zeitungen las, daß die
Kerenskiregierung das Zudcermonopol einführt; selbstverständlich tut sie das
reaktionär-bürokratisch, ohne Tagungen der Angestellten und Arbeiter, ohne Be-
teiligung der Öffentlichkeit, ohne die Kapitalisten zu zügeln II
346
W. I. Lenin
nalisierung der Erdölindustrie ist sofort möglich und für einen revolutio-
när-demokratischen Staat Pflicht, zumal wenn dieser eine überaus
schwere Krise durchmacht, wo es gilt, um jeden Preis Volksarbeit ein-
zusparen und die Brennstoffproduktion zu steigern. Es ist klar, daß eine
bürokratische Kontrolle hier nichts nützen und nichts ändern wird, denn
mit den Tereschtschenko und Kerenski, mit den Awksentjew und Sko-
belew werden die „Petroleumkönige" genauso leicht fertig, wie sie mit
den Ministem des Zaren fertig geworden sind - mit Hilfe von Ver-
schleppungen, Ausflüchten und Versprechungen, mit Hilfe direkter und
indirekter Bestechung der bürgerlichen Presse (das nennt man „öffent-
liche Meinung“, der die Kerenski und Awksentjew „Rechnung tragen“)
und durch Bestechung der Beamten (die von den Kerenski und Awksen-
tjew in dem alten unangetasteten Staatsapparat auf ihren alten Posten
belassen werden).
Um etwas Ernsthaftes zu tun, muß man von der Bürokratie zur Demo-
kratie übergehen, und zwar auf wirklich revolutionäre Art, d. h„ man
muß den Petroleumkönigen und -aktionären den Krieg erklären, man
muß durch Dekret festlegen, daß für die Verschleppung der Nationali-
sierung der Erdölindustrie, für die Verheimlichung von Einkünften oder
Abrechnungen, für Sabotage an der Produktion und für das Unterlassen
von Maßnahmen zur Produktionssteigerung Vermögenseinzug und Ge-
fängnisstrafen verhängt werden. Man muß an die Initiative der Arbeiter
und Angestellten appellieren, sie sofort zu Beratungen und Tagungen
zusammenrufen und ihnen einen bestimmten Gewinnanteil über-
lassen unter der Bedingung, daß eine allseitige Kontrolle eingeführt und
die Produktion gesteigert wird. Wären solche revolutionär-demokrati-
schen Schritte sofort, ohne Verzug im April 1917 getan worden, dann
hätte Rußland, das an Vorkommen flüssigen Brennstoffs zu den reichsten
Ländern der Welt gehört, im Laufe des Sommers, unter Ausnutzung der
Wasserstraßen, außerordentlich viel tun können, um das Volk mit Brenn-
stoff in den nötigen Mengen zu versorgen.
Weder die bürgerliche Regierung noch die sozialrevolutionär-mensche-
wistisch-kadettische Koalitionsregierung haben auch nur das geringste
getan; sie haben sich mit einer bürokratischen Reformspielerei begnügt.
Keinen einzigen revolutionär-demokratischen Schritt wagten sie zu unter-
nehmen. Dieselben Petroleumkönige, dieselbe Stagnation, derselbe Haß
Die drohende Katastrophe und taie man sie bekämpfen soll
347
der Arbeiter und Angestellten gegen die Ausbeuter, derselbe Zerfall, der
auf diesem Boden um sich greift, dieselbe Vergeudung von Volksarbeit -
alles, wie es unter dem Zarismus war. geändert hat sidi nur der Kopf
der Briefe, die in den „republikanisdien“ Kanzleien abgehen und ein-
treff en!
In der Kohlenindustrie, die technisdi und kulturell nicht weniger „reif“
für die Nationalisierung ist und die von denen, die das Volk ausplün-
dem, den Kohlenkönigen, nidit weniger schändlich verwaltet wird, ist
uns eine Reihe von höchst anschaulichen Tatsachen direkter Sabotage,
unmittelbarer Schadenstiftung und Stillegung der Produktion durch die
Industriellen bekannt. Selbst die ministerielle menschewistische „Rabo-
tschaja Gaseta“ hat diese Tatsachen zugegeben. Und was weiter? Man
hat rein gar nichts getan, außer daß man die alten, reaktionär-bürokra-
tischen Beratungen „auf Halbpart“ wieder aufzog, die zu gleichen Teilen
aus Arbeitern und aus den Räubern vom Kohlensyndikat bestehen! ! Kein
einziger revolutionär-demokratischer Schritt, nicht die Spur eines Ver-
suchs zur Errichtung der einzig realen Kontrolle, der Kontrolle von
unten, durch die Angestelltenverbände, durch die Arbeiter, mit Hilfe des
Terrors gegen die Zechenbarone, die das Land ins Verderben stürzen
und die Produktion stillegen! Wie sollte man auch, wir sind ja „alle“ für
die „Koalition“, wenn nicht mit den Kadetten, so mit den Handels- und
Industriekreisen, und Koalition heißt eben, den Kapitalisten die Macht
belassen, sie ungestraft gewähren lassen, ihnen gestatten, die Produktion
zu hemmen, alles auf die Arbeiter zu schieben, die Zerrüttung zu ver-
stärken und auf diese Weise einen neuen Komilowputsch vorzubereiten!
AUFHEBUNG DES GESCHÄFTSGEHEIMNISSES
Ohne Aufhebung des Geschäftsgeheimnisses bleibt die Kontrolle über
Produktion und Verteilung entweder ein leeres Versprechen, das zu
nichts anderem dient, als daß die Kadetten die Sozialrevolutionäre und
Menschewiki übers Ohr hauen und diese wiederum die werktätigen
Klassen, oder die Kontrolle kann nur mit reaktionär-bürokratischen Mit-
teln und Maßnahmen durchgeführt werden. So offenkundig dies für
jeden unvoreingenommenen Menschen auch sein mag, so beharrlich die
348
W. I. Lenin
„Prawda“ auch für die Aufhebung des Geschäftsgeheimnisses eingetreten
ist* (gerade das hat in hohem Maße dazu beigetragen, daß die „Prawda“
durch die dem Kapital Lakaiendienste leistende Kerenskiregierung ver-
boten wurde) - unsere republikanische Regierung ebenso wie die „recht-
mäßigen Organe der revolutionären Demokratie“ dachten gar nicht an
dieses erste Gebot einer wirklichen Kontrolle.
Gerade hier liegt der Schlüssel zu jeder Kontrolle. Gerade hier ist die
empfindlichste Stelle des Kapitals, das das Volk ausplündert und die
Produktion sabotiert. Das ist auch der Grund, warum die Sozialrevolu-
tionäre und Menschewiki an diesen Punkt nicht zu rühren wagen.
Das übliche Argument der Kapitalisten, das von den Kleinbürgern
gedankenlos wiederholt wird, besteht darin, daß die kapitalistische Wirt-
schaft die Aufhebung des Geschäftsgeheimnisses keinesfalls zulasse, da
das Privateigentum an den Produktionsmitteln und die Abhängigkeit
der einzelnen Betriebe vom Markt die „heilige Unantastbarkeit“ der Ge-
schäftsbücher und der Handelsumsätze, darunter natürlich auch der
Bankumsätze, notwendig mache.
Jeder, der in der einen oder anderen Form dieses Argument oder ähn-
liche wiederholt, läßt sich selbst täuschen und täuscht seinerseits das Volk,
denn er schließt die Augen vor zwei grundlegenden, äußerst wichtigen
und allgemein bekannten Tatsachen des modernen Wirtschaftslebens.
Die erste Tatsache ist das Bestehen des Großkapitalismus, d. h. der Be-
sonderheiten des Wirtschaftsoiganismus der Banken, Syndikate, Groß-
betriebe usw. Die zweite Tatsache ist der Krieg.
Gerade der moderne Großkapitalismus, der sich allenthalben in Mono-
polkapitalismus verwandelt, nimmt dem Geschäftsgeheimnis jede Spur
von vernünftigem Sinn und macht es zur Heuchelei, zu einem bloßen
Werkzeug, das nur dazu dient, die Finanzgaunereien und unerhörten
Profite des Großkapitals zu verheimlichen. Die kapitalistische Groß-
wirtschaft ist schon ihrer ganzen technischen Natur nach eine vergesell-
schaftete Wirtschaft, d. h., sie arbeitet für Millionen Menschen und ver-
einigt durch ihre Operationen, direkt und indirekt, Hunderte, Tausende,
ja Zehntausende von Familien. Das ist etwas ganz anderes als der Be-
trieb eines kleinen Handwerkers oder eines Mittelbauern, die gar keine
*s5ehe Werke, Bd. 24, S. 524/525. und den vorliegenden Band, S. 133-137.
Die Red.
Die drohende Katastrophe und nie man sie bekämpfen sott 349
Geschäftsbücher führen und deshalb von der Aufhebung des Geschäfts-
geheimnisses gar nicht betroffen werden !
In einem Großbetrieb sind die Operationen ohnehin Hunderten und
mehr Personen bekannt. Das Gesetz zum Schutz des Geschäftsgeheim-
nisses dient hier nicht den Bedürfnissen der Produktion oder des Aus-
tauschs, sondern der Spekulation und der Profitsucht in ihrer gröbsten
Form, der direkten Gaunerei, die sich bekanntlich in Aktiengesellschaften
besonders breitmacht und besonders geschickt durch Abrechnungen und
Bilanzen verschleiert wird, die eigens so zusammengestellt werden, daß
die Öffentlichkeit betrogen wird.
Wenn das Geschäftsgeheimnis in der kleinen Warenwirtschaft unver-
meidlich ist, d. h. bei den Kleinbauern und Handwerkern, wo die Pro-
duktion selbst nicht vergesellschaftet, sondern zerstreut, zersplittert ist,
so bedeutet der Schutz dieses Geheimnisses im kapitalistischen Groß-
betrieb nur Schutz der Privilegien und Profite buchstäblich einer Hand-
voll Leute gegen das ganze Volk. Selbst das Gesetz erkennt das bereits
insofern an, als es den Aktiengesellschaften die Veröffentlichung der Ab-
rechnungen vorschreibt; aber diese - in allen fortgeschrittenen Ländern
und auch in Rußland bereits eingeführte - Kontrolle ist eben eine reak-
tionär-bürokratische Kontrolle, die dem Volke nicht die Augen öffnet
und ihm nicht die Möglichkeit gibt, die ganze Wahrheit über die Mani-
pulationen der Aktiengesellschaften zu erfahren.
Um revolutionär-demokratisch zu handeln, müßte man sofort ein
anderes Gesetz erlassen, das das Geschäftsgeheimnis aufhebt, von den
Großbetrieben und den Reichen wirklich vollständige Abrechnungen for-
dert und jeder beliebigen Gruppe von Bürgern, die eine zahlenmäßig
solide demokratische Stärke erreicht hat (sagen wir 1000 oder 10000
Wähler), das Recht einräumt, sämtliche Dokumente eines beliebigen
Großbetriebs zu überprüfen. Eine solche Maßnahme ist ohne weiteres
leicht durch ein einfaches Dekret durchzuführen; einzig und allein solch
eine Maßnahme würde die Initiative des Volkes bei der Kontrolle durch
die Angestelltenverbände und durch die Arbeiterverbände, durch alle
politischen Parteien zur Entfaltung bringen, nur sie allein würde eine
ernsthafte und demokratische Kontrolle gewährleisten.
Hinzu kommt noch der Krieg. Die ungeheure Mehrzahl der Han-
dels- und Industrieunternehmen arbeitet jetzt nicht für den „freien
350
W.I. Lenin
Markt“, sondern für den Staat, für den Krieg. Ich habe daher schon in
der „Prawda“ ausgeführt, daß diejenigen doppelt und dreifach lügen,
die uns das Argument entgegenhalten, es sei unmöglich, den Sozialismus
einzuführen, denn es handelt sich nicht darum, jetzt unmittelbar, von
heute auf morgen den Sozialismus einzuführen, sondern darum, aufzu-
decken, mie die Staatskasse geplündert wird*
Die kapitalistische „Kriegswirtschaft (d. h. die Wirtschaft, die direkt
oder indirekt mit den Kriegslieferungen zu tun hat) ist ein systemati-
sches, durch Gesetz legalisiertes Plündern der Staatskasse, und die Her-
ren Kadetten zusammen mit den Menschewiki und Sozialrevolutionären,
die sich der Aufhebung des Geschäftsgeheimnisses widersetzen, sind
nichts anderes als Helfershelfer und Hehler beim Plündern der Staats-
kasse.
Der Krieg kostet Rußland jetzt 50 Millionen Rubel täglich. Diese
50 Millionen Rubel täglich wandern größtenteils in die Taschen der
Kriegslieferanten. Von diesen 50 Millionen bilden mindestens 5 Millio-
nen täglich, wahrscheinlich sogar 10 Millionen und noch mehr, die
„legalen Nebeneinkünfte“ der Kapitalisten und der mit ihnen - in dieser
oder jener Weise - unter einer Decke stechenden Beamten. Besonders die
großen Firmen und die Banken, die für die Manipulationen mit Kriegslie-
ferungen Geld vorschießen, bereichern sich an diesem Geschäft durch un-
erhörte Profite, bereichern sich gerade dadurch, daß sie die Staatskasse
plündern, denn anders kann man diese Prellerei und Schinderei des Vol-
kes „anläßlich“ der Kriegsnot, „anläßlich“ der Vernichtung von Hun-
derttausenden und Millionen Menschen nicht nennen.
Von diesen skandalösen Profiten an den Kriegslieferungen, von den
„Garantiebriefen“, die von den Banken verheimlicht werden, davon, wer
sich durch die zunehmende Teuerung bereichert, wissen „alle“, davon
spricht man schmunzelnd in der „Gesellschaft“, darüber gibt es nicht
wenig einzelne genaue Hinweise sogar in der bürgerlichen Presse, die
in der Regel „peinliche“ Tatsachen verschweigt und „heikle“ Fragen
umgeht. Alle wissen es - und alle schweigen, alle dulden es, alle finden
sich mit dieser Regierung ab, die schöne Reden über „Kontrolle“ und
„Regulierung“ hält!!
* Siehe den vorliegenden Band, S. 57-59. Die Red.
Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen sott 351
Revolutionäre Demokraten, wenn sie wirkliche Revolutionäre und
Demokraten wären, hätten sofort ein Gesetz erlassen, das das Geschäfts-
geheimnis aufhebt, das die Heereslieferanten und Kaufleute zu ge-
nauer Rechenschaftslegung verpflichtet, das ihnen verbietet, ihre Ge-
schäfte ohne Erlaubnis der Behörden aufzugeben, ein Gesetz, das Ver-
mögenseinzug und Erschießung* für die Verheimlichung von Einkünften
und für Betrug am Volke einführt und dafür sorgt, daß eine Überprü-
fung und Kontrolle von unten, demokratisch, durch das Volk selbst,
durch die Verbände der Angestellten, der Arbeiter, der Konsumenten
usw., stattfindet.
Unsere Sozialrevolutionäre und Menschewiki verdienen durchaus den
Namen verängstigte Demokraten, denn in dieser Frage wiederholen sie
das, was alle verängstigten Spießbürger sagen, nämlich daß die Kapita-
listen bei „zu harten“ Maßnahmen „davonliefen“, daß „wir“ ohne die
Kapitalisten nicht auskämen, daß wohl audi die englischen und franzö-
sischen Millionäre, die uns doch „unterstützen“, „gekränkt“ sein würden
und dergleichen mehr. Man könnte meinen, die Bolschewiki schlagen
etwas in der Geschichte der Menschheit noch nie Dagewesenes, nie Er-
probtes, „Utopisches" vor, während es doch schon vor 125 Jahren in
Frankreich Männer gab, die wirklich „revolutionäre Demokraten“
waren, die wirklich davon überzeugt waren, daß sie ihrerseits einen ge-
rechten Krieg, einen Verteidigungskrieg führen, die sich wirklich auf die
Volksmassen stützten, die diese Überzeugung aufrichtig teilten, Männer,
die es verstanden, eine revolutionäre Kontrolle über die Reichen einzu-
führen und Resultate zu erzielen, die die Bewunderung der ganzen Welt
hervorriefen. In den verflossenen 125 Jahren aber hat die Entwicklung
des Kapitalismus durch die Schaffung von Banken, Syndikaten, Eisenbah-
nen usw. usf. die Maßnahmen, die für eine wirklich demokratische Kon-
trolle durch die Arbeiter und Bauern über die Ausbeuter, die Gutsbesit-
* Ich hatte bereits Gelegenheit, in der bolschewistischen Presse darauf hinzu-
weisen, daß als triftiges Argument gegen die Todesstrafe nur gelten kann, daß sie
von den Ausbeutern im Interesse der Erhaltung der Ausbeutung gegen die Massen
der Werktätigen angewandt wird. (Siehe den vorliegenden Band, S. 267-270. Die
Red.) Ohne die Todesstrafe gegen die Ausbeuter (d. h. die Gutsbesitzer und Kapi-
talisten) wird eine wie immer geartete revolutionäre Regierung wohl kaum aus-
kommen können.
352 W. I. Lenin
zer und Kapitalisten notwendig sind, hundertfach erleichtert und verein-
facht.
Im Grunde genommen läuft die ganze Frage der Kontrolle darauf hin-
aus, wer wen kontrolliert, d. h. welche Klasse die kontrollierende und
welche die kontrollierte ist. Bei uns, im republikanischen Rußland, wird
bisher, unter Beteiligung der „rechtmäßigen Organe“ der quasirevolutio-
nären Demokratie, den Gutsbesitzern und Kapitalisten die Rolle der Kon-
trolleure zuerkannt und belassen. Die unausbleibliche Folge davon ist
das Marodieren der Kapitalisten, das die allgemeine Empörung des Vol-
kes hervorruft, und die Zerrüttung, die von den Kapitalisten künstlich
gefördert wird. Man muß entschieden und unwiderruflich, ohne sich, zu
fürchten, mit dem Alten brechen, ohne sich zu fürchten, kühn Neues auf-
bauen, zur Kontrolle über die Gutsbesitzer und Kapitalisten durch die
Arbeiter und Bauern übergehen. Das aber fürchten unsere Sozialrevolu-
tionäre und Menschewiki mehr als das Feuer.
DIE ZWANGSVEREINIGUNG IN VERBÄNDEN
Die Zwangssyndizierung, d. h. die Zwangsvereinigung in Verbänden,
z. B. der Industriellen, wurde bereits praktisch in Deutschland ange-
wandt. Auch das ist nichts Neues. Auch hier sehen wir, verschuldet durch
die Sozialrevolutionäre und Menschewiki, ein vollständiges Stagnieren
des republikanischen Rußlands, das diese wenig ehrenwerten Parteien
mit einer Quadrille „unterhalten“, die sie mit den Kadetten oder den
Bublikow oder mit Tereschtschenko und Kerenski tanzen.
Die Zwangssyndizierung ist einerseits eine Art Vorantreiben der kapi-
talistischen Entwicklung durch den Staat, die überall zur Organisierung
des Klassenkampfes, zur Erhöhung der Zahl, der Mannigfaltigkeit und
der Bedeutung der Verbände führt. Anderseits aber ist die zwangsweise
„Verbandsbildung“ die unerläßliche Vorbedingung für jede halbwegs
ernsthafte Kontrolle und jede Einsparung an Volksarbeit.
Das deutsche Gesetz verpflichtet zum Beispiel die Lederfabrikanten
einer bestimmten Gegend oder des ganzen Reiches, sich zu einem Ver-
band zusammenzuschließen, wobei zur Kontrolle ein Vertreter des Staa-
tes dem Vorstand dieses Verbandes angehört. Ein derartiges Gesetz
Die drohende Katastrophe und tote man sie bekämpfen soll 353
berührt unmittelbar, d. h. an und für sich, die Eigentumsverhältnisse nicht
im geringsten, es nimmt keinem einzigen Eigentümer auch nur eine
Kopeke, durch dieses Gesetz wird auch noch nicht darüber entschieden,
ob Form, Richtung und Geist der Kontrolle reaktionär-bürokratisch oder
revolutionär-demokratisch sein werden.
Derartige Gesetze könnte und sollte man auch bei uns sofort erlassen,
ohne auch nur eine Woche kostbarer Zeit zu verlieren, wobei man es
den gesellschaftlichen Umständen selbst überlassen
könnte, die konkreteren Formen der Durchführung des Gesetzes, das
Tempo seiner Durchführung, die Methoden zur Überwachung seiner
Durchführung usw. zu bestimmen. Der Staat braucht hier weder einen
besonderen Apparat noch besondere Forschungen oder irgendwelche vor-
hergehenden Untersuchungen, um ein solches Gesetz zu erlassen; not-
wendig ist nur die Entschlossenheit, sich über gewisse Privatinteressen
der Kapitalisten hinwegzusetzen, die eine solche Einmischung „nicht ge-
wohnt“ sind und die ihre Extraprofite nicht verlieren wollen, für deren
Sicherung außer dem Fehlen einer Kontrolle auch das Wirtschaften nach
alter Manier Gewähr bietet.
Man braucht keinerlei Apparat und keinerlei „Statistik“ (durch die
Tschemow die revolutionäre Initiative der Bauernschaft ersetzen wollte),
um ein solches Gesetz zu erlassen, denn seine Durchführung muß den
Fabrikanten oder Industriellen selbst, muß den vorhandenen gesellschaft-
lichen Kräften übertragen werden, unter der Kontrolle der ebenfalls
vorhandenen gesellschaftlichen (d. h. nicht der behördlichen, der büro-
kratischen) Kräfte, die jedoch unbedingt den sogenannten „niederen
Ständen“, d. h. den unterdrückten und ausgebeuteten Klassen, angehören
müssen, die sich in der Geschichte in bezug auf ihre Fähigkeit zu Herois-
mus, Selbstaufopferung und kameradschaftlicher Disziplin stets als uner-
meßlich höherstehend erwiesen haben als die Ausbeuter.
Angenommen, wir hätten eine wirklich revolutionär-demokratische
Regierung und sie würde beschließen: Alle Fabrikanten und Industriel-
len jedes Produktionszweiges sind verpflichtet, wenn sie, sagen wir, min-
destens zwei Arbeiter beschäftigen, sich sofort nach Kreisen und Gouver-
nements in Verbänden zu vereinigen. Die Verantwortung für die strikte
Durchführung des Gesetzes wird in erster Linie den Fabrikanten und
Direktoren, den Vorstandsmitgliedern und den Großaktionären auferlegt
Lenin. Werke. Bd. 25
354
W.l. Lenin
(denn sie alle sind die wirklichen Führer der modernen Industrie, ihre
tatsächlichen Herren). Wenn sie sich der Arbeit an der sofortigen Durch-
führung des Gesetzes entziehen, werden sie wie Leute behandelt, die
vom Militärdienst desertiert sind, und auch wie solche bestraft, werden
sie solidarisch, alle für einen und einer für alle, mit ihrem gesamten Ver-
mögen haftbar gemacht. Ferner wird die Verantwortung auch allen An-
gestellten, die gleichfalls verpflichtet sind, einen Verband zu bilden, sowie
allen Arbeitern und ihrer Gewerkschaft auf erlegt. Der Zweck der „Ver-
bandsbildung“ ist, eine vollständige, sehr strenge und genaue Rechen-
schaftslegung einzuführen, vor allem aber die Operationen beim Einkauf
der Rohstoffe und beim Absatz der Erzeugnisse zusammenzufassen und
Mittel sowie Kräfte des Volkes einzusparen. Diese Einsparungen durch
die Vereinigung der einzelnen Unternehmen zu einem Syndikat erreichen,
wie die ökonomische Wissenschaft lehrt und das Beispiel aller Syndikate,
Kartelle und Trusts zeigt, ein kolossales Ausmaß. Dabei muß noch ein-
mal wiederholt werden“, daß durch diese Vereinigung zu einem Syndikat
an den Eigentumsverhältnissen an und für sich kein Jota geändert und
keinem Eigentümer auch nur eine einzige Kopeke weggenommen wird.
Dieser Umstand muß besonders nachdrücklich hervorgehoben werden,
denn die bürgerliche Presse „schreckt“ die kleinen und mittleren Eigen-
tümer ständig damit, die Sozialisten überhaupt und die Bolschewiki im
besonderen wollten sie „expropriieren“: eine offenkundig erlogene Be-
hauptung, da die Sozialisten sogar bei einer vollen sozialistischen Umwäl-
zung die Kleinbauern weder expropriieren wollen noch können noch wer-
den. Wir sprechen die ganze Zeit nur von den nächsten und dringendsten
Maßnahmen, die in Westeuropa bereits durchgeführt worden sind und
die eine halbwegs konsequente Demokratie unverzüglich auch bei uns
durchführen müßte, um die drohende, unabwendbare Katastrophe zu
bekämpfen.
Ernste Schwierigkeiten, sowohl technischer wie kultureller Art, würde
die Vereinigung der kleinsten und kleinen Eigentümer in Verbänden
bereiten, und zwar wegen der außerordentlichen Zersplitterung ihrer
Betriebe und deren technischer Primitivität, wegen des Analphabeten-
tums oder der mangelnden Bildung der Besitzer. Doch gerade diese Be-
triebe könnten vom Gesetz ausgenommen werden (wie bereits oben in
dem von uns angenommenen Beispiel erwähnt), und ihre Nichtvereini-
Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll
355
gung, schon ganz abgesehen von ihrer verzögerten Vereinigung, könnte
kein ernstes Hindernis bilden, denn die Rolle, die die ungeheure Anzahl
der Kleinbetriebe in der Gesamtsumme der Produktion spielt, ihre Be-
deutung für die Volkswirtschaft als Ganzes ist versdimindend Hein, und
außerdem sind sie oft in der einen oder anderen Weise von den Groß-
betrieben abhängig.
Von entscheidender Bedeutung sind nur die Großbetriebe, und hier
sind die technischen und kulturellen Mittel und Kräfte zur „Verbands-
bildung“ vorhanden; es fehlt nur an der festen, entschlossenen, den Aus-
beutern gegenüber schonungslos harten Initiative der revolutionären
Staatsmacht, um diese Mittel und Kräfte in Bewegung zu setzen.
Je ärmer ein Land an technisch gebildeten und überhaupt an intellek-
tuellen Kräften ist, desto dringender ist die Notwendigkeit, möglichst
rasch und entschlossen die Zwangsvereinigung zu verfügen und mit ihrer
Durchführung bei den größten und Großbetrieben anzufangen, denn
gerade durch die Vereinigung werden intellektuelle Kräfte eingespart,
und es wird möglich, diese Kräfte voll und ganz auszunutzen und rich-
tiger zu verteilen. Wenn sogar die russische Bauernschaft in ihren welt-
verlorenen Dörfern unter der Zarenregierung - wo sie gegen Tausende
von dieser Regierung errichtete Hindernisse ankämpfen mußte - ver-
mocht hat, nach dem Jahre 1905 einen gewaltigen Schritt vorwärts zu
tun und Verbände aller Art zu schaffen, so könnte begreiflicherweise die
Vereinigung der großen und mittleren Industrie und des Handels in eini-
gen Monaten, wenn nicht noch schneller, durchgeführt werden, voraus-
gesetzt, daß in dieser Richtung Zwang ausgeübt wird von einer wirklich
revolutionär-demokratischen Regierung, die sich auf die Unterstützung,
die Beteiligung, die Interessiertheit und die Belange der „unteren Schich-
ten“, der Demokratie, der Angestellten und Arbeiter, stützt und diese
zur Kontrolle aufruft.
REGULIERUNG DES VERBRAUCHS
Der Krieg hat alle kriegführenden und viele neutrale Staaten gezwun-
gen, zur Regulierung des Verbrauchs überzugehen. Die Brotkarte er-
blickte das Licht der Welt, sie wurde zu einer gewohnten Erscheinung
356
und zog die Einführung anderer Lebensmittelkarten nach sich. Rußland
blieb nicht abseits und führte ebenfalls die Brotkarte ein.
Aber gerade an diesem Beispiel können wir wohl am anschaulichsten
die reaktionär-bürokratischen Methoden des Kampfes gegen die Kata-
strophe, die darauf angelegt sind, sich auf ein Minimum an Reformen
zu beschränken, mit den revolutionär-demokratischen Methoden verglei-
chen, die, um ihrem Namen gerecht zu werden, direkt die Aufabe haben
müssen, mit dem überlebten Alten gewaltsam zu brechen und die Vor-
wärtsbewegung möglichst zu beschleunigen.
Die Brotkarte, dieses typische Musterbeispiel der Regulierung des Ver-
brauchs in den modernen kapitalistischen Staaten, hat die Aufgabe und
erzielt (im besten Falle) das eine: die vorhandene Brotmenge so zu ver-
teilen, daß sie für alle reicht. Es wird ein Höchstverbrauch bei weitem
nicht für alle, sondern nur für die wichtigsten „volksüblichen“ Produkte
festgesetzt. Das ist alles. Um mehr kümmert man sich nicht. Bürokratisch
werden die vorhandenen Getreidevorräte berechnet und auf den Kopf
der Bevölkerung verteilt, es wird eine Norm festgesetzt und eingeführt,
und damit ist die Sache erledigt. Luxusgüter werden nicht angetastet,
denn es gibt „sowieso“ nur wenig davon, und sie sind „ohnehin“ so teuer,
daß sie für das „Volk“ unerschwinglich sind. Deshalb sehen wir in aus-
nahmslos allen kriegführenden Ländern, sogar in Deutschland - das man
wohl, ohne auf Widerspruch zu stoßen, als Musterbeispiel für eine über-
aus gründliche, pedantische und strenge Regulierung des Verbrauchs be-
zeichnen kann -, sogar in Deutschland sehen wir, daß alle wie immer ge-
arteten „Normen“ des Verbrauchs von den Reichen ständig umgangen
werden. Das wissen ebenfalls „alle“, darüber wird ebenfalls von „allen“
schmunzelnd gesprochen, und man kann in der deutschen sozialistischen
und mitunter sogar in der bürgerlichen Presse immer wieder, trotz des
Wütens der kasemenhofmäßig strengen deutschen Zensur, auf Notizen
und Meldungen stoßen, in denen von den „Menüs“ der Reichen und
auch von dem Weißbrot berichtet wird, das die Reichen in dem Bade-
ort Soundso in beliebigen Mengen erhalten (dorthin reisen als angeblich
Kranke alle . . ., die viel Geld haben), ferner davon, daß die Reichen die
©Machen volksüblichen Produkte durch auserlesene und seltene Luxus-
waren ersetzen.
Der reaktionäre kapitalistische Staat, der Angst hat, die Grundfesten
Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll 357
des Kapitalismus, die Grundfesten der Lohnsklaverei, die Grundfesten
der ökonomischen Herrschaft der Reichen könnten untergraben werden,
der Angst davor hat, die Aktivität der Arbeiter und überhaupt der
Werktätigen zu fördern, der Angst davor hat, ihre Ansprüche zu „ent-
fachen“ - ein solcher Staat braucht nichts weiter als die Brotkarte. Ein
solcher Staat läßt keinen Augenblick, bei keinem seiner Schritte das reak-
tionäre Ziel aus den Augen: den Kapitalismus zu festigen, seine Unter-
grabung zu verhindern, die „Regulierung des Wirtschaftslebens“ im all-
gemeinen und die Regulierung des Verbrauchs im besonderen nur auf
solche Maßnahmen zu beschränken, die unbedingt notwendig sind, um
das Volk eben zu erhalten, ohne auch nur im entferntesten danach zu
trachten, eine wirkliche Regulierung des Verbrauchs im Sinne der Kon-
trolle über die Reichen einzuführen, in dem Sinne nämlich, daß diesen
in Friedenszeiten Bessersituierten, Privilegierten, Satten und Übersättig-
ten während des Krieges größere Lasten auferlegt würden.
Die reaktionär-bürokratische Lösung der Aufgabe, die den Völkern
durch den Krieg gestellt worden ist, beschränkt sich auf die Brotkarte,
auf die gleichmäßige Verteilung der für die Ernährung des „Volkes“
absolut notwendigen Produkte, ohne auch nur um Haaresbreite vom
Bürokratismus und vom reaktionären Geist abzuweichen, nämlich von
dem Ziel: keinesfalls die Aktivität der Armen, des Proletariats, der
Masse des Volkes (des „Demos“) zu fördern, keinesfalls eine Kontrolle
ihrerseits über die Reichen zuzulassen und möglichst viele Hintertürchen
offenzulassen, damit die Reichen sich durch Luxusgüter schadlos halten
können. In allen Ländern, sogar, wir wiederholen es, in Deutschland
- von Rußland schon gar nicht zu reden -, sind eine Unmenge Hinter-
türchen offengelassen worden, hungert das „einfache Volk“, während
die Reichen in Badeorte reisen und die kärgliche staatliche Ration durch
allerlei „Zulagen“ von anderswo ergänzen und nicht zulassen, daß man
sie kontrolliert.
In Rußland, das eben erst die Revolution gegen den Zarismus im
Namen der Freiheit und Gleichheit vollbracht hat, in Rußland, das mit
einem Schlag seinen bestehenden politischen Institutionen nach eine
demokratische Republik geworden ist, fällt die allen sichtbare Leichtig-
keit, mit der die Reichen die „Brotkarten“ umgehen, dem Volke beson-
ders auf und ruft ganz besondere Unzufriedenheit, Erregung, Erbitte-
358
W. I. Lenin
rang und Empörung unter den Massen hervor. Es ist das außerordentlich
leicht. „Unter der Hand“ und zu ungemein hohen Preisen, besonders
„bei Beziehungen“ (die haben nur die Reichen), ist alles und in
großen Mengen zu bekommen. Das Volk aber hungert. Die Regulierung
des Verbrauchs ist auf den engsten, bürokratisch-reaktionären Rahmen
beschränkt. Die Regierung macht sich nicht im mindesten Gedanken, ist
nicht im geringsten bemüht, diese Regulierung auf einer wirklich revo-
lutionär-demokratischen Grundlage zu organisieren.
Unter dem Schlangestehen leiden „alle“, aber . . . aber die Reichen
schicken ihre Dienstboten zum Schlangestehen und stellen dafür sogar
besondere Dienstboten an! Da habt ihr den „Demokratismus“ !
Eine revolutionär-demokratische Politik würde sich in Zeiten, da das
Land unerhörte Leiden durchmacht, nicht mit Brotkarten begnügen, um
die herannahende Katastrophe zu bekämpfen, sondern würde darüber
hinaus erstens die Zwangsvereinigung der gesamten Bevölkerung in
Konsumgenossenschaften herbeiführen, denn ohne eine solche Vereini-
gung kann die Kontrolle des Verbrauchs nicht lückenlos durchgeführt
werden; sie würde zweitens die Arbeitspflicht für die Reichen einführen
und die Reichen, ohne sie zu entlohnen, in den Konsumgenossenschaften
mit Sekretärarbeiten oder anderen, ähnlichen Arbeiten beschäftigen;
drittens würde sie für eine gleichmäßige Verteilung wirklich aller Ver-
brauchsgüter unter der Bevölkerung sorgen, damit die Lasten des Krieges
tatsächlich gleichmäßig verteilt werden; viertens würde sie die Kontrolle
so organisieren, daß die armen Klassen der Bevölkerung den Verbrauch
der Reichen kontrollieren.
Auf diesem Gebiet wirklichen Demokratismus durchzusetzen und bei
der Organisierung der Kontrolle gerade durch die am meisten darben-
den Klassen des Volkes auf wirklich revolutionäre Weise vorzugehen,
das wäre der denkbar größte Ansporn zur Anspannung aller vorhande-
nen intellektuellen Kräfte, zur Entfachung der wirklich revolutionären
Energie des ganzen Volkes. Jetzt gebrauchen zwar die Minister des repu-
blikanischen und revolutionär-demokratischen Rußlands, genauso wie
ihre Kollegen in allen übrigen imperialistischen Ländern, hochtrabende
Worte über „gemeinsame Arbeit zum Wohle des Volkes“, über „An-
spannung aller Kräfte“, doch sieht, spürt und empfindet gerade das Volk
das Heuchlerische dieser Worte.
Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll 359
So ergibt es sich, daß man nicht vom Fledc kommt, daß der Zerfall
unaufhaltsam vorwärtsschreitet, daß die Katastrophe herannaht, denn ein
Militärzuchthaus für die Arbeiter ä la Komilow, ä la Hindenburg, nach
allgemeinem imperialistischem Muster kann unsere Regierung nicht ein-
führen - noch sind die Traditionen und Erinnerungen, die Spuren, die
Gewohnheiten und die Einrichtungen der Revolution im Volke zu leben-
dig; wirklich ernsthafte Schritte auf dem revolutionär-demokratischen
Wege jedoch will unsere Regierung nicht unternehmen, denn sie ist
ganz und gar, von oben bis unten, in das Abhängigkeitsverhältnis zur
Bourgeoisie verstrickt, in die „Koalition“ mit ihr. sie hat Angst, die tat-
sächlichen Privilegien der Bourgeoisie anzutasten.
DIE REGIERUNG VEREITELT DIE ARBEIT
DER DEMOKRATISCHEN ORGANISATIONEN
Wir haben die verschiedenen Mittel und Methoden des Kampfes gegen
die Katastrophe und den Hunger untersucht. Wir haben überall die Un-
überbrückbarkeit des Gegensatzes zwischen der Demokratie einerseits
und der Regierung samt dem sie stützenden Blöde der Sozialrevolutio-
näre und Menschewiki anderseits gesehen. Um zu beweisen, daß diese
Gegensätze in Wirklichkeit und nicht nur in unserer Darstellung existie-
ren und daß sich ihre Un&berbrückbarkeit tatsädilidi in Konflikten
äußert, die für das ganze Volk Bedeutung haben, dazu genügt es, an zwei
besonders typische „Ergebnisse“ und Lehren der halbjährigen Geschichte
unserer Revolution zu erinnern.
Die eine Lehre ist die Geschichte der „Herrschaft“ Paltsdxinskis, die
andere die Geschichte der „Herrschaft“ und des Sturzes Peschechonows.
Im Grunde genommen laufen die oben geschilderten Maßnahmen zur
Bekämpfung der Katastrophe und des Hungers auf eine allseitige (bis
zum Zwang gehende) Förderung des Zusammenschlusses der Bevölke-
rung in Verbänden hinaus, in erster Linie der Demokratie, d. h. der
Mehrheit der Bevölkerung, vor allem also der unterdrückten Klassen, der
Arbeiter und der Bauern, besonders der armen. Und diesen Weg hat die
Bevölkerung selbst ganz spontan beschritten, um gegen die unerhörten
Schwierigkeiten, Lasten und Drangsale des Krieges zu kämpfen.
360
W. I. Lenin
Der Zarismus hatte auf jede erdenkliche Art den selbständigen und
freien Zusammenschluß der Bevölkerung in Verbänden behindert. Doch
nach dem Sturz der Zarenmonarchie begannen in ganz Rußland demo-
kratische Organisationen zu entstehen und rasch zu wachsen. Aus eige-
nem Antrieb der Bevölkerung gebildete demokratische Organisationen,
Versorgungskomitees aller Art, Emährungskomitees, Konferenzen über
Brennstoffprobleme und so weiter und dergleichen mehr nahmen den
Kampf gegen die Katastrophe auf.
Nun besteht das Bemerkenswerteste an der ganzen halbjährigen Ge-
schichte unserer Revolution in der vorliegenden Frage darin, daß die
Regierung, die sich republikanisch und revolutionär nennt, die Regie-
rung, die von den Menschewiki und Sozialrevolutionären im Namen der
„bevollmächtigten Organe der revolutionären Demokratie“ unterstützt
wird, daß diese Regierung gegen die demokratischen Organisationen
gekämpft und sieniedergekämpft hat II
Paltsdiinski hat es durch diesen Kampf zu einer sehr traurigen und
in ganz Rußland bekannt gewordenen Berühmtheit gebracht. Er ver-
steckte sich bei seinen Handlungen hinter dem Rücken der Regierung,
trat nicht offen vor das Volk hin (genauso wie die Kadetten im allge-
meinen, die es vorzogen, „fürs Volk“ Zereteli in den Vordergrund zu
schieben, alle wichtigen Geschäfte aber im stillen selbst erledigten). Pal-
tschinski hemmte und sabotierte jede ernsthafte Maßnahme der von der
Bevölkerung gebildeten demokratischen Organisationen, denn keine ein-
zige ernsthafte Maßnahme konnte durchgeführt werden, ohne dabei den
maßlosen Profiten und der Willkür der Kit Kitytsch „Abbruch zu tun“.
Paltschinski aber waf gerade ein treuer Anwalt und Diener der Kit
Kitytsch, Es kam so weit - und diese Tatsache wurde in der Presse be-
kanntgegeben daß Paltschinski direkt die Anordnungen dieser demo-
kratischen Organisationen auf hob U
Die ganze Geschichte der „Herrschaft“ Paltsdiinskis - er „herrschte**
viele Monate lang und gerade zu der Zeit, als Zereteli, Skobelew und
Tsdiemow „Minister“ waren - ist ein einziger, unerhörter Skandal, ein
Hintertreiben des Volkswillens und der Beschlüsse der Demokratie, zu
Nutz und Frommen der Kapitalisten, um der schmutzigen Gewinnsucht
der Kapitalisten willen. Die Zeitungen konnten natürlich nur einen ver-
schwindend kleinen Teil der „Heldentaten“ Paltsdiinskis bekanntgeben;
Die drohende Katastrophe und toie man sie bekämpfen soü 361
die volle Untersuchung der Art, wie er den Kampf gegen den Hunger
behinderte, wird nur eine wahrhaft demokratische Regierung, die Regie-
rung des Proletariats vornehmen können, wenn dieses die Macht erobert
hat und den Fall Paltschinski und seinesgleichen, ohne etwas zu ver-
heimlichen, dem Gericht des Volkes unterbreiten wird.
Man wird vielleicht einwenden, daß Paltschinski doch eine Ausnahme
gewesen sei und daß man ihn ja entfernt habe . . . Aber das ist es ja
eben, daß Paltschinski keine Ausnahme, sondern die Regel ist, daß sich
durch die Entfernung Paltschinskis nichts gebessert hat, daß an seine
Stelle ebensolche Paltschinski mit anderen Namen getreten sind, daß
der ganze „ Einfluß “ der Kapitalisten, die ganze Politik der Hintertreibung
des Kampfes gegen die Hungersnot zu ihrem Nutz und Frommen un-
angetastet geblieben ist. Denn Kerenski und Co. sind nur eine Kulisse
zum Schutze der Interessen der Kapitalisten.
Der anschaulichste Beweis dafür ist das Ausscheiden Peschedionows,
des Emährungsministers, aus dem Kabinett. Wie bekannt, ist Pesdie-
chonow ein sehr, sehr gemäßigter Volkstümler. Doch wollte er bei der
Organisierung des Ernährungswesens gewissenhaft und in Verbindung
mit den demokratischen Organisationen arbeiten, wollte sich auf diese
stützen. Um so interessanter ist die Erfahrung aus der Tätigkeit Pesche-
dionows sowie sein Rücktritt und die Tatsache, daß dieser äußerst ge-
mäßigte Volkstümler, Mitglied der Partei der „Volkssozialisten“, der zu
jedem Kompromiß mit der Bourgeoisie bereit war, sich dennoch zum
Rücktritt gezwungen sah ! Denn die Kerenskiregierung hat zum Nutzen
der Kapitalisten, Gutsbesitzer und Kulaken die Festpreise für Getreide
erhöht I!
Folgendermaßen schildert M. Smit in der Zeitung „Swobodnaja
Shisn“ 88 Nr. 1 vom 2. September diesen „Schritt“ und seine Bedeutung:
„Einige Tage, bevor die Regierung die Erhöhung der Festpreise beschloß, spielte
sich im Staatlichen Ernährungskomitee folgende Szene ab: Der Vertreter der Rech-
ten, Rolowitsch, ein zäher Verteidiger der Interessen des Privathandels und ein
verbissener Feind des Getreidemonopols und der staatlichen Einmischung in das
Wirtschaftsleben, erklärte mit selbstgefälligem Lächeln vor allen Anwesen-
den, daß nach seinen Informationen die Festpreise für Getreide bald erhöht
würden.
Der Vertreter des Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten erwiderte dar-
362
W. I. Lenin
auf, daß ihm etwas Derartiges nidit bekannt sei. daß eine solche Maßnahme
keinesfalls durchgeführt werden könne, solange in Rußland die Revolution
andauert, und daß die Regierung jedenfalls nidit zu einer solchen Maßnahme
greifen könne, ohne sich vorher mit den rechtmäßigen Organen der Demokratie,
dem Wirtschaftsrat und dem Staatlichen Ernährungskomitee, beraten zu haben.
Dieser Erklärung schloß sich auch der Vertreter des Sowjets der Bauemdepu-
Aber ach! Die Wirklichkeit korrigierte diese Kontroverse überaus grausam:
Recht behielten nicht die Vertreter der Demokratie, sondern recht behielt der
Vertreter der Zensuselemente. Er war ausgezeichnet unterrichtet über den An-
schlag. der auf die Rechte der Demokratie vorbereitet wurde, obwohl deren
Vertreter die bloße Möglichkeit eines solchen Anschlags mit Entrüstung zurück-
wiesen.“
Sowohl der Vertreter der Arbeiter als auch der Vertreter der Bauern-
schaft bringen also in unzweideutiger Weise ihre Meinung im Namen
der gewaltigen Mehrheit des Volkes zum Ausdruck, die Kerenskiregie-
rung aber handelt umgekehrt, im Interesse der Kapitalisten!
Rolowitsch, der Vertreter der Kapitalisten, war hinter dem Rücken
der Demokratie glänzend unterrichtet - genauso wie wir stets beobach-
ten konnten und auch jetzt beobachten, daß die bürgerlichen Zeitungen,
die „Retsch“ und die „Birshowka“, aufs beste darüber unterrichtet sind,
was in der Kerenskiregierung vor sich geht.
Worauf weist diese ausgezeichnete Informiertheit hin? Selbstverständ-
lich auf die Tatsache, daß die Kapitalisten ihre eigenen „Hintertürchen“
haben und faktisdi die Macht in ihren Händen halten. Kerenski ist der
Strohmann, den sie dann und dort vorschieben, wann und wo sie das für
nötig halten. Die Interessen von Dutzenden Millionen Arbeitern und
Bauern werden den Profiten einer Handvoll Geldsäcke geopfert.
Wie antworten nun unsere Sozialrevolutionäre und Menschewiki auf
diese empörende Verhöhnung des Volkes? Haben sie sich vielleicht mit
einem Aufruf an die Arbeiter und Bauern gewandt, daß Kerenski und
seine Kollegen nach alledem nur noch ins Gefängnis gehören?
Gott bewahre! Die Sozialrevolutionäre und Menschewiki, in Gestalt
der in ihren Händen befindlichen „Ökonomischen Abteilung“, haben sich
darauf beschränkt, eine drohende Resolution anzunehmen, die wir be-
reits erwähnt haben ! In dieser Resolution erklären sie, daß die Erhöhung
der Getreidepreise durch die Kerenskiregierung „eine v erhängnis-
Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll
363
volle Maßnahme ist, die sowohl dem Emährungswesen wie auch dem
ganzen Wirtschaftsleben des Landes einen überaus schweren
Schlag versetzt“, und daß diese verhängnisvolle Maßnahme unter
direkter „V erletzung" des Gesetzes durchgeführt wurde! I
Das sind die Resultate der Politik des Paktierens, der Politik des Lieb-
äugelns mit Kerenski und des Bestrebens, ihn zu „schonen“ !
Die Regierung verletzt das Gesetz, indem sie zu Nutz und Frommen
der Reichen, der Gutsbesitzer und Kapitalisten, eine Maßnahme trifft,
die sich auf die ganze Kontrolle, das Emährungswesen und die Sanie-
rung der aufs äußerste zerrütteten Finanzen verhängnisvoll ausmirkt -
und die Sozialrevolutionäre und Menschewiki fahren fort, von Verstän-
digung mit den Handels- und Industriekreisen zu sprechen, fahren fort,
an den Beratungen mit Tereschtschenko teilzunehmen und Kerenski zu
schonen, sie begnügen sich mit einer papiemen Protestresolution, die von
der Regierung seelenruhig zu den Akten gelegt wird! !
Gerade hier offenbart sich besonders anschaulich die Wahrheit, daß
die Sozialrevolutionäre und Menschewiki das Volk und die Revolution
verraten haben und daß zum wirklichen Führer der Massen, sogar der
Sozialrevolutionären und menschewistischen Massen, die Bolschewiki
werden.
Denn einzig und allein, wenn das Proletariat, an seiner Spitze die
Partei der Bolschewiki, die Macht erobert, könnte dem skandalösen Trei-
ben der Kerenski und Co. ein Ende gesetzt und die Arbeit der demokra-
tischen Organisationen für Ernährung, Versorgung usw., die von Kerenski
und seiner Regierang vereitelt wird, wieder in Gang gebracht
werden.
Die Bolschewiki - das angeführte Beispiel zeigt es mit aller Deutlich-
keit - handeln als Vertreter der Interessen des gesamten Volkes, handeln
im Interesse der Sicherung von Ernährung und Versorgung und der
Befriedigung der dringendsten Bedürfnisse der Arbeiter und Bauern ent-
gegen der schwankenden, unentschlossenen, wahrhaft verräterischen
Politik der Sozialrevolutionäre und Menschewiki, die dem Land solche
Schmach einbrachte wie die Erhöhung der Getreidepreise!
364
W. I. Lenin
DER FINANZIELLE ZUSAMMENBRUCH
UND DIE MASSNAHMEN DAGEGEN
Die Erhöhung der Festpreise für Getreide hat noch eine andere Seite.
Diese Erhöhung bedeutet eine weitere chaotisch zunehmende Emission
von Papiergeld, einen weiteren Schritt im Prozeß der zunehmenden
Teuerung, eine verschärfte Zerrüttung der Finanzen und ein Näher-
rüdcen des finanziellen Zusammenbruchs. Alle geben zu, daß die erhöhte
Emission von Papiergeld die schlimmste Form einer Zwangsanleihe ist,
daß sie die Lage vor allem gerade der Arbeiter, des ärmsten Teils der
Bevölkerung, verschlechtert, daß sie das Hauptübel unter den Mißständen
im Finanzwesen ist.
Und gerade zu dieser Maßnahme greift die von den Sozialrevolutio-
nären und Menschewiki gestützte Kerenskiregierung 1
Zur ernsthaften Bekämpfung der finanziellen Zerrüttung und des un-
vermeidlichen finanziellen Zusammenbruchs gibt es keinen andern Weg
als den revolutionären Bruch mit den Interessen des Kapitals und die
Organisierung einer wirklich demokratischen Kontrolle, d. h. einer Kon-
trolle .von unten“, einer Kontrolle der Arbeiter und armen Bauern über
die Kapitalisten - gibt es nur den Weg, von dem in unserer ganzen bis-
herigen Darlegung die Rede ist.
Die unbegrenzte Emission von Papiergeld begünstigt die Spekulation,
ermöglicht es den Kapitalisten, an Spekulationen Millionen zu verdienen
und stellt der so notwendigen Erweiterung der Produktion die größten
Schwierigkeiten in den Weg, denn die Verteuerung der Rohstoffe, der
Maschinen usw. nimmt zu, nimmt sprunghaft zu. Wie kann man Abhilfe
schaffen, wenn die durch Spekulation erworbenen Vermögen der Reichen
verheimlicht werden?
Man kann eine Einkommensteuer mit progressiv steigenden und für
die großen und größten Einkommen sehr hohen Sätzen einführen. Unsere
Regierung hat, den anderen imperialistischen Regierungen folgend, diese
Steuer eingeführt. Aber sie bleibt in bedeutendem Maße eine Fiktion,
bleibt toter Buchstabe, denn erstens sinkt der Wert des Geldes immer
rascher, und zweitens werden um so mehr Einkünfte verheimlicht, je
mehr die Spekulation die Quelle dieser Einkünfte bildet und je zuver-
lässiger das Geschäftsgeheimnis gehütet wird.
Damit diese Steuer wirksam wird und nicht fiktiv bleibt, ist eine wirk-
liche, nicht nur auf dem Papier stehende Kontrolle notwendig. Die Kon-
trolle über die Kapitalisten ist aber unmöglich, wenn sie bürokratisch
bleibt, denn die Bürokratie ist selbst durch tausend Fäden mit der Bour-
geoisie verbunden und verflochten. Deshalb wird in den westeuropäischen
imperialistischen Staaten, gleichviel, ob es Monarchien oder Republiken
sind, die Regelung der Finanzen nur dadurch erreicht, daß eine „Arbeits-
dienstpflicht“ eingeführt wird, die den Arbeitern ein Militärzuchthaus
oder die Militär Sklaverei bringt.
Die reaktionär-bürokratische Kontrolle - das ist das einzige Mittel,
das die imperialistischen Staaten kennen, die demokratischen Republiken,
Frankreich und Amerika, nicht ausgenommen, um die Lasten des Krieges
auf das Proletariat und die werktätigen Massen abzuwälzen.
Der grundlegende Widerspruch unserer Regierungspolitik besteht ge-
rade darin, daß man - um sich mit der Bourgeoisie nicht zu Überwerfen,
um die „Koalition“ mit ihr nicht in die Brüche gehen zu lassen - eine
reaktionär-bürokratische Kontrolle durchführen muß, sie aber „revolutio-
när-demokratische“ Kontrolle nennt, das Volk auf Schritt und Tritt be-
trügt und die Massen, die eben erst den Zarismus gestürzt haben, ver-
ärgert und erbittert.
Indes würden eben nur revolutionär-demokratische Maßnahmen
- durch die gerade die unterdrückten Klassen, die Arbeiter und Bauern,
gerade die Massen in Verbänden zusammengeschlossen werden - die
Möglichkeit geben, eine äußerst wirksame Kontrolle über die Reichen
einzurichten und erfolgreich den Kampf gegen die Verheimlichung der
Einkünfte zu führen.
Man bemüht sich, den Scheckverkehr zu fördern, um dadurch der
überhöhten Emission von Papiergeld zu steuern. Für die Armen hat diese
Maßnahme keine Bedeutung, denn die Armen leben sowieso von der
Hand in den Mund, der „wirtschaftliche Kreislauf“ vollendet sich bei
ihnen sowieso jede Woche, jede Woche geben sie den Kapitalisten ihre
kargen, schwer verdienten Groschen zurück. Für die Reichen könnte der
Scheckverkehr von größter Bedeutung sein, er würde dem Staat, beson-
ders in Verbindung mit Maßnahmen wie der Nationalisierung der Ban-
ken und der Aufhebung des Geschäftsgeheimnisses, die Möglichkeit
geben, die Einkünfte der Kapitalisten wirklich zu kontrollieren, ihnen
366
wirklich Steuern aufzuerlegen, das Finanzsystem wirklich zu „demokra-
tisieren“ (und es zugleich auch in Ordnung zu bringen).
Aber das Hindernis besteht hier eben in der Angst, die Privilegien
der Bourgeoisie anzutasten, die „Koalition“ mit ihr zu sprengen. Denn
ohne wahrhaft revolutionäre Maßnahmen, ohne ernstlichen Zwang wer-
den sich die Kapitalisten keiner Kontrolle unterwerfen, werden sie ihre
Budgets nicht bekanntgeben und ihr vorrätiges Papiergeld dem demokra-
tischen Staat nicht „auf Verrechnung“ überlassen.
Die in Verbänden zusammengeschlossenen Arbeiter und Bauern könn-
ten dadurch, daß sie die Banken nationalisieren, daß sie für alle Reichen
einen gesetzlich vorgeschriebenen Scheckverkehr einführen, daß sie das
Geschäftsgeheimnis aufheben und die Verheimlichung von Einkünften
mit der Beschlagnahme des Vermögens ahnden u. dgl. m., außerordent-
lich leicht die Kontrolle wirksam und universal gestalten, sie zu einer
Kontrolle eben über die Reichen machen, zu einer Kontrolle, die bewirkt,
daß das von der Staatskasse ausgegebene Papiergeld wieder in diese
zurückfließt, und zwar aus den Händen derer, die es haben, derer, die es
verstecken.
Dazu ist die revolutionäre Diktatur der Demokratie notwendig, an
deren Spitze das revolutionäre Proletariat steht, d. h., dazu muß die
Demokratie in der Tat revolutionär werden. Das ist der ganze Kern der
Sache. Das ehen wollen unsere Sozialrevolutionäre und Menschewiki
nicht, die das Volk unter der Flagge der „revolutionären Demokratie“
betrügen und in Wirklichkeit die reaktionär-bürokratische Politik der
Bourgeoisie unterstützen, die sich, wie stets, von dem Grundsatz leiten
läßt: „apres nous le deluge“ - nach uns die Sintflut!
Wir merken gewöhnlich nicht einmal, wie tief sich in uns die antidemo-
kratischen Gewohnheiten und Vorurteile hinsichtlich der „Heiligkeit“ des
bürgerlichen Eigentums eingefressen haben. Wenn ein Ingenieur oder
ein Bankier die Einnahmen und Ausgaben eines Arbeiters, Angaben über
dessen Verdienst und über dessen Arbeitsproduktivität veröffentlicht, so
wird das für höchst gesetzlich und gerecht gehalten. Keinem Menschen
fällt es ein, darin einen Eingriff in das „Privatleben“ des Arbeiters, eine
„Spitzelei oder Denunziaton“ durch den Ingenieur zu erblicken. Die
Arbeit und den Verdienst der Lohnarbeiter betrachtet die bürgerliche
Gesellschaft als ihr offenes Buch, in das jeder Bourgeois jederzeit berech-
Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll 367
tigt ist, Einsicht zu nehmen, um irgendeinen „Luxus“ des Arbeiters, seine
angebliche „Faulheit“ usw. zu enthüllen.
Nun, und die umgekehrte Kontrolle? Wie wäre es, wenn der demo-
kratische Staat die Gewerkschaften der Angestellten, der Kontoristen,
der Dienstboten aufforderte, die Einnahmen und Ausgaben der Kapita-
listen zu überprüfen, Angaben darüber zu veröffentlichen, die Regierung
im Kampf gegen die Verheimlichung der Einkünfte zu unterstützen?
Welch ein wildes Geheul würde da die Bourgeoisie über „Spitzelei“,
über „Denunziantentum“ anstimmen! Wenn die „Herrschaften“ die
Dienstboten kontrollieren, wenn die Kapitalisten die Arbeiter kontrol-
lieren, dann hält man das für ganz in Ordnung, das Privatleben des
Werktätigen und Ausgebeuteten gilt nicht für unantastbar, die Bour-
geoisie ist berechtigt, von jedem „Lohnsklaven“ Rechenschaft zu fordern,
seine Einnahmen und Ausgaben jederzeit an die Öffentlichkeit zu zerren.
Aber der Versuch der Unterdrückten, den Unterdrücker zu kontrollie-
ren, seine Einnahmen und Ausgaben ans Licht zu bringen, seinen Luxus,
selbst in Kriegszeiten, aufzudecken, wo dieser Luxus unmittelbar zur
Hungersnot und dazu führt, daß die Armeen an der Front zugrunde
gehen - o nein, „Spitzelei“ und „Denunziantentum“ wird die Bourgeoisie
nicht dulden!
Die Frage läuft stets auf dasselbe hinaus: Die Herrschaft der Bour-
geoisie ist mit wahrhaft revolutionärer, wirklicher Demokratie unverein-
bar. Man kann im 20. Jahrhundert, in einem kapitalistischen Land nicht
revolutionärer Demokrat sein, wenn man Angst hat, zum Sozialismus zu
schreiten.
KANN MAN VORWÄRTSSCHREITEN, WENN MAN
ANGST HAT. ZUM SOZIALISMUS ZU SCHREITEN?
Das bisher Dargelegte kann bei einem Leser, der in den landläufigen
opportunistischen Gedankengängen der Sozialrevolutionäre und Men-
schewiki erzogen ist, leicht den folgenden Einwand hervorrufen: Die mei-
sten der hier geschilderten Maßnahmen sind im Grunde keine demo-
kratischen, sie sind bereits sozialistische Maßnahmen !
Dieser weitverbreitete Einwand, gang und gäbe in der bürgerlichen,
Sozialrevolutionären und menschewistischen Presse (in der einen oder
368
W.I. Lenin
anderen Form), ist eine reaktionäre Verteidigung des rückständigen Ka-
pitalismus, eine Verteidigung ä la Struve. Wir seien noch nicht reif für
den Sozialismus, es sei verfrüht, den Sozialismus „einzuführen“, unsere
Revolution sei eine bürgerliche - also müsse man Knecht der Bourgeoisie
sein (obwohl die großen bürgerlichen Revolutionäre Frankreichs vor
125 Jahren ihre Revolution durch die Anwendung des Terrors gegen
alle Unterdrücker, Gutsbesitzer wie Kapitalisten, zu einer großen ge-
macht haben!).
Die der Bourgeoisie gegenüber so dienstbeflissenen Jammermarxisten,
zu denen auch die Sozialrevolutionäre übergegangen sind und die in
dieser Weise urteilen, begreifen nicht (wenn man die theoretischen
Grundlagen ihrer Auffassung betrachtet), was Imperialismus ist, was
kapitalistische Monopole sind, was der Staat ist und was revolutionäre
Demokratie ist. Denn wer das begriffen hat, wird zugeben müssen, daß
man nicht vorwärtsschreiten kann, ohne zum Sozialismus zu schreiten.
Vom Imperialismus sprechen alle. Aber der Imperialismus ist nichts
anderes als monopolistischer Kapitalismus.
Daß auch in Rußland der Kapitalismus monopolistisch geworden ist,
davon zeugen anschaulich genug das Kohlensyndikat („Produgol“), das
Eisensyndikat („Prodamet“), das Zuckersyndikat u. a. Dieses Zucker-
syndikat zeigt uns augenfällig, wie der monopolistische Kapitalismus in
den staatsmonopolistischen Kapitalismus übergeht.
Und was ist der Staat? Das ist die Organisation der herrschenden
Klasse, in Deutschland z. B. die der Junker und Kapitalisten. Deshalb
ist das, was die deutschen Plechanow (Scheidemann, Lensch u. a.) „Kriegs-
sozialismus“ nennen, in Wirklichkeit staatsmonopolistischer Kriegskapi-
talismus oder, einfacher und klarer ausgedrückt, ein Militärzuchthaus
für die Arbeiter, ein militärischer Schutz für die Profite der Kapitalisten.
Nun versuche man einmal, an Stelle des junkerlich-kapitalistischen, an
Stelle des gutsbesitzerlich-kapitalistischen Staates den revolutionär-demo-
kratischen Staat zu setzen, d. h. einen Staat, der in revolutionärer Weise
alle Privilegien abschafft, der sich nicht davor fürchtet, auf revolutio-
närem Wege den Demokratismus voll und ganz zu verwirklichen. Man
wird sehen, daß der staatsmonopolistische Kapitalismus in einem wirk-
lich revolutionär-demokratischen Staate unweigerlich, unvermeidlich
einen Schritt, ja mehrere Schritte zum Sozialismus hin bedeutet!
Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen sott 369
Denn wenn ein kapitalistisches Großunternehmen sich in ein Monopol
verwandelt, dann bedeutet das, daß es das ganze Volk beliefert. Wenn
dieses Unternehmen Staatsmonopol geworden ist, dann bedeutet das, daß
der Staat (d. h. die bewaffnete Organisation der Bevölkerung, in erster
Linie der Arbeiter und Bauern, revolutionären Demokratismus voraus-
gesetzt) den ganzen Betrieb lenkt - in wessen Interesse?
Entweder im Interesse der Gutsbesitzer und Kapitalisten; dann han-
delt es sich nicht um einen revolutionär-demokratischen, sondern um
einen reaktionär-bürokratischen Staat, eine imperialistische Republik;
oder im Interesse der revolutionären Demokratie; dann ist das
eben ein Schritt zum Sozialismus.
Denn der Sozialismus ist nichts anderes als der nächste Schritt vor-
wärts, über das staatskapitalistische Monopol hinaus. Oder mit anderen
Worten : Der Sozialismus ist nichts anderes als staatskapitalistisches Mo-
nopol, das zum Nutzen des ganzen Volkes angewandt wird und dadurch
auf gehört hat, kapitalistisches Monopol zu sein.
Hier gibt es keinen Mittelweg. Der objektive Gang der Entwicklung
ist derart, daß man von den Monopolen aus (und der Krieg hat deren
Zahl, Rolle und Bedeutung verzehnfacht) nicht vorwärtsschreiten kann,
ohne zum Sozialismus zu schreiten.
Entweder ist man tatsächlich ein revolutionärer Demokrat. Dann darf
man Schritte zum Sozialismus nicht fürchten.
Oder aber man fürchtet Schritte zum Sozialismus und verurteilt sie
nach Art der Plechanow, Dan und Tsdiemow mit der Begründung, daß
unsere Revolution eine bürgerliche sei, daß man den Sozialismus nicht
„einführen“ könne u. dgl. m. - und dann sinkt man unweigerlich hinab
zu Kerenski, Miljukow und Komilow, d. h„ man unterdrückt in reak-
tionär-bürokratischer Weise die „revolutionär-demokratischen“ Bestre-
bungen der Arbeiter- und Bauemmassen.
Einen Mittelweg gibt es nicht.
Und darin besteht der grundlegende Widerspruch unserer Revolution.
Stehenbleiben kann man nicht - weder in der Geschichte überhaupt
noch besonders in Kriegszeiten. Man muß entweder vorwärtsschreiten
oder zurückgehen. Vorwärtsschreiten im Rußland des 20. Jahrhunderts,
das die Republik und den Demokratismus auf revolutionärem Wege er-
obert hat, ist unmöglich, ohne zum Sozialismus zu schreiten.
nin, Werke. Bd. 25
370
W. /. Lenin
ohne Schritte zum Sozialismus zu machen (Schritte, die bedingt sind
und bestimmt werden durch den Stand der Technik und der Kultur: Man
kann den maschinellen Großbetrieb in die bäuerliche Landwirtschaft
nicht „einführen“, in der Zuckerfabrikation kann man ihn nicht ab-
sdiaffen).
Hat man aber Angst vorwärtszuschreiten, so bedeutet das zurück-
gehen, was die Herren Kerenski zum Entzücken der Miljukow und Ple-
chanow unter der törichten Mithilfe der Zereteli und Tschemow auch tun.
Die Dialektik der Geschichte ist gerade die, daß der Krieg, der die
Umwandlung des monopolistischen Kapitalismus in den staatsmonopo-
listischen Kapitalismus ungeheuer beschleunigte, dadurch die Mensch-
heit dem Sozialismus außerordentlich nahe gebracht hat.
Der imperialistische Krieg ist der Vorabend der sozialistischen Revo-
lution. Und das nicht nur deshalb, weil der Krieg mit seinen Schrecken
den proletarischen Aufstand erzeugt - keinerlei Aufstand kann den So-
zialismus schaffen, wenn er nicht ökonomisch herangereift ist -, sondern
deshalb, weil der staatsmonopolistische Kapitalismus die vollständige
materielle Vorbereitung des Soziaüsmus, seine unmittelbare V or-
stufe ist, denn auf der historischen Stufenleiter gibt es zwischen die-
ser Stufe und derjenigen, die Sozialismus heißt, keinerlei Zwischenstufen
mehr.
Unsere Sozialrevolutionäre und Menschewiki gehen an die Frage des
Sozialismus doktrinär heran, vom Standpunkt einer von ihnen auswendig
gelernten und schlecht verstandenen Doktrin. Sie stellen den Sozialismus
als ferne, unbekannte, dunkle Zukunft hin.
Der Sozialismus aber schaut jetzt bereits durch alle Fenster des mo-
dernen Kapitalismus auf uns; in jeder großen Maßnahme, die auf der
Grundlage dieses jüngsten Kapitalismus einen Schritt vorwärts bedeutet,
zeichnet sich der Sozialismus unmittelbar, in der Praxis, ab.
Was ist die allgemeine Arbeitspflicht?
Sie ist ein Schritt vorwärts auf der Grundlage des jüngsten monopo-
listischen Kapitalismus, ein Schritt zur Regulierung des Wirtschaftslebens
in seiner Gesamtheit, nach einem bestimmten allgemeinen Plan, ein
Schritt zur Einsparung von Volksarbeit, zur Verhütung der sinnlosen
Vergeudung dieser Arbeit durch den Kapitalismus.
Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll 371
In Deutschland führen die Junker (Gutsbesitzer) und Kapitalisten die
allgemeine Arbeitspflicht ein, die dann zwangsläufig zu einem Militär-
zudithaus für die Arbeiter wird.
Man nehme aber dieselbe Einrichtung und denke über ihre Bedeutung
in einem revolutionär-demokratischen Staat nach. Die allgemeine Ar-
beitspflicht, durch die Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauem-
deputierten eingeführt, reguliert und gelenkt, ist nodi kein Sozialismus,
aber schon kein Kapitalismus mehr. Das ist ein gewaltiger Schritt zum
Sozialismus, ein derartiger Schritt, daß man - die Erhaltung der vollen
Demokratie vorausgesetzt - von diesem Schritt schon nicht mehr ohne
eine unerhörte Vergewaltigung der Massen zum Kapitalismus zurück-
kehren könnte.
DER KAMPF GEGEN DIE ZERRÜTTUNG
UND DER KRIEG
Die Frage der Maßnahmen zur Bekämpfung der herannahenden Ka-
tastrophe führt uns zur Beleuchtung einer anderen, äußerst wichtigen
Frage: zur Frage des Zusammenhangs zwischen Innenpolitik und Außen-
politik oder, anders ausgedrückt, des Verhältnisses zwischen einem im-
perialistischen Eroberungskrieg und einem revolutionären, proletarischen
Krieg, zwischen einem verbrecherischen Raubkrieg und einem gerechten
demokratischen Krieg.
Alle von uns geschilderten Maßnahmen zur Bekämpfung der Kata-
strophe würden, wie wir bereits erwähnt haben, die Verteidigungsfähig-
keit oder, anders ausgedrückt, die militärische Macht des Landes außer-
ordentlich stärken. Dies einerseits. Doch anderseits kann man diese Maß-
nahmen nicht in die Tat umsetzen, ohne den Eroberungskrieg in einen
gerechten Krieg umzuwandeln, ohne den Krieg, den die Kapitalisten im
Interesse der Kapitalisten führen, in einen Krieg umzuwandeln, den das
Proletariat im Interesse aller Werktätigen und Ausgebeuteten führt.
In der Tat. Die Nationalisierung der Banken und Syndikate in Ver-
bindung mit der Aufhebung des Geschäftsgeheimnisses und der Arbeiter-
kontrolle über die Kapitalisten würde nicht nur eine riesige Einsparung
von Volksarbeit bedeuten, nicht nur die Möglichkeit bieten, Kräfte und
Mittel zu sparen, sie würde auch eine Verbesserung der Lage der arbei-
372
W. I. Lenin
tenden Massen der Bevölkerung, der Mehrheit der Bevölkerung bedeu-
ten. In einem modernen Krieg ist, wie jedermann weiß, die wirtschaft-
liche Organisation von ausschlaggebender Bedeutung. In Rußland gibt es
genügend Getreide, Kohle, Erdöl und Eisen; in dieser Beziehung ist
unsere Lage besser als die irgendeines anderen kriegführenden europä-
ischen Landes. Durch die Bekämpfung der Zerrüttung mit den genannten
Mitteln, durch die Mobilisierung der Massen zum selbständigen Handeln
in diesem Kampf, durch die Verbesserung ihrer Lage und durch die Natio-
nalisierung der Banken und Syndikate könnte Rußland seine Revolution
und seinen Demokratismus ausnutzen, um das ganze Land auf eine un-
vergleichlich höhere Stufe der ökonomischen Organisiertheit zu heben.
Hätten die Sozialrevolutionäre und Menschewiki, statt eine „Koali-
tion“ mit der Bourgeoisie einzugehen, die alle Kontrollmaßnahmen hin-
tertreibt und die Produktion sabotiert, im April den Übergang der Macht
an die Sowjets vollzogen und hätten sie ihre Kräfte nicht auf das „Mi-
nister-Karussell“ verwendet, nicht darauf, bürokratisch neben den Ka-
detten die Sessel der Minister, Vizeminister usw. usf. durchzusitzen,
sondern darauf, die Arbeiter und Bauern bei ihrer Kontrolle über die
Kapitalisten, in ihrem Krieg gegen die Kapitalisten zu führen, dann wäre
Rußland jetzt ein in voller wirtschaftlicher Umgestaltung begriffenes
Land : der Boden würde den Bauern gehören und die Banken wären na-
tionalisiert, d. h„ Rußland würde in dieser Hinsicht (und das sind äußerst
wichtige ökonomische Grundlagen des modernen Lebens) höher stehen
als alle übrigen kapitalistischen Länder.
Die Verteidigungsfähigkeit, die militärische Macht eines Landes mit
nationalisierten Banken ist größer als die eines Landes, in dem die Ban-
ken in Privathänden bleiben. Die militärische Macht eines Bauernlandes,
in dem sich der Boden in den Händen von Bauemkomitees befindet, ist
größer als die eines Landes mit gutsherrlichem Grundbesitz.
Man beruft sich ständig auf den heroischen Patriotismus der Franzo-
sen in den Jahren 1792/1793 und auf die Wunder an militärischem Hel-
denmut, die sie vollbracht haben. Man vergißt aber die materiellen, histo-
risch-ökonomischen Bedingungen, die diese Wunder erst ermöglicht
haben. Die wirklich revolutionäre Abrechnung mit dem überlebten Feu-
dalismus, der mit einer Schnelligkeit, Entschlossenheit, Energie und Hin-
gabe, die wahrhaft revolutionär-demokratisch waren, erfolgte Übergang
Die drohende Katastrophe und roie man sie bekämpfen soll 373
des ganzen Landes zu einer höheren Produktionsweise, zum freien bäuer-
lichen Bodenbesitz - das waren die materiellen, ökonomischen Bedin-
gungen, die Frankreich mit „wunderbarer“ Schnelligkeit retteten, indem
sie seine wirtschaftliche Grundlage umgestalteten und erneuerten.
Das Beispiel Frankreichs lehrt uns eins, nur eins: Um Rußland ver-
teidigungsfähig zu machen, um auch in Rußland „Wunder“ an Massen-
heroismus zu erreichen, muß man mit „jakobinischer“ Schonungslosigkeit
alles Alte hinwegfegen und Rußland wirtschaftlich erneuern und umge-
stalten. Das kann aber im 20. Jahrhundert nicht durch die Beseitigung
des Zarismus allein geschehen (Frankreich hat sich vor 125 Jahren nicht
darauf beschränkt). Das läßt sich nicht einmal allein durch die revolutio-
näre Beseitigung des gutsherrlichen Grundbesitzes zuwege bringen (nicht
einmal das haben wir getan, denn die Sozialrevolutionäre und Mensche-
wiki haben die Bauernschaft verraten!), nicht einmal allein durch die
Obergabe des Grund und Bodens an die Bauernschaft. Denn wir leben
im 20. Jahrhundert; die Herrschaft über den Grund und Boden ohne die
Herrschaft Über die Banken ist nicht hinreichend, um das Leben des Vol-
kes umgestalten und erneuern zu können.
Die materielle Erneuerung Frankreichs, die Erneuerung seiner Pro-
duktion am Ende des 18. Jahrhunderts ging Hand in Hand mit der poli-
tischen und geistigen Erneuerung, mit der Diktatur der revolutionären
Demokratie und des revolutionären Proletariats (von dem sich die De-
mokratie nicht absonderte und das mit ihr noch fast völlig verschmolzen
war), mit dem erbarmungslosen Krieg, der allem, was reaktionär war,
angesagt wurde. Das ganze Volk und besonders die Massen, d. h. die
unterdrückten Klassen, waren von einem grenzenlosen revolutionären
Enthusiasmus erfaßt. Den Krieg hielten alle für einen gerechten Ver-
teidigungskrieg, und das war er in der Tat. Das revolutionäre Frankreich
verteidigte sich gegen das reaktionär-monarchistische Europa. Nicht
1792/1793, sondern viele Jahre später, nadi dem Siege der Reaktion im
Innern des Landes, verwandelte die konterrevolutionäre Diktatur Na-
poleons die Verteidigungskriege Frankreichs in Eroberungskriege.
Und in Rußland? Wir fahren fort, einen imperialistischen Krieg zu
führen, im Interesse der Kapitalisten, im Bunde mit den Imperialisten,
im Einklang mit den Geheimverträgen, die der Zar mit den Kapitalisten
Englands usw. abgeschlossen hat und in denen er den russischen Kapita-
374
W. I. Lenin
listen die Ausplünderung fremder Länder, in denen er ihnen Konstanti-
nopel, Lwow, Armenien usw. versprach.
Der Krieg bleibt auf seiten Rußlands ein ungerechter, ein reaktionä-
rer, ein Eroberungskrieg, solange Rußland nicht einen gerechten Frieden
anbietet und solange es nicht mit dem Imperiaüsmus bricht. Der soziale
Charakter eines Krieges, seine wahre Bedeutung, wird nicht dadurch be-
stimmt, wo die feindhchen Truppen stehen (wie die Sozialrevolutionäre
und Menschewiki meinen, die bis zur Primitivität eines ungebildeten
Bauern hinabsinken). Der Charakter eines Krieges wird dadurch be-
stimmt, welche Politik der Krieg fortsetzt („der Krieg ist eine bloße Fort-
setzung der Politik“), welche Klasse den Krieg führt und welche Ziele sie
dabei verfolgt.
Man kann die Massen nicht auf Grund von Geheimverträgen in einen
Raubkrieg führen und dann auf ihren Enthusiasmus hoffen. Die fort-
geschrittenste Klasse des revolutionären Rußlands, das Proletariat, er-
kennt immer klarer das Verbrecherische dieses Krieges, und die Bour-
geoisie ist nicht nur nicht imstande gewesen, die Massen von dieser
Überzeugung abzubringen, sondern im Gegenteil, die Erkenntnis, daß
dieser Krieg ein Verbrechen ist, nimmt zu. Das Proletariat der beiden
Hauptstädte Rußlands ist endgültig internationalistisch geworden !
Wie kann da von Massenenthusiasmus für den Krieg die Rede sein !
Innenpolitik und Außenpolitik - die eine ist untrennbar mit der an-
dern verbunden. Man kann das Land nicht verteidigungsfähig machen
ohne den größten Heroismus des Volkes, das kühn und entschlossen die
großen wirtschaftlichen Umgestaltungen verwirklicht. Und man kann
unter den Massen keinen Heroismus wecken, ohne mit dem Imperialis-
mus zu brechen, ohne allen Völkern einen demokratischen Frieden an-
zubieten, ohne auf diese Weise den räuberischen, verbrecherischen Er-
oberungskrieg in einen gerechten, revolutionären Verteidigungskrieg um-
zuwandeln.
Nur der rückhaltlos konsequente Bruch mit den Kapitalisten in der
Innen- wie in der Außenpolitik ist imstande, unsere Revolution und un-
ser Land, das vom Imperialismus in eiserner Umklammerung gehalten
wird, zu retten.
Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll
375
DIE REVOLUTIONÄRE DEMOKRATIE
UND DAS REVOLUTIONÄRE PROLETARIAT
Um wirklich revolutionär zu sein, muß die Demokratie des heutigen
Rußlands im engsten Bündnis mit dem Proletariat marschieren und den
Kampf des Proletariats als der einzigen bis zum letzten revolutionären
Klasse unterstützen.
Das ist das Ergebnis, zu dem man bei der Untersuchung der Frage
gelangt, welches die Kampfmittel gegen die unabwendbare Katastrophe
sein müssen, die unerhörte Ausmaße anzunehmen droht.
Der Krieg hat eine so unermeßliche Krise hervorgerufen, hat die ma-
teriellen und moralischen Kräfte des Volkes so angespannt, hat der gan-
zen modernen Gesellschaftsorganisation solche Schläge versetzt, daß sich
die Menschheit vor die Wahl gestellt sieht: entweder untergehen oder
ihr Schicksal der revolutionärsten Klasse anvertrauen, um auf dem
schnellsten und radikalsten Wege zu einer höheren Produktionsweise
überzugehen.
Infolge einer Reihe historischer Ursachen - der größeren Rückständig-
keit Rußlands, der ihm durch den Krieg verursachten besonderen Schwie-
rigkeiten, der weit vorangeschrittenen Fäulnis des Zarismus und der
außerordentlich lebendigen Traditionen des Jahres 1905 - ist in Rußland
die Revolution früher als in anderen Ländern ausgebrochen. Die Revo-
lution bewirkte, daß Rußland in einigen Monaten seinem politischen
System nach die fortgeschrittenen Länder eingeholt hat. t
Aber das ist zuwenig. Der Krieg ist unerbittlich, er stellt mit scho-
nungsloser Schärfe die Frage: entweder untergehen oder die fortgeschrit-
tenen Länder auch ökonomisch einholen und überholen.
Das ist möglich, denn vor uns liegt die fertige Erfahrung einer großen
Anzahl fortgeschrittener Länder, liegen die fertigen Resultate ihrer Tech-
nik und Kultur. Wir finden eine moralische Stütze in dem wachsenden
Protest gegen den Krieg in Europa, in der Atmosphäre der anwachsen-
den proletarischen Weltrevolution. Wir werden angespomt, angetrieben
durch die während eines imperialistischen Krieges äußerst seltene revo-
lutionär-demokratische Freiheit
Untergehen oder mit Volldampf vorwärtsstürmen. So wird die Frage
von der Geschichte gestellt.
376
W. I. Lenin
Und das Verhältnis des Proletariats zur Bauernschaft zu einem solchen
Zeitpunkt bestätigt - entsprechend abgeändert - den alten bolschewisti-
schen Leitsatz: Die Bauernschaft muß dem Einfluß der Bourgeoisie entris-
sen werden. Nur darin liegt die Gewähr für die Rettung der Revolution.
Die Bauernschaft aber ist der zahlenmäßig stärkste Vertreter der gan-
zen kleinbürgerlichen Masse.
Unsere Sozialrevolutionäre und Menschewiki haben es übernommen,
eine reaktionäre Rolle zu spielen: die Bauernschaft weiter unter dem
Einfluß der Bourgeoisie zu halten, die Bauernschaft zur Koalition mit der
Bourgeoisie und nicht mit dem Proletariat zu führen.
Die Massen lernen schnell aus den Erfahrungen der Revolution. Und
die reaktionäre Politik der Sozialrevolutionäre und Menschewiki erleidet
Schiffbruch: In den Sowjets der beiden Hauptstädte sind sie geschlagen
worden. 89 In den beiden kleinbürgerlich-demokratischen Parteien wächst
die „linke“ Opposition. In Petrograd hat die Stadtkonferenz der Sozial-
revolutionäre am 10. September 1917 eine Zweidrittelmehrheit für die
Unken Sozialrevolutionäre ergeben, die zu einem Bündnis mit dem Pro-
letariat neigen und das Bündnis (die Koalition) mit der Bourgeoisie ab-
lehnen.
Die Sozialrevolutionäre und Menschewiki wiederholen die bei der
Bourgeoisie beliebte Gegenüberstellung: Bourgeoisie und Demokratie.
Doch ist eine solche Gegenüberstellung im Grunde ebenso widersinnig
wie ein Vergleich zwischen Pfund und Elle.
Es kann eine demokratische Bourgeoisie und es kann eine bürgerliche
Demokratie geben. Nur gänzliche Unkenntnis sowohl der Geschichte als
auch der politischen Ökonomie vermag das zu leugnen.
Die Sozialrevolutionäre und Menschewiki haben diese falsche Gegen-
überstellung nötig, um die unbestreitbare Tatsache zu verdecken, daß
zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat das Kleinbürgertum steht.
Dieses schwankt infolge seiner ökonomischen Klassenstellung unweiger-
lich zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat.
Die Sozialrevolutionäre und Menschewiki wollen das Kleinbürgertum
zum Bündnis mit der Bourgeoisie bewegen. Darin liegt der Kern ihrer
ganzen „Koalition“, der ganzen Koalitionsregierung, der ganzen Politik
Kerenskis, dieses typischen Halbkadetten. Nach einem halben Jahr Re-
volution hat diese Politik einen völligen Zusammenbruch erlitten.
Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll
377
Die Kadetten frohlocken schadenfroh: nun habe die Revolution Schiff -
bruch erlitten, die Revolution sei mit dem Kriege wie mit der Zerrüttung
nicht fertig geworden.
Das ist nicht wahr. Schiff bruch erlitten haben die Kadetten und die
Sozialrevolutionäre samt den Mensdiemiki, denn dieser Blöde (dieses
Bündnis) hat Rußland ein halbes Jahr lang regiert, hat in diesem halben
Jahr die Zerrüttung verstärkt und die militärische Lage verwirrt und
erschwert.
Je vollständiger der Zusammenbruch des Bündnisses der Bourgeoisie
mit den Sozialrevolutionären und Mensdiemiki ist, desto schneller wird
das Volk lernen. Desto leichter wird es den richtigen Ausweg finden : das
Bündnis der armen Bauernschaft, d. h. der Mehrheit der Bauern, mit dem
Proletariat.
10.-14. September 1917
EINE DER KERNFRAGEN DER REVOLUTION
Die Hauptfrage jeder Revolution ist zweifellos die Frage der Staats-
macht. Welche Klasse die Macht in den Händen hat, das entscheidet
alles. Und wenn die Zeitung der bedeutendsten Regierungspartei in Ruß-
land, das „Delo Naroda“, vor kurzem darüber geklagt hat (Nr. 147),
daß über dem Streit um die Macht sowohl die Konstituierende Versamm-
lung als auch die Brotfrage vergessen werde, so wäre den Sozialrevolu-
tionären nur zu antworten: Beklagen müßt ihr euch über euch selbst. Es
sind doch gerade die Schwankungen, es ist die Unentschlossenheit eurer
Partei, die am meisten schuld sind an dem Fortdauern des „Minister-
Karussells“, an dem endlosen Aufschieben der Konstituierenden Ver-
sammlung und an der von den Kapitalisten betriebenen Sabotage der in
Angriff genommenen und geplanten Maßnahmen zur Schaffung eines
Getreidemonopols und zur Versorgung des Landes mit Brot.
Die Frage der Staatsmacht kann weder umgangen noch beiseite ge-
schoben werden, denn das ist eben die Grundfrage, die in der Entwick-
lung der Revolution, in deren Innen- und Außenpolitik alles bestimmt.
Daß unsere Revolution durch Schwankungen hinsichtlich des Aufbaus
der Staatsmacht ein halbes Jahr „zwecklos verschwendet“ hat, ist eine
unbestreitbare Tatsache, und diese Tatsache ist eine Folge der schwan-
kenden Politik der Sozialrevolutionäre und Menschewiki. Denn die Po-
litik dieser Parteien wird letzten Endes durch die Klassenstellung des
Kleinbürgertums, durch seine wirtschaftliche Unbeständigkeit im Kampf
zwischen Kapital und Arbeit bestimmt.
Die ganze Frage ist jetzt die, ob die kleinbürgerliche Demokratie in
diesem wahrhaft großen, ungewöhnlich inhaltsreichen halben Jahr etwas
Eine der Kernfragen der Revolution
379
dazugelemt hat oder nicht. Wenn nicht, so ist die Revolution verloren,
und nur ein siegreicher Aufstand des Proletariats kann sie retten. Wenn
ja, so muß man sofort damit beginnen, eine feste und beständige Macht
zu schaffen, die nicht schwankt. In Zeiten der Volksrevolution, d. h. einer
Revolution, die die Massen, die Mehrheit der Arbeiter und Bauern, zum
Leben erweckt hat, kann nur eine Macht fest und beständig sein, die
sich offenkundig und unbedingt auf die Mehrheit der Bevölkerung stützt.
Bisher hegt in Rußland die Staatsmacht faktisch noch in den Händen der
Bourgeoisie, die nur gezwungen ist, Teilzugeständnisse zu machen (um
schon am nächsten Tag zu beginnen, sie wieder zurückzunehmen), Ver-
sprechungen zu machen (um sie nicht zu erfüllen) und auszuklügeln, wie
sie ihre Herrschaft auf jede nur mögliche Art und Weise bemänteln
kann (um dem Volk mit einer scheinbar „ehrlichen Koalition“ Sand in
die Augen zu streuen) usw. usf. In Worten haben wir eine demokra-
tische, revolutionäre Volksregierung, in Wirklichkeit eine volksfeindliche,
antidemokratische, konterrevolutionäre bürgerliche Regierung - das ist
der Widerspruch, der bis jetzt bestanden hat und der die Ursache der
steten Unbeständigkeit und der Schwankungen der Staatsmacht, die Ur-
sache des ganzen „Minister-Karussells“ war, auf das die Herren Sozial-
revolutionäre und Menschewiki einen (für das Volk) so beklagenswerten
Eifer verwandten.
Entweder werden die Sowjets auseinandergejagt und sterben eines
rühmlosen Todes oder alle Macht den Sowjets, sagte ich auf dem Ge-
samtrussischen Sowjetkongreß Anfang Juni 1917*, und die Geschichte
des Juli und August hat die Richtigkeit dieser Worte außerordentlich
überzeugend bestätigt. Nur die Sowjetmacht kann eine feste und be-
ständige Macht sein, die sich offenkundig auf die Mehrheit des Volkes
stützt, wie immer auch die Lakaien der Bourgeoisie, Potressow, Plecha-
now u. a„ lügen mögen, die die faktische Übergabe der Macht an eine
verschwindende Minderheit des Volkes, an die Bourgeoisie, an die Aus-
beuter, eine „Erweiterung der Basis“ der Macht nennen.
Nur die Sowjetmacht wäre fest und beständig, nur sie könnte auch in
den stürmischsten Augenblicken der stürmischsten Revolution nicht ge-
stürzt werden, nur eine solche Macht würde die stetige Entwicklung der
' Siehe den vorliegenden Band, S. 3-5. Die Red.
380
W. I. Lenin
Revolution auf breitester Grundlage sichern und den friedlichen Kampf
der Parteien innerhalb der Sowjets ermöglichen. Solange eine solche
Macht nicht geschaffen ist. sind Unentschlossenheit, Unbeständigkeit,
Schwankungen, endlose „Regierungskrisen“, ist die ausweglose Komödie
des „Minister-Karussells“ , sind Ausbrüche sowohl von rechts wie von
links unvermeidlich.
Jedoch wird die Losung „Die Macht den Sowjets“ sehr oft, wenn nicht
in den meisten Fällen, ganz falsch aufgefaßt, und zwar im Sinne einer
„Regierung aus den Parteien der Sowjetmehrheit“, und auf diese von
Grund aus irrige Auffassung wollen wir ausführlicher eingehen.
Eine „Regierung aus den Parteien der Sowjetmehrheit“ bedeutet, daß
ein Personenwechsel in der Regierung stattfindet, der ganze alte Apparat
der Regierungsmacht aber unangetastet beibehalten wird, ein Apparat,
der durch und durch bürokratisch, durch und durch undemokratisch und
unfähig ist, ernsthafte Reformen durchzuführen, Reformen, die sogar
in den Programmen der Sozialrevolutionäre und Menschewiki enthalten
sind.
„Die Macht den Sowjets“, das bedeutet die radikale Umgestaltung
des ganzen alten Staatsapparats, dieses Bürokratenapparats, der alles
Demokratische hemmt, das bedeutet, diesen Apparat zu beseitigen und
durch einen neuen, einen Apparat des Volkes, zu ersetzen, d. h. durch
den wahrhaft demokratischen Apparat der Sowjets, d. h. der organisier-
ten und bewaffneten Mehrheit des Volkes, der Arbeiter, Soldaten und
Bauern, das bedeutet, der Mehrheit des Volkes Initiative und Selbstän-
digkeit zu gewähren, nicht nur bei der Wahl von Deputierten, sondern
auch bei der Verwaltung des Staates, bei der Durchführung der Reformen
und Umgestaltungen.
Um diesen Unterschied klarer und anschaulicher zu machen, wollen
wir an ein wertvolles Eingeständnis erinnern, das die Zeitung der Re-
gierungspartei, der Partei der Sozialrevolutionäre, das „Delo Naroda",
vor einiger Zeit gemacht hat. Selbst in jenen Ministerien, schrieb dieses
Blatt, die den sozialistischen Ministem übergeben wurden (dies wurde
zur Zeit der berüchtigten Koalition mit den Kadetten geschrieben, als
Menschewiki und Sozialrevolutionäre Minister waren), selbst in diesen
Ministerien ist der ganze Verwaltungsapparat der alte geblieben und
hemmt jede Arbeit.
Eine der Kernfragen der Revolution
381
Das ist auch begreiflich. Die ganze Geschichte der bürgerlich-parla-
mentarischen und in weitgehendem Maße auch der bürgerlich-konstitu-
tionellen Länder zeigt, daß ein Ministerwechsel sehr wenig bedeutet, da
die wirkliche Verwaltungsarbeit in den Händen einer Riesenarmee von
Beamten liegt. Diese Armee aber ist durch und durch von antidemokra-
tischem Geist erfüllt, durch Tausende und Millionen Fäden mit den
Gutsbesitzern und mit der Bourgeoisie verbunden und auf die vielfäl-
tigste Art und Weise von ihnen abhängig. Diese Armee lebt in einer
Atmosphäre bürgerlicher Verhältnisse und kennt nichts anderes als diese
Atmosphäre, sie ist erstarrt, verknöchert und versteinert, sie ist außer-
stande, sich aus dieser Atmosphäre herauszureißen, sie kann nicht an-
ders als in althergebrachter Weise denken, fühlen und handeln. Diese
Armee ist gebunden durch Beziehungen rangmäßiger Unterordnung und
bestimmte Privilegien des „Staatsdienstes“; die auf der oberen Stufen-
leiter dieser Armee Stehenden sind durch Aktien und vermittels der
Banken vollkommen an das Finanzkapital gekettet, sie sind in gewissem
Grade selber dessen Agenten, die Vertreter seiner Interessen und seines
Einflusses.
Mjt Hilfe dieses Staatsapparats Umgestaltungen durchführen zu wol-
len, wie etwa die Aufhebung des Grundeigentums der Gutsbesitzer ohne
Entschädigung oder die Einführung des Getreidemonopols usw., ist eine
große Illusion, glatter Selbstbetrug und ein Betrug am Volke. Dieser
Apparat kann der republikanischen Bourgeoisie dienen und eine Repu-
blik in Gestalt einer „Monarchie ohne Monarchen“ schaffen, wie die
dritte Republik in Frankreich, aber zur Durchführung von Reformen,
die die Rechte des Kapitals, die Rechte des „heiligen Privateigentums“
auch nur ernstlich beschneiden oder beschränken, geschweige denn ab-
schaffen, ist ein solcher Staatsapparat absolut unfähig. So geschieht es
denn, in allen nur möglichen „Koalitions“regierungen, an denen „So-
zialisten“ teilnehmen, daß diese Sozialisten stets, selbst wenn es ein-
zelne unter ihnen ganz ehrlich meinen, in Wirklichkeit eine bloße De-
koration oder Kulisse der bürgerlichen Regierung sind, daß sie als Blitz-
ableiter dienen, um die Volksempörung von dieser Regierung abzulen-
ken, daß sie dieser Regierung als Werkzeug dienen, um die Massen zu
betrügen. So war es mit Louis Blanc im Jahre 1848, so war es seitdem
dutzendemal in England und Frankreich, wenn sich Sozialisten an der
382
W. I. Lenin
Regierung beteiligten, so war es auch mit den Tsdhemow und Zereteli
1917, so war es und so wird es sein, solange die bürgerliche Gesellschafts-
ordnung besteht und der alte, bürgerliche, bürokratische Staatsapparat
unangetastet erhalten bleibt.
Die Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauemdeputierten sind ge-
rade deshalb besonders hoch einzuschätzen, weil sie einen neuen, weit-
aus höheren, unvergleichlich demokratischeren Typ des Staatsapparats
darstellen. Die Sozialrevolutionäre und Menschewiki haben alles getan,
alles mögliche und unmögliche, um die Sowjets (besonders den Petro-
grader Sowjet und den Gesamtrussischen Sowjet, d. h. das Zentral-
exekutivkomitee) in bloße Schwatzbuden zu verwandeln, die sich unter
dem Schein der „Kontrolle“ damit beschäftigten, ohnmächtige Resolu-
tionen abzufassen und fromme Wünsche zu äußern, die dann von der
Regierung mit dem höflichsten und liebenswürdigsten Lächeln zu den
Akten gelegt wurden. Aber das „frische Lüftchen“ des Komilowputsches,
das einen tüchtigen Sturm verhieß, genügte, damit alles Modrige im So-
wjet auf einige Zeit hinausgeweht wurde und die Initiative der revolu-
tionären Massen sich als etwas Großes, Machtvolles und Unüberwind-
liches Bahn zu brechen begann.
Mögen alle Kleinmütigen aus diesem historischen Beispiel lernen. Mö-
gen sich diejenigen schämen, die sagen : „Wir haben keinen Apparat, der
den alten, unweigerlich zur Verteidigung der Bourgeoisie neigenden
Apparat ersetzen könnte.“ Denn dieser Apparat ist vorhanden. Das sind
gerade die Sowjets. Fürchtet nicht die Initiative und Selbständigkeit der
Massen, vertraut den revolutionären Organisationen der Massen, und
ihr werdet auf allen Gebieten des staatlichen Lebens dieselbe Kraft, die-
selbe Größe und Unbesiegbarkeit der Arbeiter und Bauern sehen, die
sie in ihrem gemeinsamen Handeln, in ihrem Elan gegen den Komilow-
putsch offenbart haben.
Die Schuld der Sozialrevolutionären und menschewistischen Führer
besteht vor allem darin, daß sie nicht an die Massen glauben, Angst vor
ihrer Initiative, Angst vor ihrer Selbständigkeit haben, daß sie vor der
revolutionären Energie der Massen zittern, statt sie allseitig und rück-
haltlos zu unterstützen. Hier liegt eine der tiefsten Ursachen für die
Unentschlossenheit der Sozialrevolutionären und menschewistischen Füh-
rer, ihrer Schwankungen, ihrer endlosen und endlos unfruchtbaren Ver-
Eine der Kernfragen der Revolution
383
suche, neuen Wein in die alten Schläuche des alten, bürokratischen Staats-
apparats zu gießen.
Man betrachte die Geschichte der Demokratisierung der Armee in der
russischen Revolution 1917, die Geschichte der Ministertätigkeit Tscher-
nows, die Geschichte der „Herrschaft“ Paltschinskis, die Geschichte des
Rüdetritts von Peschedtonow, und man wird auf Schritt und Tritt die
anschaulichste Bestätigung für das oben Gesagte finden. Da das volle
Vertrauen zu den gewählten Soldatenorganisationen fehlte, da das Prin-
zip der Wählbarkeit der Vorgesetzten durch die Soldaten nicht restlos
durchgeführt wurde, kam es dahin, daß die Komilow, die Kaledin und
die konterrevolutionären Offiziere an der Spitze der Armee ständen. Das
ist eine Tatsache. Und wer nicht absichtlich die Augen verschließt, muß
sehen, daß die Kerenskiregierung nach dem Komilowputsch alles beim
alten läßt, daß sie in Wirklichkeit die Komüomschen Zustände mieder-
herstellt. Die Ernennung Alexejews, der „Frieden“ mit den Klembow-
ski, Gagarin, Bagration und sonstigen Komilowleuten, die milde Behand-
lung von Komilow und Kaledin selbst, all das beweist klar und deutlich,
daß Kerenski in Wirklichkeit die Komilowschen Zustände wiederher-
stellt.
Einen Mittelweg gibt es nicht. Die Erfahrung hat gezeigt, daß es kei-
nen Mittelweg gibt. Entweder alle Macht den Sowjets und vollkommene
Demokratisierung der Armee oder Komilowregime.
Und die Geschichte der Ministertätigkeit Tsdiemows? Hat sie etwa
nicht bewiesen, daß jeder einigermaßen ernsthafte Schritt zur wirklichen
Befriedigung der Nöte der Bauern, jeder Schritt, der von Vertrauen zu
den Bauern, zu deren eigenen Massenorganisationen und Aktionen zeugt,
in der ganzen Bauernschaft die größte Begeisterung hervorrief? Tscher-
now aber mußte beinahe vier Monate lang mit den Kadetten und Büro-
kraten „feilschen“ und wieder „feilschen“, die ihn nach endlosem Ver-
schleppen und endlosen Intrigen zu guter Letzt zum Rücktritt gezwun-
gen haben, ohne daß er etwas erreicht hätte. Die Gutsbesitzer und Ka-
pitalisten haben für diese vier Monate und in diesen vier Monaten „das
Spiel gewonnen“, es ist ihnen gelungen, das Grundeigentum der Guts-
besitzer zii behaupten, die Konstituierende Versammlung hinauszu-
schieben und sogar eine Reihe von Repressalien gegen die Bodenkomitees
einzuleiten.
384
W.I. Lenin
Einen Mittelweg gibt es nicht. Die Erfahrung hat gezeigt, daß es kei-
nen Mittelweg gibt. Entweder alle Macht den Sowjets in der Hauptstadt
und in der Provinz, sofort alles Land den Bauern, noch vor der Beschluß-
fassung durch die Konstituierende Versammlung, oder die Gutsbesitzer
und Kapitalisten hintertreiben alles, stellen die Macht der Gutsbesitzer
wieder her, treiben die Bauern zur Empörung und bringen es schließlich
zu einem unerhört erbitterten Bauernaufstand.
Genau die gleiche Geschichte war es mit der von den Kapitalisten (mit
Hilfe Paltschinskis) betriebenen Sabotage einer einigermaßen ernsthaf-
ten Kontrolle über die Produktion, mit der Sabotage des Getreidemono-
pols durch die Kaufleute sowie mit deren Sabotage einer geregelten de-
mokratischen Verteilung des Brotes und anderer Lebensmittel, wie sie
von Peschechonow eingeleitet wurde.
Es handelt sich jetzt in Rußland keineswegs darum, „ neue Reformen "
zu erfinden, JPläne “ irgendwelcher „ allumfassenden “ Umgestaltungen
aufzustellen. Nichts dergleichen. So stellen die Sache - in wissentlich ver-
logener Weise - die Kapitalisten, die Potressow und Plechanom dar, die
gegen die „ Einführung des Sozialismus ", gegen die „ Diktatur des Pro-
letariats •" zetern. In Wirklichkeit ist die Lage in Rußland so, daß die un-
sagbaren Leiden und Nöte des Krieges, die riesengroße, unmittelbar
drohende Gefahr der Zerrüttung und Hungersnot selbst den Ausweg
diktieren, selbst die Reformen und Umgestaltungen vorzeichnen, ja nicht
nur vorzeichnen, sondern als unbedingt unaufschiebbar bereits auf die
Tagesordnung gesetzt haben: Getreidemonopol, Kontrolle über Produk-
tion und Verteilung, Einschränkung der Emission von Papiergeld, ge-
regelter Austausch von Getreide gegen Industriewaren usw.
Maßnahmen solcher Art, in eben dieser Richtung, wurden von allen
als unerläßlich anerkannt, und an vielen Orten und von den verschieden-
sten Seiten wurde mit ihrer Durchführung begonnen. Sie sind bereits in
Angriff genommen, werden aber allerorts durch den Widerstand der
Gutsbesitzer und Kapitalisten gehemmt und hintertrieben, einen Wider-
stand, der sowohl durch die Kerenskiregierung (die m Wirklichkeit eine
völlig bürgerliche und bonapartistische Regierung ist) als auch durch den
Beamtenapparat des alten Staates und durch den direkten und indirekten
Druck des russischen und des „alliierten“ Finanzkapitals geleistet wird.
Vor nicht allzulanger Zeit beklagte I. Prileshajew im „Delo Naroda“
Eine der Kernfragen der Revolution
(Nr. 147) den Rüdetritt Peschedxonows und den Bankrott der festen
Preise, den Bankrott des Getreidemonopols :
„Kühnheit und Entschlossenheit, das ist es. was unseren Regierungen aller Zu-
sammensetzungen fehlte . . . Die revolutionäre Demokratie darf nicht warten, sie
muß selbst die Initiative ergreifen und ordnend in das wirtschaftliche Chaos ein-
greifen . . . Wenn irgendwo, so ist gerade hier ein fester Kurs und eine entschlos-
sene Macht vonnöten.*
Was wahr ist, ist wahr. Das sind goldene Worte. Nur hat ihr Ver-
fasser nicht bedacht, daß die Frage, des festen Kurses, der Kühnheit und
Entschlossenheit keine Frage von Persönlichkeiten ist, sondern eine Frage
der Klasse, die fähig ist, Kühnheit und Entschlossenheit an den Tag zu
legen. Die einzige solche Klasse ist das Proletariat. Kühnheit und Ent-
schlossenheit der Staatsmacht und ihr fester Kurs, das ist nichts anderes
als die Diktatur des Proletariats und der armen Bauern. I. Prileshajew
seufzt, ohne sich dessen bewußt zu sein, nach dieser Diktatur.
Denn was würde eine solche Diktatur in Wirklichkeit bedeuten?
Nichts anderes, als daß der Widerstand der Kornilowleute gebrochen
und die umfassende Demokratisierung der Armee wiederaufgenommen
und zu Ende geführt würde. Neunundneunzig Hundertstel der Armee
wären zwei Tage nach Errichtung einer solchen Diktatur deren begei-
sterte Anhänger. Diese Diktatur würde den Bauern den Boden geben
und die örtlichen Bauemkomitees mit voller Machtbefugnis ausstatten.
Wie kann man, ohne den Verstand verloren zu haben, daran zweifeln,
daß die Bauern diese Diktatur unterstützen würden? Was Peschechonow
nur verheißen hat („der Widerstand der Kapitalisten ist gebrochen“,
sagte Peschechonow wörtlich in seiner berühmten Rede auf dem Sowjet-
kongreß), das würde diese Diktatur in die Tat umsetzen, verwirklichen,
ohne die bereits im Entstehen begriffenen demokratischen Organisa-
tionen für Lebensmittelversorgung, für Kontrolle u. a. m. zu beseitigen,
sie würde im Gegenteil diese Organisationen unterstützen, fördern und
ihrer Arbeit jedes Hindernis aus dem Wege räumen.
Nur die Diktatur der Proletarier und der armen Bauern ist imstande,
den Widerstand der Kapitalisten zu brechen, mit wahrhaft großartiger
Kühnheit und Entschlossenheit die Macht auszuüben und sich die be-
geisterte, rückhaltlose, wahrhaft heroische Unterstützung der Massen so-
wohl in der Armee wie in der Bauernschaft zu sichern.
25 Lenin, Werke. Bd. 25
W. I. Lenin
Die Macht den Sowjets - das allein könnte die weitere Entwicklung
stetig, friedlich und ruhig gestalten, könnte zu einer Entwicklung führen,
die dem Niveau des Bewußtseins und der Entscheidungen der Mehrheit
der Volksmassen, dem Niveau ihrer eigenen Erfahrung vollkommen ent-
spricht. Die Macht den Sowjets, das bedeutet den vollständigen Über-
gang der Verwaltung des Landes und der Kontrolle über seine Wirt-
schaft an die Arbeiter und Bauern, denen sich niemand zu widersetzen
wagte und die durch die Erfahrung rasch lernen würden, durch die eigene
Praxis lernen Würden, den Grund und Boden, die Produkte und das Brot
richtig zu verteilen.
„ Rabotsdü Put" Nr. 10, Nach dem Text des .Rabotschi Put“.
27. (14.) September 1917.
Unterschrift: N. Lenin.
WIE WIRD DER KONSTITUIERENDEN
VERSAMMLUNG DER ERFOLG GESICHERT?
(Ober die Pressefreiheit)
Anfang April, als ich die Stellung der Bolschewiki zu der Frage dar-
legte, ob eine Konstituierende Versammlung einberufen werden soll,
schrieb ich:
Ja, und möglichst schnell. Aber die Garantie für ihren Erfolg und
überhaupt für ihre Einberufung ist allein: größere Zahl und Stärke
der Sowjets der Arbeiter-, Soldaten-, Bauern- usw. Deputierten; Organi-
sierung und Bewaffnung der Arbeitermassen - das ist die einzige
Garantie.“ („Die politischen Parteien in Rußland und die Aufgaben des
Proletariats.“ Billige Bibliothek des Verlags „Shisn i Snanije“ [Leben und
Wissen] , Heft III, S. 9 und 29.)*
Inzwischen sind fünf Monate vergangen, und die Richtigkeit dieser
Worte wurde bestätigt durch die von den Kadetten verschuldeten Ver-
zögerungen und Verschleppungen der Einberufung, sie wurde schließlich
schlagend bestätigt durch den Komilowputsch.
Jetzt, im Zusammenhang mit der Einberufung der Demokratischen
Beratung zum 12. September, möchte ich auf eine andere Seite der Sache
eingehen.
Sowohl die „Rabotschaja Gaseta“ der Menschewiki als auch das „Delo
Naroda“ haben ihr Bedauern darüber ausgesprochen, daß für die Agita-
tion unter den Bauern, für die Aufklärung dieser wirklichen Masse des
russischen Volkes, seiner wirklichen Mehrheit, so wenig getan wird. Alle
wissen und geben zu, daß der Erfolg der Konstituierenden Versammlung
von der Aufklärung der Bauern abhängt, und doch wird lächerlich wenig
dafür getan. Die Bauern werden belogen, genarrt und eingeschüchtert
* Siehe Werke, Bd. 24, S. 85. Die Red.
388
von der durch und durch verlogenen, konterrevolutionären bürgerlichen
und „gelben“ Presse, neben der die Presse der Menschewiki und Sozial-
revolutionäre (von der bolschewistischen gar nicht zu reden) sehr, sehr
schwach ist.
Warum ist das so?
Eben weil die an der Regierung beteiligten Parteien der Sozialrevo-
lutionäre und Menschewiki schwach, unentschlossen und untätig sind,
weil sie, nicht einverstanden mit der Übernahme der gesamten Macht
durch die Sowjets, die Bauernschaft in ihrer Unwissenheit lassen, in ihrer
ganzen Verlorenheit und sie den Kapitalisten, deren Presse und deren
Agitation ausliefern.
Die Menschewiki und Sozialrevolutionäre nennen unsere Revolution
prahlerisch die große Revolution, sie schreien laut schwülstige Phrasen
über „revolutionäre Demokratie“ in alle Welt hinaus, in Wirklichkeit
aber tun sie nichts, um Rußland aus der ganz gewöhnlichen, ganz und
gar kleinbürgerlichen Revolution herauszuführen, die, nachdem sie den
Zaren gestürzt hat, alles andere beim alten läßt und nichts, absolut nichts
Ernsthaftes zur politischen Aufklärung der Bauern, zur Beseitigung der
bäuerlichen Unwissenheit unternimmt, dieser letzten (und stärksten)
Stütze der Ausbeuter und Unterdrücker des Volkes.
Gerade jetzt ist es angebracht, an diese Dinge zu erinnern. Gerade
jetzt, angesichts der Demokratischen Beratung, zwei Monate vor der (bis
zu einem neuen Aufschub) „festgesetzten“ Einberufung der Konstitu-
ierenden Versammlung ist es angebracht, zu zeigen, wie leicht man die
Sache korrigieren, wieviel man für die politische Aufklärung der Bauern
tun könnte, wenn . . . wenn unsere in Anführungszeichen „revolutionäre
Demokratie' wirklich revolutionär, d. h. zu revolutionärem Handeln
fähig und wirklich eine Demokratie wäre, d. h. wenn sie dem Willen
und den Interessen der Mehrheit des Volkes Rechnung trüge und nicht
den Interessen einer Minderheit, der Kapitalisten, die nach wie vor die
Macht in den Händen haben (die Kerenskiregierung) und mit denen
sich - wenn nicht direkt, so doch indirekt, wenn nicht in der alten, so
doch in einer neuen Form - die Sozialrevolutionäre und Menschewiki
immer noch „verständigen“ wollen.
Die Kapitalisten (und - aus Unverstand oder infolge konservativen
Denkens - auch viele Sozialrevolutionäre und Menschewiki) bezeichnen
Wie wird der Konstituierenden Versammlung der Erfolg gesichert? 389
als „Pressefreiheit“ einen Zustand, in dem die Zensur abgeschafft ist und
alle Parteien nach Belieben Zeitungen herausgeben.
In Wirklichkeit ist das keine Pressefreiheit, sondern die Freiheit für
die Reichen, für die Bourgeoisie, die unterdrückten und ausgebeuteten
Volksmassen zu betrügen.
In der Tat. Man nehme nur die Petrograder und Moskauer Zeitungen.
Man sieht sofort, daß die bürgerlichen Zeitungen, die „Retsch“, die
„Birshowka“, das „Nowoje Wremja", das „Russkoje Slowo“ 90 und so
weiter und so fort (denn solche Zeitungen gibt es sehr viele) ihren Auf-
lagen nach ein sehr starkes Übergewicht haben. Worauf basiert dieses
Übergewicht? Keineswegs auf dem Willen der Mehrheit, denn die
Wahlen zeigen, daß in beiden Hauptstädten die Mehrheit (und zwar eine
gewaltige Mehrheit) auf der Seite der Demokratie steht, d. h- auf der
Seite der Sozialrevolutionäre, der Menschewiki und der Bolschewiki.
Diese drei Parteien verfügen über drei Viertel bis vier Fünftel aller
Stimmen. Die Auflage ihrer Zeitungen aber beträgt sicher weniger als
ein Viertel oder gar ein Fünftel der Auflage der gesamten bürgerlichen
Presse (die, wie wir jetzt wissen und sehen, den Komilowputsch direkt
und indirekt verteidigt).
Warum ist das so?
Alle wissen sehr gut, warum. Weil die Herausgabe einer Zeitung ein
einträgliches, großes kapitalistisches Unternehmen ist, in das die Reichen
Millionen über Millionen Rubel investieren. Die „Pressefreiheit“
der bürgerlichen Gesellschaft besteht in der Freiheit für die Reichen,
systematisch und unentwegt, tagtäglich in Millionen von Zeitungsexem-
plaren die ausgebeuteten und unterdrückten Volksmassen, die Armen,
zu betrügen, zu demoralisieren und zum Narren zu halten.
Das ist die einfache, allgemein bekannte, auf der Hand liegende
Wahrheit, die alle sehen, alle erkennen, die aber „fast alle“ „schamhaft“
verschweigen und ängstlich umgehen.
Es fragt sich, ob und wie man gegen ein so himmelschreiendes Übel
kämpfen kann.
Vor allem gibt es ein sehr einfaches, äußerst wirksames und durchaus
gesetzliches Mittel, auf das ich seit langem in der „Prawda“ hingewiesen
habe, ein Mittel, das man sich besonders jetzt, zum 12. September, in
Erinnerung rufen sollte und das die Arbeiter immer im Auge behalten
390
W. I. Lenin
müssen, denn sie werden kaum ohne dieses Mittel auskommen, wenn sie
die politische Macht erobern.*
Dieses Mittel ist das Staatsmonopol auf private Anzeigen in den Zei-
tungen.
Man sehe sich das „Russkoje Slowo“, das „Nowoje Wremja“, die
„Birshowka“, die „Retsch“ usw. an, man wird eine Menge Privatanzeigen
finden, die eine große, ja die größte Einnahmequelle der Kapitalisten bil-
den, die diese Zeitungen herausgeben. So wirtschaften und bereichern sich
alle bürgerlichen Zeitungen in der ganzen Welt, so handeln sie mit Gift
für das Volk.
In Europa gibt es Zeitungen, deren Auflage etwa ein Drittel der Ein-
wohnerzahl der betreffenden Stadt erreicht (z. B. 12 000 Exemplare bei
einer Einwohnerzahl von 40000), die unentgeltlich in jede Wohnung
geliefert werden und dabei eine gute Einnahmequelle für ihre Verleger
bilden. Solche Zeitungen leben von den Anzeigen, die von Privatpersonen
bezahlt werden, und die unentgeltliche Lieferung der Zeitung frei Haus
sichert diesen Anzeigen die weiteste Verbreitung.
Es fragt sich, warum eine Demokratie, die sich revolutionär nennt,
nicht eine Maßnahme durchführen könnte, durch die die Veröffent-
lichung von Privatanzeigen in den Zeitungen zum Staatsmonopol er-
klärt wird? Warum könnte sie nicht verbieten, daß Anzeigen woanders
veröffentlicht werden außer in den Zeitungen, die von den Sowjets in
der Provinz und in den Städten und dem zentralen Sowjet in Petrograd
für ganz Rußland herausgegeben werden? Warum muß die „revolutio-
näre“ Demokratie dulden, daß sich die Reichen, die Anhänger Komi-
lows, die Verbreiter von Lügen und Verleumdungen gegen die Sowjets,
an Privatanzeigen bereichern?
Eine solche Maßnahme wäre unbedingt eine gerechte Maßnahme. Sie
würde große Vorteile sowohl denen bringen, die Privatanzeigen auf-
geben, als auch dem ganzen Volk, besonders der am meisten unterdrück-
ten und unwissenden Bauernschaft, die dadurch die Gelegenheit hätte,
für billiges Geld oder sogar unentgeltlich Zeitungen der Sowjets mit Bei-
lagen für die Bauern zu beziehen.
Warum sollte das nicht verwirklicht werden? Nur weil das Privat-
eigentum, weil die angestammten Rechte der Herren Kapitalisten (auf
* Siehe den vorliegenden Band, S. 87/88. Die Red.
Wie wird der Konstituierenden Versammlung der Erfolg gesichert? 391
die Einnahmen aus den Anzeigen) heilig sind. Kann denn ein solches
Recht als „heilig“ anerkennen, wer sich in der zweiten russischen Revo-
lution revolutionärer Demokrat des 20. Jahrhunderts nennt?!
Man wird sagen : „Aber das ist doch eine Verletzung der Pressefreiheit.“
Das ist nicht wahr. Das wäre eine Wiederherstellung und Erweiterung
der Pressefreiheit. Denn Pressefreiheit bedeutet, daß alle Meinungen
aller Bürger frei verbreitet werden können.
Jetzt aber? Jetzt aber haben nur die Reichen dieses Monopol, und
dann noch die großen Parteien. Durch die Herausgabe großer Zeitungen
der Sowjets, die sämtliche Anzeigen veröffentlichen, wäre es jedoch
durchaus möglich, einer viel größeren Anzahl von Bürgern die Gewähr
zu geben, ihre Ansichten äußern zu können, sagen wir jeder Gruppe,
die eine bestimmte Anzahl von Unterschriften aufbringt. Eine solche
Reform würde die Pressefreiheit in der Praxis viel demokratischer, un-
vergleichlich vollständiger machen.
Man wird erwidern: Wo soll man denn Druckereien und Papier her-
nehmen?
Da haben wir’s ! ! ! Es handelt sich nicht um die „Pressefreiheit“, son-
dern um das heilige Privateigentum der Ausbeuter an den Druckereien
und Papiervorräten, die sie sich angeeignet haben ! 1 !
Warum aber sollen wir, die Arbeiter und Bauern, dieses heilige Recht
anerkennen? Wieso ist dieses „Recht“, Lügennachrichten zu verbreiten,
besser als das „Recht“, leibeigene Bauern zu besitzen?
Warum ist während des Krieges das Requirieren von Häusern, Woh-
nungen, Kutschen, Pferden, Getreide und Metallen zulässig und geht
überall vor sich, während das Requirieren von Druckereien und Papier-
vorräten aber unzulässig sein soll?
Nein, man kann die Arbeiter und Bauern eine Zeitlang betrügen,
indem man ihnen solche Maßnahmen als ungerecht oder schwer durch-
führbar hinstellt, die Wahrheit aber wird doch siegen.
Die Staatsmacht, in Gestalt der Sowjets, beschlagnahmt alle Drucke-
reien und das gesamte Papier und verteilt es gerecht: an erster Stelle -
an den Staat, im Interesse der Mehrheit des Volkes, der Mehrheit der
Armen, besonders der Mehrheit der Bauern, die jahrhundertelang von
den Gutsbesitzern und Kapitalisten gepeinigt, unterdrückt und verdummt
worden sind.
392
An zweiter Stelle - an die großen Parteien, die in den beiden Haupt-
städten, sagen wir, hunderttausend oder zweihunderttausend Stimmen
aufgebracht haben.
An dritter Stelle - an die kleineren Parteien und dann an eine belie-
bige Gruppe von Bürgern, die eine bestimmte Zahl von Mitgliedern
erreicht oder soundso viel Unterschriften aufweisen kann.
Eine solche Verteilung des Papiers und der Druckereien wäre gerecht,
und wenn die Macht in den Händen der Sowjets liegt, ohne jede Schwie-
rigkeit durchführbar.
Dann könnten wir in den zwei Monaten bis zur Konstituierenden
Versammlung tatsächlich den Bauern helfen, wir könnten gewährleisten,
daß etwa ein Dutzend Broschüren (oder Zeitungsnummem oder Sonder-
beilagen), in Millionen Exemplaren, von jeder großen Partei heraus-
gegeben, in jedes Dorf verschickt werden.
Das eben wäre eine „ revolutionär-demokratische" Vorbereitung der
Wahlen zur Konstituierenden Versammlung, das eben wäre eine Hilfe
der fortgeschrittenen Arbeiter und Soldaten für das flache Land, das
eben wäre eine staatliche Förderung der Aufklärung und nicht der Ver-
dummung und des Betrugs am Volke, das eben wäre eine wirkliche
Pressefreiheit für alle, aber nicht für die Reichen, das eben wäre ein
Bruch mit der verfluchten knechtischen Vergangenheit, die uns jetzt dul-
den läßt, daß die Reichen die große Sache der Informierung und Auf-
klärung der Bauernschaft an sich reißen.
.Rabotsdn Put' Nr. 11. Nach dem Text des .Rabotsdn Put'.
28. (15.) September 1917.
Unterschrift: N. Lenin.
STAAT UND REVOLUTION
Die Lehre des Marxismus vom Staat
und die Aufgaben des Proletariats
in der Revolution 91
Geschrieben August-September 19 1";
Abschnitt 3 des II. Kapitels
vor dem 17. Dezember 1918.
Veröffentlicht 1918 als Broschüre
im Verlag .Shisn i Snanije'.
Nach dem Manuskript,
verglichen mit dem Text
des Buches, Moskau-Petrograd 1919,
Verlag , Kommunist
VORWORT ZUR ERSTEN AUFLAGE
Die Frage des Staates gewinnt gegenwärtig besondere Bedeutung so-
wohl in theoretischer als auch in praktisch-politischer Hinsicht. Der im-
perialistische Krieg hat den Prozeß der Umwandlung des monopolisti-
schen Kapitalismus in staatsmonopolistischen Kapitalismus außerordent-
lich beschleunigt und verschärft.. Die ungeheuerliche Knechtung der
werktätigen Massen durch den Staat, der immer inniger mit den allmäch-
tigen Kapitalistenverbänden verschmilzt, wird immer ungeheuerlicher.
Die fortgeschrittenen Länder verwandeln sich - wir sprechen von ihrem
»Hinterland“ - in Militärzuchthäuser für die Arbeiter.
Die unerhörten Greuel und Unbilden des sich in die Länge ziehenden
Krieges machen die Lage der Massen unerträglich und steigern ihre
Empörung. Sichtbar reift die internationale proletarische Revolution her-
an. Die Frage nach ihrem Verhältnis zum Staat gewinnt praktische Be-
deutung.
Die in Jahrzehnten einer verhältnismäßig friedlichen Entwicklung an-
gesammelten Elemente des Opportunismus haben die in den offiziellen
sozialistischen Parteien der ganzen Welt herrschende Strömung des
Sozialchauvinismus geschaffen. Diese Strömung (Plechanow, Potressow,
Breschkowskaja, Rubanowitsch, dann in leicht verhüllter Form die Her-
ren Zereteli, Tschemow und Co. in Rußland; Scheidemann, Legien,
David u. a. in Deutschland; Renaudel, Guesde, Vandervelde in Frank-
reich und Belgien; Hyndman und die Fabier 32 in England usw. usf.)
- Sozialismus in Worten, Chauvinismus in der Tat - ist gekennzeichnet
durch die niederträchtige, lakaienhafte Anpassung der „Führer des Sozia-
lismus“ an die Interessen nicht nur „ihrer“ nationalen Bourgeoisie, son-
396
W. I. Lenin
dem namentlich auch „ihres“ Staates, denn die meisten sogenannten
Großmächte beuten seit langem eine ganze Reihe kleiner und schwacher
Völkerschaften aus und unterjochen sie. Der imperialistische Krieg ist ja
gerade ein Krieg um die Teilung und Neuverteilung dieser Art von
Beute. Der Kampf um die Befreiung der werktätigen Massen vom Ein-
fluß der Bourgeoisie im allgemeinen und der imperialistischen Bourgeoi-
sie im besonderen ist ohne Bekämpfung der opportunistischen Vorurteile
in bezug auf den „Staat“ unmöglich.
Wir betrachten zunächst die Lehre von Marx und Engels vom Staat
und wollen besonders eingehend bei den in Vergessenheit geratenen
oder opportunistisch entstellten Seiten dieser Lehre verweilen. Dann
werden wir uns insbesondere mit dem Hauptvertreter dieser Entstellun-
gen befassen, mit Karl Kautsky, dem bekanntesten Führer der II. Inter-
nationale (1889-1914), die in diesem Kriege einen so jämmerlichen
Bankrott erlitten hat. Schließlich werden wir die Hauptergebnisse der
Erfahrungen der rassischen Revolution von 1905 und besonders der von
1917 zusammenfassen. Die letztere schließt anscheinend gegenwärtig
(Anfang August 1917) die erste Phase ihrer Entwicklung ab, jedoch
kann diese ganze Revolution überhaupt nur verstanden werden als ein
Glied in der Kette der sozialistischen proletarischen Revolutionen, die
durch den imperialistischen Krieg hervorgerafen werden. Die Frage des
Verhältnisses der sozialistischen Revolution des Proletariats zum Staat
gewinnt somit nicht nur eine praktisch-politische, sondern auch eine
höchst aktuelle Bedeutung als eine Frage der Aufklärung der Massen
darüber, was sie zu ihrer Befreiung vom Joch des Kapitals in der näch-
sten Zukunft zu tun haben.
August 1917 Der Verfasser
VORWORT ZUR ZWEITEN AUFLAGE
Die vorliegende zweite Auflage wird fast ohne Änderungen gedruckt.
Hinzugefügt ist nur der Abschnitt 3 des II. Kapitels.
Moskau, den 17. Dezember 1918
Der Verfasser
Staat und Revolution
397
I. KAPITEL
KLASSENGESELLSCHAFT UND STAAT
1. Der Staat — ein Produkt
der Unversöhnlichkeit der Klassengegensätze
Mit der Lehre von Marx geschieht jetzt dasselbe, was in der Ge-
schichte wiederholt mit den Lehren revolutionärer Denker und Führer
der unterdrückten Klassen in ihrem Befreiungskampf geschah. Die gro-
ßen Revolutionäre wurden zu Lebzeiten von den unterdrückenden Klas-
sen ständig verfolgt, die ihrer Lehre mit wildestem Ingrimm und wütend-
stem Haß begegneten, mit zügellosen Lügen und Verleumdungen gegen
sie zu, Felde zogen. Nach ihrem Tode versucht man, sie in harmlose
Götzen zu verwandeln, sie sozusagen heiligzusprechen, man gesteht
ihrem Namen einen gewissen Ruhm zu zur „Tröstung“ und Betörung
der unterdrückten Klassen, wobei man ihre revolutionäre Lehre des
Inhalts beraubt, ihr die revolutionäre Spitze abbricht, sie vulgarisiert.
Bei solch einer „Bearbeitung“ des Marxismus findet sich jetzt die Bour-
geoisie mit den Opportunisten innerhalb der Arbeiterbewegung zusam-
men. Man vergißt, verdrängt und entstellt die revolutionäre Seite der
Lehre, ihren revolutionären Geist. Man schiebt in den Vordergrund, man
rühmt das, was für die Bourgeoisie annehmbar ist oder annehmbar
erscheint. Alle Sozialchauvinisten sind heutzutage „Marxisten“ - Spaß
beiseite! Und immer häufiger sprechen deutsche bürgerliche Gelehrte,
deren Spezialfach gestern noch die Ausrottung des Marxismus war, von
dem „nationaldeutschen" Marx, der die zur Führung des Raubkrieges so
glänzend organisierten Arbeiterverbände erzogen haben soll!
Bei dieser Sachlage, bei der unerhörten Verbreitung, die die Entstel-
lungen des Marxismus gefunden haben, besteht unsere Aufgabe in erster
Linie in der Wiederherstellung der wahren Marxschen Lehre vom Staat.
Dazu wird es notwendig sein, eine ganze Reihe langer Zitate aus den
398 W. I. Lettin
Werken von Marx und Engels selbst anzuführen Gewiß, die langen
Zitate werden die Darstellung schwerfällig machen und ihrer Gemein-
verständlichkeit keineswegs förderlich sein. Es ist aber absolut unmög-
lich, ohne sie auszukommen. Alle oder zumindest alle entscheidenden
Stellen aus den Werken von Marx und Engels über die Frage des Staates
müssen unbedingt möglichst vollständig angeführt werden, damit sich
der Leser ein selbständiges Urteil bilden kann über die gesamten Auf-
fassungen der Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus und über die
Entwicklung dieser Auffassungen, dann aber auch, um deren Entstellung
durch das heute herrschende „Kautskyanertum“ dokumentarisch nach-
zuweisen und anschaulich vor Augen zu führen.
Wir beginnen mit dem verbreitetsten Werk von Friedrich Engels:
.Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“, das
1894 in Stuttgart bereits in sechster Auflage erschienen ist. Wir sind
gezwungen, die Zitate selber aus dem deutschen Original zu übersetzen,
da die russischen Übersetzungen, so zahlreich sie sind, zum größten Teil
entweder unvollständig oder äußerst unbefriedigend sind.
„Der Staat“, sagt Engels bei der Zusammenfassung seiner ge-
schichtlichen Analyse, .ist also keineswegs eine der Gesellschaft
von außen aufgezwungne Macht; ebensowenig ist er ,die Wirk-
lichkeit der sittlichen Idee*, ,das Bild und die Wirklichkeit der Ver-
nunft“, wie Hegel behauptet. Er ist vielmehr ein Produkt der Gesell-
schaft auf bestimmter Entwicklungsstufe; er ist das Eingeständnis,
daß diese Gesellschaft sich in einen unlösbaren Widerspruch mit
sich selbst verwickelt, sich in unversöhnliche Gegensätze gespalten
hat, die zu bannen sie ohnmächtig ist. Damit aber diese Gegen-
sätze, Klassen mit widerstreitenden ökonomischen Interessen, nicht
sich und die Gesellschaft in fruchtlosem Kampf verzehren, ist eine
scheinbar über der Gesellschaft stehende Macht nötig geworden,
die den Konflikt dämpfen, innerhalb der Schranken der .Ordnung“
halten soll; und diese, aus der Gesellschaft hervorgegangne, aber
sich über sie stellende, sich ihr mehr und mehr entfremdende Macht
ist der Staat.“ (S. 177/178 der sechsten deutschen Auflage.) 93
Hier ist mit voller Klarheit der Grundgedanke des Marxismus über die
historische Rolle und die Bedeutung des Staates zum Ausdruck gebracht.
Der Staat ist das Produkt und die Äußerung der Unversöhnlidrkeit der
Staat und Revolution 399
Klassengegensätze. Der Staat entsteht dort, dann und insofern, wo, wann
und inwiefern die Klassengegensätze objektiv nickt versöhnt werden
können. Und umgekehrt: Das Bestehen des Staates beweist, daß die
Klassengegensätze unversöhnlich sind.
Gerade in diesem wichtigsten und grundlegenden Punkt beginnt die
Entstellung des Marxismus, die in zwei Hauptlinien verläuft.
Auf der einen Seite pflegen bürgerliche und besonders kleinbürger-
liche Ideologen - die sich unter dem Druck unbestreitbarer geschicht-
licher Tatsachen gezwungen sehen, anzuerkennen, daß der Staat nur
dort vorhanden ist, wo es Klassengegensätze und Klassenkampf gibt -
Marx in der Weise „zu verbessern“, daß der Staat sich als Organ der
Klassenversöhnung erweist. Nach Marx hätte der Staat weder entstehen
noch bestehen können, wenn eine Versöhnung der Klassen möglich wäre.
Bei den kleinbürgerlichen und philisterhaften Professoren und Publi-
zisten kommt es - oft unter wohlwollenden Hinweisen auf Marx! - so
heraus, daß der Staat gerade die Klassen versöhne. Nach Marx ist der
Staat ein Organ der Klassenherrschaft, ein Organ zur Unterdrückung
der einen Klasse durch die andere, ist die Errichtung derjenigen „Ord-
nung“, die diese Unterdrückung sanktioniert und festigt, indem sie den
Konflikt der Klassen dämpft. Nach Ansicht der kleinbürgerlichen Politi-
ker ist die Ordnung gerade die Versöhnung der Klassen und nicht die
Unterdrückung der einen Klasse durch die andere; den Konflikt dämpfen
bedeute versöhnen und nicht, es den unterdrückten Klassen unmöglich
machen, bestimmte Mittel un$l Methoden des Kampfes zum Sturz der
Unterdrücker zu gebrauchen.
Alle Sozialrevolutionäre und Menschewiki zum Beispiel sind während
der Revolution 1917, als sich die Frage nach der Bedeutung und der
Rolle des Staates gerade in ihrer ganzen Größe erhob, sich praktisch
erhob als Frage der sofortigen Aktion, und zudem der Massenaktion -
alle sind sie mit einem Schlag gänzlich zur kleinbürgerlichen Theorie der
„Versöhnung“ der Klassen durch den „Staat“ hinabgesunken. Die zahl-
losen Resolutionen und Artikel der Politiker dieser beiden Parteien sind
völlig von dieser kleinbürgerlichen und philisterhaften Theorie der „Ver-
söhnung“ durchdrungen. Daß der Staat das Organ der Herrschaft einer
bestimmten Klasse ist, die mit ihrem Antipoden (der ihr entgegengesetz-
ten Klasse) nicht versöhnt werden kann, das vermag die kleinbürger-
400
W. I. Lenin
liehe Demokratie nie zu begreifen. Das Verhältnis zum Staat ist eines
der anschaulichsten Zeugnisse dafür, daß unsere Sozialrevolutionäre und
Menschewiki gar keine Sozialisten sind (was wir Bolschewiki schon immer
nachwiesen), sondern kleinbürgerliche Demokraten mit einer beinah-
sozialistischen Phraseologie.
Auf der anderen Seite ist die „kautskyanische“ Entstellung des Mar-
xismus viel feiner. „Theoretisch“ wird weder in Abrede gestellt, daß der
Staat ein Organ der Klassenherrschaft ist noch daß die Klassengegen-
sätze unversöhnlich sind. Außer acht gelassen oder vertuscht wird aber
folgendes: Wenn der Staat das Produkt der Unversöhnlichkeit der Klas-
sengegensätze ist, wenn er eine über der Gesellschaft stehende und
„sich ihr mehr und mehr entfremdende“ Macht ist, so
ist es klar, daß die Befreiung der unterdrückten Klasse unmöglich ist
nicht nur ohne gewaltsame Revolution, sondern auch ohne
Vernichtung des von der herrschenden Klasse geschaffenen Appa-
rats der Staatsgewalt, in dem sich diese „Entfremdung“ verkörpert.
Diese theoretisch von selbst einleuchtende Schlußfolgerung hat Marx,
wie wir weiter unten sehen werden, auf Grund einer konkreten histo-
rischen Analyse der Aufgaben der Revolution mit größter Bestimmtheit
gezogen. Und gerade diese Schlußfolgerung hat Kautsky, wir werden das
ausführlich in unserer weiteren Darlegung nachweisen vergessen“
und entstellt.
2. Besondere Formationen bewaffneter Menschen.
Gefängnisse u. a.
„Gegenüber der alten Gentilorganisation“, fährt Engels fort,
„kennzeichnet sich der Staat erstens durch die Einteilung der Staats-
angehörigen nach dem Gebiet.“
Uns kommt diese Einteilung „natürlich“ vor, sie hat aber einen
langwierigen Kampf gegen die alte Organisation nach Geschlech-
tern und Stämmen erfordert.
„Das zweite ist die Einrichtung einer öffentlichen Gewalt, welche
nicht mehr unmittelbar zusammenfällt mit der sich selbst als bewaff-
nete Macht organisierenden Bevölkerung. Diese besondre, öffent-
liche Gewalt ist nötig, weil eine selbsttätige bewaffnete Organisation
Staat und Revolution 401
der Bevölkerung unmöglich geworden seit der Spaltung in Klas-
sen . . . Diese öffentliche Gewalt existiert in jedem Staat; sie besteht
nicht bloß aus bewaffneten Menschen, sondern auch aus sachlichen
Anhängseln, Gefängnissen und Zwangsanstalten aller Art, von
denen die Gentilgesellschaft nichts wußte.“
Engels entwickelt nun den Begriff jener „Macht“, die man als Staat
bezeichnet, der Macht, die aus der Gesellschaft hervorgegangen ist, sich
aber über sie stellt und sich ihr mehr und mehr entfremdet. Worin be-
steht hauptsächlich diese Macht? In besonderen Formationen bewaffne-
ter Menschen, die Gefängnisse und anderes zu ihrer Verfügung haben.
Wir sind berechtigt, von besonderen Formationen bewaffneter Men-
schen zu sprechen, weil die jedem Staat eigentümliche öffentliche Gewalt
„nicht mehr unmittelbar zusammenfällt“ mit der bewaffneten Bevölke-
rung, mit ihrer „selbsttätigen bewaffneten Organisation“.
Wie alle großen revolutionären Denker sucht Engels die Aufmerksam-
keit der klassenbewußten Arbeiter gerade auf das zu lenken, was dem
herrschenden Spießertum am wenigsten beachtenswert, am gewohnte-
sten erscheint, auf das, was nicht nur durch fest eingewurzelte, sondern,
man kann sagen, durch verknöcherte Vorurteile geheiligt ist. Das ste-
hende Heer und die Polizei sind die Hauptwerkzeuge der Gewaltaus-
übung der Staatsmacht, aber - kann denn das anders sein?
Vom Standpunkt der ungeheuren Mehrheit der Europäer am Ausgang
des 19. Jahrhunderts, an die sich Engels wandte und die keine einzige
große Revolution selbst miterlebt oder aus der Nähe beobachtet hatten,
kann das nicht anders sein. Für sie ist es völlig unverständlich, was das
für eine „selbsttätige bewaffnete Organisation der Bevölkerung“ ist. Auf
die Frage, warum besondere, über die Gesellschaft gestellte und sich ihr
entfremdende Formationen bewaffneter Menschen (Polizei, stehendes
Heer) nötig geworden seien, ist der westeuropäische und der russische
Philister geneigt, mit ein paar bei Spencer oder Michailowski entlehnten
Phrasen zu antworten, auf die Komplizierung des öffentlichen Lebens,
die Differenzierung der Funktionen u. dgl. m. hinzuweisen.
Ein solcher Hinweis hat den Anschein der „Wissenschaftlichkeit“ und
schläfert den Spießbürger vortrefflich ein, da er das Wichtigste und
Grundlegende vertuscht; die Spaltung der Gesellschaft in einander un-
versöhnlich feindliche Klassen.
36 Lenin. Werke. Bd. 25
402
W.I. Lenin
Ohne diese Spaltung würde sich die „selbsttätige bewaffnete Organi-
sation der Bevölkerung“ zwar durch ihre Kompliziertheit, die Höhe ihrer
Technik usw. von der primitiven Organisation der mit Baumästen be-
waffneten Affenherde oder der des Urmenschen oder der in der Gentil-
gesellschaft zusammengeschlossenen Menschen unterscheiden, aber eine
derartige Organisation wäre möglich.
Sie ist unmöglich, weil die zivilisierte Gesellschaft in feindliche und
noch dazu unversöhnlich feindliche Klassen gespalten ist, deren „selbst-
tätige“ Bewaffnung zu einem bewaffneten Kampf unter ihnen führen
würde. Es bildet sich der Staat heraus, es wird eine besondere Macht
geschaffen, besondere Formationen bewaffneter Menschen entstehen,
und jede Revolution, die den Staatsapparat zerstört, zeigt uns sehr deut-
lich, wie die herrschende Klasse die ihr dienenden besonderen Forma-
tionen bewaffneter Menschen zu erneuern sucht und wie die unter-
drückte Klasse danach strebt, eine neue Organisation dieser Art zu
schaffen, die fähig ist, nicht den Ausbeutern, sondern den Ausgebeu-
teten zu dienen.
Engels wirft in der angeführten Betrachtung theoretisch dieselbe Frage
auf, die uns jede große Revolution in der Praxis anschaulich und zu-
dem im Ausmaß der Massenaktion stellt, nämlich die Frage nach dem
Verhältnis zwischen den „besonderen“ Formationen bewaffneter Men-
schen und der „selbsttätigen bewaffneten Organisation der Bevölke-
rung“. Wir werden sehen, wie diese Frage durch die Erfahrungen der
europäischen und der russischen Revolutionen konkret illustriert wird.
Doch kehren wir zur Darstellung von Engels zurück.
Er weist darauf hin, daß zuweilen, zum Beispiel hier und dort in
Nordamerika, diese öffentliche Gewalt schwach ist (es handelt sich um
eine für die kapitalistische Gesellschaft seltene Ausnahme und um die-
jenigen Teile Nordamerikas in seiner vorimperialistischen Periode, wo
der freie Kolonist vorherrschte), daß sie sich aber, allgemein gesprochen,
verstärkt:
„Sie“ (die öffentliche Gewalt) „verstärkt sich aber in dem Maß,
wie die Klassengegensätze innerhalb des Staats sich verschärfen
und wie die einander begrenzenden Staaten größer und volkreicher
werden - man sehe nur unser heutiges Europa an, wo Klassen-
kampf und Eroberungskonkurrenz die öffentliche Macht auf eine
Höhe emporgeschraubt haben, auf der sie die ganze Gesellschaft
und selbst den Staat zu verschlingen droht."
Das ist nicht später als Anfang der neunziger Jahre des vorigen Jahr-
hunderts geschrieben worden. Das letzte Vorwort von Engels datiert
vom 16. Juni 1891. Damals nahm die Wendung zum Imperialismus
- sowohl im Sinne der völligen Herrschaft der Trusts und der Allmacht
der größten Banken als auch im Sinne einer grandiosen Kolonialpolitik
usw. - in Frankreich gerade erst ihren Anfang, noch schwächer war sie
in Nordamerika und in Deutschland. Seitdem hat die „Eroberungskon-
kurrenz“ Riesenschritte vorwärts getan, um so mehr, als zu Beginn des
zweiten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts der Erdball endgültig unter
diese „konkurrierenden Eroberer“, d. h. die räuberischen Großmächte,
aufgeteilt war. Seit dieser Zeit sind die Rüstungen zu Lande und zu
Wasser ins Ungeheure gewachsen, und der Raubkrieg 1914-1917 um
die Beherrschung der Welt durch England oder Deutschland, um die
Teilung der Beute hat das „Verschlingen“ aller Kräfte der Gesellschaft
durch die räuberische Staatsmacht in solchem Maße gesteigert, daß eine
völlige Katastrophe naht.
Engels vermochte schon 1891 auf die „Eroberungskonkurrenz“ als auf
eines der wichtigsten Merkmale der Außenpolitik der Großmächte hin-
zuweisen; doch in den Jahren 1914-1917, als gerade diese um ein viel-
faches verschärfte Konkurrenz den imperialistischen Krieg hervorgeru-
fen hat, bemänteln die Halunken des Sozialchauvinismus die Verteidi-
gung der Raubinteressen „ihrer“ Bourgeoisie mit Phrasen über „Verteidi-
gung des Vaterlandes“, über „Schutz der Republik und der Revolution“
u. dgl. m. !
3. Der Staat - ein Werkzeug zur Ausbeutung der unterdrückten Klasse
Zur Aufrechterhaltung einer besonderen, über der Gesellschaft ste-
henden öffentlichen Gewalt sind Steuern und Staatsschulden nötig.
„Im Besitz der öffentlichen Gewalt und des Rechts der Steuer-
eintreibung“, schreibt Engels, „stehn die Beamten nun da als Or-
gane der Gesellschaft über der Gesellschaft. Die freie, willige Ach-
tung, die den Organen der Gentilverfassung gezollt wurde, genügt
ihnen nicht, selbst wenn sie sie haben könnten ..." Es werden Aus-
404
W.I. Lettin
; nahmegesetze über die Heiligkeit und Unverletzlichkeit der Beam-
ten geschaffen. „Der lumpigste Polizeidiener . . . hat mehr .Autori-
tät' als alle Organe der Gentilgesellschaft zusammengenommen;
aber der mächtigste Fürst und der größte Staatsmann oder Feldherr .
der Zivilisation kann den geringsten Gentilvorsteher beneiden um
die unerzwungne und .unbestrittene Achtung, die ihm gezollt wird.“
Hier wird die Frage nach der privilegierten Stellung der Beamten als
Organe der Staatsgewalt aufgeworfen. Als das Grundlegende wird her-
vorgehoben: Was stellt sie über die Gesellschaft? Wir werden sehen, wie
die Pariser Kommune 1S71 diese theoretische Frage praktisch zu lösen
suchte und wie Kautsky sie 1912 reaktionär vertuschte.
„Da der Staat entstanden ist aus dem Bedürfnis, Klassengegen-
sätze im .Zaum zu halten, da er aber gleichzeitig mitten im Kon-
flikt dieser Klassen entstanden ist, so ist er in der Regel Staat der
mächtigsten, ökonomisch herrschenden Klasse, die vermittelst seiner
auch politisch herrschende Klasse wird und so neue Mittel erwirbt
zur Niederhaltung und Ausbeutung der unterdrückten Klasse.“
Nicht nur der antike und der Feudalstaat waren Organe zur Aus-
beutung der Sklaven und leibeigenen und hörigen Bauern, sondern
es ist auch „der moderne Repräsentativstaat Werkzeug der Aus-
beutung der Lohnarbeit durch das Kapital. Ausnahmsweise indes
kommen Perioden vor, wo die kämpfenden Klassen einander so
nahe das Gleichgewicht halten, daß die Staatsgewalt als scheinbare
Vermittlerin momentan eine gewisse Selbständigkeit gegenüber bei-
den erhält.“ So die absolute Monarchie des 17. und 18. Jahrhun-
derts, so der Bonapartismus des ersten und des zweiten Kaiserreichs
in Frankreich, so Bismarck in Deutschland.
Und so - fügen wir von uns hinzu - die Regierung Kerenski im repu-
blikanischen Rußland, nachdem sie dazu übergegangen ist, das revolu-
tionäre Proletariat zu verfolgen, in einem Moment, da die Sowjets infolge
der Führung der kleinbürgerlichen Demokraten schon machtlos sind und
die Bourgeoisie nodt nicht stark genug ist, um sie ohne weiteres ausein-
anderzujagen.
In der demokratischen Republik, fährt Engels fort, „übt der
Reichtum seine Macht indirekt, aber um so sichrer aus“, und zwar
erstens durch die „direkte Beamtenkorruption“ (Amerika) und
Staat und Revolution
405
zweitens durch die „Allianz von Regierung und Börse“ (Frankreich
und Amerika).
Heute haben Imperialismus und Herrschaft der Banken diese beiden
Methoden, die Allmacht des Reichtums in jeder beliebigen demokrati-
schen Republik zu behaupten und auszuüben, zu einer außergewöhn-
lichen Kunst „entwickelt“. Wenn beispielsweise schon; in den ersten Mo-
naten der demokratischen Republik in Rußland, sozusagen im Honig-
mond des Ehebundes der „Sozialisten“ - der Sozialrevolutionäre und
der Menschewiki - mit der Bourgeoisie, Herr Paltschinski in der Koali-
tionsregierung alle Maßnahmen zur Zügelung der Kapitalisten und ihrer
Raubgier, ihrer Plünderung der Staatskasse durch Heereslieferungen, sa-
botierte, wenn dann der aus dem Ministerium ausgetretene Herr Pal-
tschinski (der natürlich durch einen anderen, ebensolchen Paltschinski
ersetzt worden ist) von den Kapitalisten durch ein Postchen mit einem
Gehalt von 120 000 Rubel jährlich „belohnt“ wurde - wie nennt man
das dann? Direkte Korruption oder indirekte? Allianz der Regierung
mit den Syndikaten oder „nur“ freundschaftliche Beziehungen? Welche
Rolle spielen die Tschemow und Zereteli, die Awksentjew und Skobe-
lew? Sind sie „direkte“ Bundesgenossen der Millionäre, die den Staat be-
stehlen, oder nur indirekte?
Die Allmacht des „Reichtums“ ist in der demokratischen Republik
deshalb sicherer, weil sie nicht von einzelnen Mängeln des politischen Me-
chanismus, von einer schlechten politischen Hülle des Kapitalismus ab-
hängig ist. Die demokratische Republik ist die denkbar beste politische
Hülle des Kapitalismus, und daher begründet das Kapital, nachdem es
(durch die Paltschinski, Tschemow, Zereteli und Co.) von dieser besten
Hülle Besitz ergriffen hat, seine Macht derart zuverlässig, derart sicher, daß
kein Wechsel, weder der Personen noch der Institutionen noch der Parteien
der bürgerlich-demokratischen Republik, diese Macht erschüttern kann.
Es muß noch hervorgehoben werden, daß Engels mit größter Ent-
schiedenheit das allgemeine Stimmrecht als Werkzeug der Herrschaft der
Bourgeoisie bezeichnet. Das allgemeine Stimmrecht, sagt er unter offen-
sichtlicher Berücksichtigung der langjährigen Erfahrungen der deutschen
Sozialdemokratie, ist
„. . . der Gradmesser der Reife der Arbeiterklasse. Mehr kann und
wird es nie sein im heutigen Staat ..."
406
W.I. Lenin
Die kleinbürgerlichen Demokraten vom Schlage unserer Sozialrevo-
lutionäre und Menschewiki sowie ihre leiblichen Brüder, alle Sozial-
chauvinisten und Opportunisten Westeuropas, erwarten eben vom all-
gemeinen Stimmrecht .mehr“. Sie sind in dem falschen Gedanken be-
fangen und suggerieren ihn dem Volke, das allgemeine Stimmrecht sei
„im heutigen Staat“ imstande, den Willen der Mehrheit der Werk-
tätigen wirklich zum Ausdruck zu bringen und seine Realisierung zu
sichern.
Wir können hier diesen falschen Gedanken nur anführen, nur dar-
auf hinweisen, daß die vollkommen klare, genaue, konkrete Erklärung
von Engels in der Propaganda und Agitation der „offiziellen“ (d. h.
opportunistischen) sozialistischen Parteien auf Schritt und Tritt entstellt
wird. Wie völüg falsch dieser Gedanke ist. den Engels hier verwirft, wird
in unseren weiteren Darlegungen der Auffassungen von Marx und En-
gels über den „ heutigen “ Staat ausführlich klargelegt.
Engels faßt seine Auffassungen in seinem populärsten Werk in folgen-
den Worten zusammen :
„Der Staat ist also nicht von Ewigkeit her. Es hat Gesellschaften
gegeben, die ohne ihn fertig wurden, die von Staat und Staats-
gewalt keine Ahnung hatten. Auf einer bestimmten Stufe der öko-
nomischen Entwicklung, die mit Spaltung der Gesellschaft in Klas-
sen notwendig verbunden war, wurde durch diese Spaltung der Staat
eine Notwendigkeit. Wir nähern uns jetzt mit raschen Schritten
einer Entwicklungsstufe der Produktion, auf der das Dasein dieser
Klassen nicht nur aufgehört hat, eine Notwendigkeit zu sein, son-
dern ein positives Hindernis der Produktion wird. Sie werden fal-
len, ebenso unvermeidlich, wie sie früher entstanden sind. Mit ihnen
fällt unvermeidlich der Staat. Die Gesellschaft, die die Produktion
auf Grundlage freier und gleicher Assoziation der Produzenten neu
organisiert, versetzt die ganze Staatsmaschine dahin, wohin sie dann
gehören wird: ins Museum der Altertümer, neben das Spinnrad und
die bronzene Axt.“
Man trifft dieses Zitat in der Propaganda- und Agitationsliteratur der
heutigen Sozialdemokratie nicht oft an. Aber selbst dann, wenn dieses
Zitat vorkommt, gebraucht man es meistenteils so, als machte man eine
Verbeugung vor einem Heiligenbild, d. h. als offizielle Bekundung der
Staat und Revolution 407
Ehrerbietung vor Engels, ohne jeden Versuch, zu erfassen, einen wie
weittragenden und tiefgreifenden Aufschwung der Revolution dieses
„Versetzen der ganzen Staatsmaschine ins Museum der Altertümer“ vor-
aussetzt. Meistenteils fehlt sogar das Verständnis für das, was Engels als
Staatsmaschine bezeichnet.
4. Das „Absterben“ des Staates und die gewaltsame Revolution
Die Worte Engels’ über das „Absterben“ des Staates sind weit und
breit so bekannt, sie werden so oft zitiert, zeigen so plastisch, worin die
Quintessenz der landläufigen Verfälschung des Marxismus zum Oppor-
tunismus besteht, daß es geboten erscheint, eingehend bei ihnen zu ver-
weilen. Wir zitieren die ganze Betrachtung, der sie entnommen sind:
„Das Proletariat ergreift die Staatsgewalt und verwandelt die
Produktionsmittel zunächst in Staatseigentum. Aber damit hebt es
sich selbst als Proletariat, damit hebt es alle Klassenunterschiede
und Klassengegensätze auf, und damit auch den Staat als Staat. Die
bisherige, sich in Klassengegensätzen bewegende Gesellschaft hatte
den Staat nötig, das heißt eine Organisation der jedesmaligen aus-
beutenden Klasse zur Aufrechterhaltung ihrer äußern Produktions-
bedingungen, also namentlich zur gewaltsamen Niederhaltung der
ausgebeuteten Klasse in den durch die bestehende Produktionsweise
gegebnen Bedingungen der Unterdrückung (Sklaverei, Leibeigen-
schaft oder Hörigkeit, Lohnarbeit). Der Staat war der offizielle Re-
präsentant der ganzen Gesellschaft, ihre Zusammenfassung in einer
sichtbaren Körperschaft, aber er war dies nur, insofern er der Staat
derjenigen Klasse war, welche selbst für ihre Zeit die ganze Ge-
sellschaft vertrat: im Altertum Staat der sklavenhaltenden Staats-
bürger, im Mittelalter des Feudaladels, in unsrer Zeit der Bour-
geoisie. Indem er endlich tatsächlich Repräsentant der ganzen Ge-
sellschaft wird, macht er sich selbst überflüssig. Sobald es keine Ge-
sellschaftsklasse mehr in der Unterdrückung zu halten gibt, sobald
mit der Klassenherrschaft und dem in der bisherigen Anarchie der
Produktion begründeten Kampf ums Einzeldasein auch die daraus
entspringenden Kollisionen und Exzesse beseitigt sind, gibt es nichts
408
W. I. Lenin
mehr zu reprimieren, das eine besondre Repressionsgewalt, einen
Staat, nötig machte. Der erste Akt, worin der Staat wirklich als
Repräsentant der ganzen Gesellschaft auftritt - die Besitzergrei-
fung der Produktionsmittel im Namen der Gesellschaft -, ist zu-
gleich sein letzter selbständiger Akt als Staat. Das Eingreifen einer
Staatsgewalt in gesellschaftliche Verhältnisse wird auf einem Ge-
biete nach dem andern überflüssig und schläft dann von selbst ein.
An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von
Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen. Der Staat wird
• nicht ,abgeschafft‘, er stirbt ab. Hieran ist die Phrase vom .freien
Volksstaat' zu messen, also sowohl nach ihrer zeitweiligen agita-
torischen Berechtigung wie nach ihrer endgültigen wissenschaftlichen
Unzulänglichkeit; hieran ebenfalls die Forderung der sogenannten
Anarchisten, der Staat solle von heute auf morgen abgeschafft wer-
den.“ CAnti-Dühring“, „Herrn Eugen Dührings Umwälzung der
Wissenschaft“, dritte deutsche Auflage, S. 301-303.) 94
Ohne zu fürchten fehlzugehen, darf man sagen, daß von dieser wun-
derbar gedankenreichen Engelsschen Betrachtung nur so viel wirkliches
Gemeingut des sozialistischen Denkens in den heutigen sozialistischen
Parteien geworden ist, daß der Staat nach Marx „abstirbt“, im Unter-
schied zur anarchistischen Lehre von der „Abschaffung" des Staates. Den
Marxismus so zurechtstutzen heißt ihn zu Opportunismus herabmindem,
denn bei einer solchen „Auslegung“ bleibt nur die vage Vorstellung von
einer langsamen, gleichmäßigen, allmählichen Veränderung übrig, als
gebe es keine Sprünge und Stürme, als gebe es keine Revolution. Das
„Absterben“ des Staates im landläufigen, allgemein verbreiteten Sinne,
im Massensinne, wenn man so sagen darf, bedeutet zweifellos eine Ver-
tuschung, wenn nicht gar eine Verneinung der Revolution.
Indessen bedeutet eine solche „Auslegung“ die gröbste, nur für die
Bourgeoisie vorteilhafte Entstellung des Marxismus, die theoretisch auf
dem Außerachtlassen der wichtigsten Umstände und Erwägungen beruht,
wie sie allein schon in der gleichen, von uns vollständig zitierten „zu-
sammenfassenden“ Betrachtung vonl Engels daigelegt sind.
Erstens. Ganz zu Anfang dieser Betrachtung sagt Engels, daß das Pro-
letariat, indem es die Staatsgewalt eigreift, „den Staat als Staat aufhebt“.
Darüber nachzudenken, was das zu bedeuten hat, ist „nicht üblich“.
Staat und Revolution
409
Gewöhnlich wird dies entweder ganz ignoriert oder für eine Art „hegelia-
nische Schwäche“ von Engels gehalten. In Wirklichkeit drücken diese
Worte kurz die Erfahrungen einer der größten proletarischen Revolu-
tionen, die Erfahrungen der Pariser Kommune von 1871 aus, worüber
an entsprechender Stelle ausführlicher gesprochen werden soll. In Wirk-
lichkeit spricht Engels hier von der „Aufhebung“ des Staates der Bour-
geoisie durch die proletarische Revolution, während sich die Worte vom
Absterben auf die Überreste des proletarischen Staatswesens -nach der
sozialistischen Revolution beziehen. Der bürgerliche Staat „stirbt“ nach
Engels nicht „ab“, sondern er wird in der Revolution vom Proletariat
„ aufgehoben “. Nach dieser Revolution stirbt der proletarische Staat
oder Halbstaat ab.
Zweitens. Der Staat ist „eine besondre Repressionsgewalt“. Diese
großartige und überaus tiefe Definition legt Engels hier ganz klar und
eindeutig dar. Aus ihr folgt aber, daß die „besondre Repressionsgewalt“
der Bourgeoisie gegen das Proletariat, einer Handvoll reicher Leute ge-
gen die Millionen der Werktätigen, abgelöst werden muß durch eine
„besondre Repressionsgewalt“ des Proletariats gegen die Bourgeoisie
(die Diktatur des Proletariats). Darin eben besteht die „Aufhebung des
Staates als Staat“. Darin eben besteht der „Akt“ der Besitzergreifung
der Produktionsmittel im Namen der Gesellschaft. Und es ist ohne wei-
teres klar, daß eine solche Ablösung der einen (bürgerlichen) „beson-
dren Gewalt“ durch eine andere (proletarische) „besondre Gewalt“ unter
keinen Umständen in Form des „Absterbens“ erfolgen kann.
Drittens. Vom „Absterben“ und noch plastischer und bildhafter vom
„Einschlafen“ spricht Engels ganz klar und eindeutig in bezug auf die
Epoche nach der „Besitzergreifung der Produktionsmittel durch den
Staat im Namen der ganzen Gesellschaft“, d. h. nach der sozialisti-
schen Revolution. Wir wissen alle, daß die politische Form des „Staates"
in dieser Zeit die vollkommenste Demokratie ist. Doch keinem der Op-
portunisten, die den Marxismus schamlos verzerren, kommt es in den
Sinn, daß hier bei Engels somit vom „Einschlafen“ und „Absterben“ der
Demokratie die Rede ist. Auf den ersten Blick mag das sehr son-
derbar erscheinen. Doch „unverständlich“ bleibt das nur dem, der nicht
bedacht hat, daß die Demokratie auch ein Staat ist und daß folglich
auch die Demokratie verschwinden wird, sobald der Staat verschwindet.
410
W.I. Lenin
Den bürgerlidien Staat kann nur die Revolution „aufheben“. Der Staat
überhaupt, d. h. die vollkommenste Demokratie, kann nur „absterben“.
Viertens. Nachdem Engels seinen berühmten Satz „Der Staat stirbt
ab“ aufgestellt hat, erläutert er sofort konkret, daß dieser Satz sidi so-
wohl gegen die Opportunisten als auch gegen die Anarchisten richtet.
Dabei steht bei Engels an erster Stelle diejenige Folgerung aus dem Satz
vom „Absterben des Staates“, die gegen die Opportunisten gerichtet ist.
Man könnte wetten, daß von 10 000 Menschen, die vom „Absterben“
des Staates gelesen oder gehört haben, 9990 überhaupt nicht wissen oder
sich nicht entsinnen, daß Engels seine Schlußfolgerungen aus diesem
Satz nicht nur gegen die Anarchisten richtete. Und von den übrigen zehn
Menschen wissen neun sicherlich nicht, was der „freie Volksstaat" ist
und warum in dem Angriff auf diese Losung ein Angriff auf die Oppor-
tunisten steckt. So wird Geschichte geschrieben! So wird die große revo-
lutionäre Lehre unmerklich dem herrschenden Spießbürgertum ange-
paßt. Die Schlußfolgerung gegen die Anarchisten wurde Tausende Male
wiederholt, banalisiert ünd möglichst versimpelt in die Köpfe eingehäm-
mert und gewann die Festigkeit eines Vorurteils. Die Schlußfolgerung
gegen die Opportunisten aber wurde vertuscht und „vergessen“ !
Der „freie Volksstaat“ war eine Programmforderung und landläufige
Losung der deutschen Sozialdemokraten der siebziger Jahre. Irgend-
einen politischen Inhalt, außer einer kleinbürgerlich schwülstigen Um-
schreibung des Begriffs Demokratie, hat diese Losung nicht. Soweit in
. ihr legal die demokratische Republik angedeutet wurde, war Engels be-
reit, aus agitatorischen Gründen „zeitweilig“ die „Berechtigung“ dieser
Losung gelten zu lassen. Diese Losung war aber opportunistisch, denn
sie brachte nicht nur eine Beschönigung der bürgerlichen Demokratie,
sondern auch ein Verkennen der sozialistischen Kritik an jedwedem
Staat überhaupt zum Ausdruck. Wir sind für die demokratische Repu-
blik als die für das Proletariat unter dem Kapitalismus beste Staatsform,
aber wir dürfen nicht vergessen, daß auch in der allerdemokratischsten
bürgerlichen Republik Lohnsklaverei das Los des Volkes ist. Ferner. Jed-
weder Staat ist „eine besondre Repressionsgewalt“ gegen die unterdrückte
Klasse. Darum ist ein jeder Staat unfrei und kein Volksstaat. Marx und
Engels haben das ihren Parteigenossen in den siebziger Jahren wiederholt
auseinandergesetzt.
Fünftens. In dem gleichen Werk von Engels, in dem die Betrachtung
über das Absterben des Staates enthalten ist - an die sich alle erinnern
finden sich Ausführungen über die Bedeutung der gewaltsamen Revo-
lution. Die geschichtliche Bewertung ihrer Rolle wird bei Engels zu einer
wahren Lobrede auf die gewaltsame Revolution. Dessen „erinnert sich
niemand“; über die Bedeutung dieses Gedankens zu reden, ja auch
nur nachzudenken, ist in den heutigen sozialistischen Parteien nicht
üblich, in der täglichen Propaganda und Agitation unter den Massen
spielen diese Gedanken gar keine Rolle. Indes sind sie mit dem „Ab-
sterben“ des Staates untrennbar zu einem harmonischen Ganzen ver-
bunden.
Hier diese Ausführungen von Engels;
„Daß die Gewalt aber noch eine andre Rolle“ (als die einer Voll-
bringerin des Bösen) „in der Geschichte spielt, eine revolutionäre
Rolle, daß sie, in Marx’ Worten, die Geburtshelferin jeder alten
Gesellschaft ist, die mit einer neuen schwanger geht, daß sie das
Werkzeug ist, womit sich die gesellschaftliche Bewegung durchsetzt
und erstarrte, abgestorbne politische Formen zerbricht - davon
kein Wort bei Herrn Dühring. Nur unter Seufzen und Stöhnen
gibt er die Möglichkeit zu, daß zum Sturz der Ausbeutungswirt-
schaft vielleicht Gewalt nötig sein werde - leider I denn jede Ge-
waltsanwendung demoralisiere den, der sie anwendet. Und das an-
gesichts des hohen moralischen und geistigen Aufschwungs, der die
Folge jeder siegreichen Revolution war! Und das in Deutschland,
wo ein gewaltsamer Zusammenstoß, der dem Volk ja aufgenötigt
werden kann, wenigstens den Vorteil hätte, die aus der Erniedri-
gung des Dreißigjährigen Kriegs in das nationale Bewußtsein ge-
drungne Bedientenhaftigkeit auszutilgen. Und diese matte, saft- und
kraftlose Predigerdenkweise macht den Anspruch, sich der revolu-
tionärsten Partei aufzudrängen, die die Geschichte kennt?“ (S. 193,
dritte deutsche Auflage, Schluß des IV. Kapitels, Zweiter Ab-
schnitt.)
Wie läßt sich diese Lobrede auf die gewaltsame Revolution, die En-
gels beharrlich von 1878 bis 1894, d. h. bis zu seinem Tode, den deut-
schen Sozialdemokraten darbot, mit der Theorie vom „Absterben“ des
Staates in einer Lehre vereinen?
412
Gewöhnlich vereint man beides mit Hilfe des Eklektizismus, eines
ideenlosen oder sophistischen Herausgreifens willkürlich (oder den
Machthabern zu Gefallen) bald der einen, bald der anderen Betrach-
tung, wobei in 99 von 100 Fällen, wenn nicht noch öfter, gerade das
„Absterben“ in den Vordergrund geschoben wird. Die Dialektik wird
durch Eklektizismus ersetzt. Das ist, was den Marxismus anbelangt, die
allgemein übliche, am weitesten verbreitete Erscheinung in der offiziel-
len sozialdemokratischen Literatur unserer Tage. Ein solches Ersetzen
ist natürlich nichts Neues, es war sogar in der Geschichte der klassischen
griechischen Philosophie zu beobachten. Bei der Verfälschung des
Marxismus in Opportunismus pflegt die Verfälschung der Dialektik in
Eklektizismus die Massen am leichtesten zu täuschen, sie gewährt eine
scheinbare Befriedigung, berücksichtigt scheinbar alle Seiten des Pro-
zesses, alle Entwicklungstendenzen, alle widerspruchsvollen Einflüsse
usw., während sie in Wirklichkeit gar keine einheitliche, keine revolu-
tionäre Auffassung des gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses gibt.
Wir haben schon oben davon gesprochen und werden in der weiteren
Darstellung ausführlicher zeigen, daß die Lehre von Marx und Engels
von der Unvermeidlichkeit der gewaltsamen Revolution sich auf den
bürgerlichen Staat bezieht. Dieser kann durch den proletarischen Staat
(die Diktatur des Proletariats) nidit auf dem Wege des „Absterbens"
abgelöst werden, sondern, als allgemeine Regel, nur durch eine gewalt-
same Revolution. Die Lobrede, die Engels auf die gewaltsame Revolu-
tion hält und die den vielfachen Erklärungen von Marx durchaus ent-
spricht (erinnern wir uns an den Schluß des „Elends der Philosophie“ 95
und des „Kommunistischen Manifests“ 96 mit der stolzen und offenen
Erklärung, daß die gewaltsame Revolution unausbleiblich ist; erinnern
wir uns an die Kritik des Gothaer Programms vom Jahre 1875 97 , fast
dreißig Jahre später, in der Marx den Opportunismus dieses Programms
schonungslos geißelte) - diese Lobrede ist durchaus keine „Schwärme-
rei“, durchaus keine Deklamation, kein polemischer Ausfall. Die Not-
wendigkeit, die Massen systematisch in diesen, gerade in diesen Auf-
fassungen über die gewaltsame Revolution zu erziehen, liegt der ge-
samten Lehre von Marx und Engels zugrunde. Der Verrat an ihrer
Lehre durch die heutzutage vorherrschenden sozialchauvinistischen und
kautskyanischen Strömungen kommt besonders plastisch darin zum Aus-
Staat und Revolution 413
druck, daß man hier wie dort diese Propaganda, diese Agitation ver-
gessen hat.
Die Ablösung des bürgerlichen Staates durch den proletarischen ist
ohne gewaltsame Revolution unmöglich. Die Aufhebung des proleta-
rischen Staates, d. h. die Aufhebung jeglichen Staates, ist nicht anders
möglich als auf dem Wege des „Absterbens“.
Eine ausführliche und konkrete Entwicklung dieser Auffassungen lie-
ferten Marx und Engels, indem sie jede einzelne revolutionäre Situation
studierten, die Lehren aus den Erfahrungen jeder einzelnen Revolution
analysierten. Wir gehen nunmehr zu diesem fraglos wichtigsten Teil ihrer
Lehre über.
II. KAPITEL
STAAT UND REVOLUTION
DIE ERFAHRUNGEN DER JAHRE 1848-1851
1. Der Vorabend der Revolution
Die ersten Werke des reifen Marxismus, „Das Elend der Philoso-
phie“ und das „Kommunistische Manifest“, stammen aus der Zeit un-
mittelbar vor dem Ausbruch der Revolution von 1848. Infolgedessen be-
sitzen wir hier neben einer Darlegung der allgemeinen Grundlagen des
Marxismus bis zu einem gewissen Grade ein Spiegelbild der damaligen
konkreten revolutionären Situation, und so wäre es zweckmäßig, zu un-
tersuchen, was die Verfasser dieser Werke über den Staat ausführten,
unmittelbar bevor sie ihre Schlußfolgerungen aus den Erfahrungen der
Jahre 1848-1851 zogen.
„Die arbeitende Klasse“, schreibt Manc im „Elend der Philoso-
phie“, „wird im Laufe der Entwicklung an die Stelle der alten bür-
gerlichen Gesellschaft eine Assoziation setzen, welche die Klassen
und ihren Gegensatz ausschließt, und es wird keine eigentliche po-
litische Gewalt mehr geben, weil gerade die politische Gewalt der
offizielle Ausdruck des Klassengegensatzes innerhalb der bürger-
lichen Gesellschaft ist.“ (S. 182 der deutschen Ausgabe von 1885.) 98
414
W. I. Lenin
Es ist lehrreich, dieser allgemeinen Darlegung des Gedankens über
das Verschwinden des Staates nach der Aufhebung der Klassen die Aus-
führungen gegenüberzustellen, die in dem einige Monate später, näm-
lich im November 1847, von Marx und Engels verfaßten „Kommunisti-
schen Manifest“ enthalten sind:
„Indem wir die allgemeinsten Phasen der Entwicklung des Pro-
letariats zeichneten, verfolgten wir den mehr oder minder ver-
steckten Bürgerkrieg innerhalb der bestehenden Gesellschaft bis zu
dem Punkt, wo er in eine offene Revolution ausbricht und durch
den gewaltsamen Sturz der Bourgeoisie das Proletariat seine Herr-
schaft begründet.“
„Wir sahen schon oben, daß der erste Schritt in der Arbeiter-
revolution die Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse,
die Erkämpfung der Demokratie ist.
Das Proletariat wird seine politische Herrschaft dazu benutzen,
der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen, alle Pro-
duktionsinstrumente in den Händen des Staats, d. h. des als herr-
schende Klasse organisierten Proletariats zu zentralisieren und die
Masse der Produktionskräfte möglichst rasch zu vermehren.“ (S. 31
und 37, siebente deutsche Ausgabe 1906.)®
Hier haben wir die Formulierung einer der bedeutsamsten und wich-
tigsten Ideen des Marxismus in der Frage des Staates, nämlich der Idee
der „Diktatur des Proletariats“ (wie Marx und Engels nach der Pariser
Kommune sich auszudrücken begannen), ferner eine höchst interessante
Definition des Staates, die gleichfalls zu den „vergessenen Worten“ des
Marxismus gehört. S>er Staat, das heißt das als herrschende Klasse
organisierte Proletariat
Nicht nur, daß diese Definition des Staates niemals in der herrschen-
den Propaganda- und Agitationsliteratur der offiziellen sozialdemokra-
tischen Parteien erläutert worden ist. Mehr als das. Sie ist geradezu ver-
gessen worden, da sie mit dem Reformismus völlig unvereinbar ist, da
sie den landläufigen opportunistischen Vorurteilen und kleinbürgerlichen
Illusionen über eine „friedliche Entwicklung der Demokratie“ ins Ge-
sicht schlägt.
Das Proletariat braucht den Staat - das wiederholen alle Opportu-
nisten, Sozialchauvinisten und Kautskyaner, wobei sie beteuern, dies sei
Staat und Revolution
415
die Lehre von Marx, sie „ vergessen " aber hinzuzufügen, daß erstens
das Proletariat nach Marx nur einen absterbenden Staat braucht, d. h.
einen Staat, der so beschaffen ist, daß er sofort abzusterben beginnt und
zwangsläufig absterben muß. Und zweitens brauchen die Werktätigen
den „Staat“, „das heißt das als herrschende Klasse organisierte Prole-
* tariat“.
Der Staat ist eine besondere Machtorganisation, eine Organisation der
Gewalt zur Unterdrückung einer Klasse. Welche Klasse aber muß vom
Proletariat unterdrückt werden? Natürlich nur die Ausbeuterklasse, d. h.
die Bourgeoisie. Die Werktätigen brauchen den Staat nur, um den Wi-
derstand der Ausbeuter niederzuhalten, aber dieses Niederhalten zu
leiten, in die Tat umzusetzen ist allein das Proletariat imstande als die
einzige konsequent revolutionäre Belasse, als einzige Belasse, die fähig
ist, alle Werktätigen und Ausgebeuteten im Kampf gegen die Bourgeoisie,
im Kampf um deren völlige Beseitigung zu vereinigen.
Die ausbeutenden Klassen bedürfen der politischen Herrschaft im
Interesse der Aufrechterhaltung der Ausbeutung, d. h. im eigennützigen
Interesse einer verschwindend kleinen Minderheit gegen die ungeheure
Mehrheit des Volkes. Die ausgebeuteten Belassen bedürfen der politischen
Herrschaft im Interesse der völligen Aufhebung jeder Ausbeutung, d. h.
im Interesse der ungeheuren Mehrheit des Volkes gegen die verschwin-
dend kleine Minderheit der modernen Sklavenhalter, d. h. der Guts-
besitzer und Kapitalisten.
Die kleinbürgerlichen Demokraten, diese Pseudosozialisten, die den
Klassenkampf durch Träumereien von Klassenharmonie ersetzten, stell-
ten sich auch die sozialistische Umgestaltung träumerisch vor, nicht als
Sturz der Herrschaft der ausbeutenden Brasse, sondern als friedliche
Unterordnung der Minderheit unter die sich ihrer Aufgaben bewußt
gewordene Mehrheit. Diese mit der Anerkennung eines über den Belas-
sen stehendes Staates unzertrennlich verbundene kleinbürgerliche Utopie
führte in der Praxis zum Verrat an den Interessen der werktätigen Klas-
sen, wie dies z. B. die Geschichte der französischen Revolutionen von
1848 und 1871, wie dies die Erfahrungen der Beteiligung von „Sozia-
listen“ an bürgerlichen Regierungen in England, Frankreich, Italien und
anderen Ländern am Ausgang des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts
gezeigt haben.
416
W. I. Lenin
Marx bekämpfte sein ganzes Leben lang diesen kleinbürgerlichen So-
zialismus, der jetzt in Rußland durch die Parteien der Sozialrevolu-
tionäre und Menschewiki zu neuem Leben erweckt worden ist. Marx
hat die Lehre vom Klassenkampf konsequent bis zu der Lehre von der
politischen Macht, vom Staat, entwickelt.
Die Herrschaft der Bourgeoisie stürzen kann nur das Proletariat als
besondere Klasse, deren wirtschaftliche Existenzbedingungen es darauf
vorbereiten, ihm die Möglichkeit und die Kraft geben, diesen Sturz zu
vollbringen. Während die Bourgeoisie die Bauernschaft und alle klein-
bürgerlichen Schichten zersplittert und zerstäubt, schließt sie das Prole-
tariat zusammen, einigt und organisiert es. Nur das Proletariat ist
- kraft seiner ökonomischen Rolle in der Großproduktion - fähig, der
Führer aller werktätigen und ausgebeuteten Massen zu sein, die von der
Bourgeoisie vielfach nicht weniger, sondern noch mehr ausgebeutet, ge-
knechtet und unterdrückt werden als die Proletarier, aber zu einem selb-
ständigen Kampf um ihre Befreiung nicht fähig sind.
Die Lehre vom Klassenkampf, von Marx auf die Frage des Staates
und der sozialistischen Revolution angewandt, führt notwendig zur An-
erkennung der politischen Herrschaft des Proletariats, seiner Diktatur,
d. h. einer mit niemand geteilten und sich unmittelbar auf die bewaff-
nete Gewalt der Massen stützenden Macht. Der Sturz der Bourgeoisie
ist nur zu verwirklichen durch die Erhebung des Proletariats zur
herrschenden Klasse, die fähig ist, den unvermeidlichen, verzweifelten
Widerstand der Bourgeoisie niederzuhalten und für die Neuordnung
der Wirtschaft alle werktätigen und ausgebeuteten Massen zu organi-
sieren.
Das Proletariat braucht die Staatsmacht, eine zentralisierte Organi-
sation der Macht, eine Organisation der Gewalt sowohl zur Unterdrük-
kung des Widerstands der Ausbeuter als auch zur Leitung der ungeheu-
ren Masse der Bevölkerung, der Bauernschaft, des Kleinbürgertums,
der Halbproletarier, um die sozialistische Wirtschaft „in Gang zu
bringen“.
Durch die Erziehung der Arbeiterpartei erzieht der Marxismus die
Avantgarde des Proletariats, die fähig ist, die Macht zu ergreifen und
das ganze Volk zum Sozialismus zu führen, die neue Ordnung zu leiten
und zu organisieren, Lehrer, Leiter, Führer aller Werktätigen und Aus^-
Staat und Revolution 417
gebeuteten zu sein bei der Gestaltung ihres gesellschaftlichen Lebens
ohne die Bourgeoisie und gegen die Bourgeoisie. Der heute herrschende
Opportunismus dagegen erzieht in der Arbeiterpartei die Vertreter der
besser bezahlten Arbeiter, die sich den Massen entfremden und sich
unter dem Kapitalismus leidlich „einzurichten“ wissen, die ihr Erst-
geburtsrecht für ein Linsengericht verkaufen, d. h. auf die Rolle revo-
lutionärer Führer des Volkes gegen die Bourgeoisie verzichten.
„Der Staat, das heißt das als herrschende Klasse organisierte Prole-
tariat“ - diese Theorie von Marx ist untrennbar verbunden mit seiner
ganzen Lehre von der revolutionären Rolle des Proletariats in der Ge-
schichte. Die Vollendung dieser Rolle ist die proletarische Diktatur, die
politische Herrschaft des Proletariats.
Wenn aber das Proletariat den Staat als eine besondere Organisation
der Gewalt gegen die Bourgeoisie braucht, so drängt sich von selbst die
Frage auf, ob es denkbar ist, eine solche Organisation zu schaffen ohne
vorherige Abschaffung, ohne Zerstörung der Staatsmaschine, die die
Bourgeoisie für sich geschaffen hat. Zu dieser Schlußfolgerung führt uns
unmittelbar das „Kommunistische Manifest“, und von ihr spricht Marx,
wenn er das Fazit aus den Erfahrungen der Revolution von 1848 bis
1851 zieht.
2. Die Ergebnisse der Revolution
In der uns interessierenden Frage des Staates zieht Marx das Fazit
der Revolution von 1848 bis 1851 in folgenden Ausführungen seines
Werkes „Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“:
„Aber die Revolution ist gründlich. Sie ist noch auf der Reise
durch das Fegefeuer begriffen. Sie vollbringt ihr Geschäft mit Me-
thode. Bis zum 2. Dezember 1851“ (dem Tage des Staatsstreichs
Louis Bonapartes) „hatte sie die eine Hälfte ihrer Vorbereitung ab-
solviert, sie absolviert jetzt die andre. Sie vollendete erst die par-
lamentarische Gewalt, um sie stürzen zu können. Jetzt, wo sie dies
erreicht, vollendet sie die Exekutiv gemalt, reduziert sie auf ihren
reinsten Ausdrude, isoliert sie, stellt sie sich als einzigen Vorwurf
gegenüber, um alle ihre Kräfte der Zerstörung gegen sie zu konzen-
trieren“ (von uns hervorgehoben). „Und wenn sie diese zweite
27 Le
, Werke. Bd. 25
418
W. I. Lenin
Hälfte ihrer Vorarbeit vollbracht hat, wird Europa von seinem Sitze
aufspringen und jubeln : Brav gewühlt, alter Maulwurf I
Diese Exekutivgewalt mit ihrer Ungeheuern bürokratischen und
militärischen Organisation, mit ihrer weitschichtigen und künst-
lichen Staatsmaschinerie, ein Beamtenheer von einer halben Mil-
lion neben einer Armee von einer andern halben Million, dieser
fürchterliche Parasitenkörper, der sich wie eine Netzhaut um den
Leib der französischen Gesellschaft schlingt und ihr alle Poren ver-
stopft, entstand in der Zeit der absoluten Monarchie, beim Verfall
des Feudalwesens, den er beschleunigen half.“ Die erste franzö-
sische Revolution entwickelte die Zentralisation, . . aber zugleich
den Umfang, die Attribute und die Handlanger der Regierungs-
gewalt. Napoleon vollendete diese Staatsmaschinerie. Die legitime
Monarchie und die Julimonarchie fügten nichts hinzu als eine grö-
ßere Teilung der Arbeit . . .“
„Die parlamentarische Republik endlich sah sich in ihrem Kampfe
wider die Revolution gezwungen, mit den Repressivmaßregeln die
Mittel und die Zentralisation der Regierungsgewalt zu verstärken.
Alle Umwälzungen v erv ollkommneten diese
Maschine statt sie zu brechen “ (von uns hervor-
gehoben). „Die Parteien, die abwechselnd um die Herrschaft ran-
gen, betrachteten die Besitznahme dieses ungeheueren Staatsgebäu-
des als die Hauptbeute des Siegers.“ („Der Achtzehnte Brumaire des
Louis Bonaparte“, S. 98 und 99, vierte Auflage, Hamburg 1907.) 100
In diesen großartigen Ausführungen macht der Marxismus im Ver-
gleich zum „Kommunistischen Manifest“ einen gewaltigen Schritt vor-
wärts. Dort wird die Frage des Staates noch äußerst abstrakt, in ganz
allgemeinen Begriffen und Wendungen behandelt. Hier wird die Frage
konkret gestellt, und es wird eine äußerst genaue, bestimmte, praktisch-
greifbare Schlußfolgerung gezogen: Alle früheren Revolutionen haben
die Staatsmaschinerie vervollkommnet, man muß sie aber zerschlagen,
zerbrechen.
Diese Folgerung ist das Hauptsächliche, das Grundlegende in der
Lehre des Marxismus vom Staat. Und gerade dieses Grundlegende ist
von den herrschenden offiziellen sozialdemokratischen Parteien nicht nur
total vergessen, sondern auch (wie wir weiter unten sehen werden) von
419
dem prominentesten Theoretiker der II. Internationale. K. Kautsky, direkt
entstellt worden.
Im „Kommunistischen Manifest“ sind die allgemeinen Ergebnisse der
Geschichte zusammengefaßt, die uns veranlassen, im Staat ein Organ
der Klassenherrschaft zu sehen, und uns zu dem unbedingten Schluß
führen, daß das Proletariat die Bourgeoisie nicht stürzen kann, ohne
vorher die politische Macht erobert, ohne die politische Herrschaft er-
langt und den Staat in das „als herrschende Klasse organisierte Prole-
tariat“ verwandelt zu haben, und daß dieser proletarische Staat sofort
nach seinem Sieg beginnen wird abzusterben, denn in einer Gesellschaft
ohne Klassengegensätze ist der Staat unnötig und unmöglich. Hier wird
nicht die Frage aufgeworfen, wie - vom Standpunkt der historischen
Entwicklung aus gesehen - diese Ablösung des bürgerlichen Staates durch
den proletarischen erfolgen soll.
Eben diese Frage stellt und löst Marx im Jahre 1852. Getreu seiner
Philosophie des dialektischen Materialismus, nimmt Marx als Grundlage
die historische Erfahrung der großen Revolutionsjahre 1848 bis 1851.
Die Lehre von Marx ist wie stets, so auch hier, eine von tiefer philoso-
phischer Weltanschauung und reicher Kenntnis der Geschichte durch-
drungene Zusammenfassung der Erfahrung.
Die Frage des Staates wird konkret gestellt: Wie ist der bürgerliche
Staat, diese für die Herrschaft der Bourgeoisie notwendige Staatsmaschi-
nerie, historisch entstanden? Welcherart sind ihre Veränderungen, wel-
ches ist ihre Evolution im Verlauf der bürgerlichen Revolutionen und
angesichts der selbständigen Aktionen der unterdrückten Klassen? Wel-
ches sind die Aufgaben des Proletariats in bezug auf diese Staats-
maschinerie?
Die der bürgerlichen Gesellschaft eigentümliche zentralisierte Staats-
gewalt entstand in der Epoche des Niedergangs des Absolutismus. Zwei
Institutionen sind für diese Staatsmaschinerie besonders kennzeichnend:
das Beamtentum und das stehende Heer. Wie diese Institutionen durch
tausenderlei Fäden namentlich mit der Bourgeoisie verknüpft sind, da-
von ist in den Werken von Marx und Engels oft die Rede. Die Erfah-
rungen eines jeden Arbeiters verdeutlichen diesen Zusammenhang mit
der größten Anschaulichkeit und Eindringlichkeit. Die Arbeiterklasse
lernt diesen Zusamenhang am eigenen Leibe kennen, deshalb erfaßt
27 *
420
sie auch so leicht die Wissenschaft von der Unvermeidlichkeit dieses Zu-
sammenhangs und eignet sie sich so gründlich an, eine Wissenschaft, die
die kleinbürgerlichen Demokraten entweder aus Unwissenheit und
Leichtfertigkeit ablehnen oder noch leichtfertiger „im allgemeinen“ an-
erkennen, wobei sie vergessen, die entsprechenden praktischen Konse-
quenzen zu ziehen.
Beamtentum und stehendes Heer, das sind die „Schmarotzer“ am Leib
der bürgerlichen Gesellschaft, Schmarotzer, die aus den inneren Wider-
sprüchen, die diese Gesellschaft zerklüften, entstanden sind, aber eben
Parasiten, die die Lebensporen „verstopfen“. Der jetzt in der offiziellen
Sozialdemokratie herrschende kautskyanische Opportunismus hält die
Anschauung, die im Staat einen parasitären Organismus erblickt, für ein
besonderes und ausschließliches Attribut des Anarchismus. Diese Ent-
stellung des Marxismus paßt natürlich den Kleinbürgern ausgezeichnet,
die den Sozialismus bis zu der unerhörten Schmach einer Rechtfertigung
und Beschönigung des imperialistischen Krieges herabgewürdigt haben,
indem sie den Begriff der „Vaterlandsverteidigung“ auf diesen Krieg
anwandten, aber dennoch bleibt es unbedingt eine Entstellung.
Durch alle bürgerlichen Revolutionen hindurch, die Europa seit dem
Verfall des Feudalismus in großer Anzahl erlebt hat, zieht sich die Ent-
wicklung, Vervollkommnung und Festigung dieses Beamten- und Mili-
tärapparats. Insbesondere wird gerade das Kleinbürgertum auf die Seite
der Großbourgeoisie hinübergezogen und ihr weitgehend unterworfen
vermittels dieses Apparats, der den oberen Schichten der Bauernschaft,
der kleinen Handwerker, Händler u. a. verhältnismäßig bequeme, ruhige
und ehrenvolle Postchen verschafft, die deren Inhaber über das Volk
erheben. Man betrachte, was in Rußland während des halben Jahres
nach dem 27. Februar 1917 vor sich gegangen ist: Beamtenstellen, die
früher vorzugsweise den Sdxwarzhundertem zufielen, sind zum Beute-
objekt der Kadetten, Menschewiki und Sozialrevolutionäre geworden.
An irgendwelche ernste Reformen dachte man im Grunde genommen
nicht, man war bemüht, sie „bis zur Konstituierenden Versammlung“
hinauszuschieben - die Einberufung der Konstituierenden Versammlung
aber so sachte bis zum Kriegsende zu verschleppen! Mit der Teilung der
Beute, mit der Besetzung der Posten der Minister, der Vizeminister, der
Generalgouverneure usw. usf. zögerte man dagegen nicht und wartete
Staat und Revolution
421
man auf keine Konstituierende Versammlung! Das Spiel mit den ver-
schiedenen Kombinationen bei der Bildung der Regierungen war im
Grunde lediglich der Ausdruck dieser Teilung und Neuverteilung der
„Beute“, die sowohl oben als auch unten, im ganzen Lande, in der gan-
zen zentralen und lokalen Verwaltung vor sich geht. Das Ergebnis, das
objektive Ergebnis des halben Jahres vom 27. Februar bis zum 27. August
1917 steht fest: Die Reformen sind zurückgestellt, die Verteilung der
Beamtenpöstchen hat stattgefunden, und die „Fehler“ in der Verteilung
wurden durch einige Neuverteilungen wiedergutgemacht.
Doch je mehr im Beamtenapparat „Neuverteilungen“ der Posten unter
die verschiedenen bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien (unter die
Kadetten, Sozialrevolutionäre und Menschewiki, wenn man das russische
Beispiel nimmt) stattfinden, um so klarer wird den unterdrückten Klassen
und dem Proletariat an ihrer Spitze ihre unversöhnliche Feindschaft gegen-
über der ganzen bürgerlichen Gesellschaft. Hieraus ergibt sich für alle
bürgerlichen Parteien, selbst für. die demokratischsten und darunter für
die „revolutionär-demokratischen“, die Notwendigkeit, die Repressalien
gegen das revolutionäre Proletariat zu verschärfen, den Repressionsappa-
rat, d. h. diese selbe Staatsmaschinerie zu verstärken. Dieser Gang der
Ereignisse zwingt die Revolution, „ alle ihre Kräfte der Zerstörung zu
konzentrieren“ gegen die Staatsgewalt, zwingt sie, sich nicht die Ver-
besserung der Staatsmaschinerie, sondern ihre Zerstörung, ihre Vernich-
tung zur Aufgabe zu machen.
Nicht logische Erwägungen, sondern die tatsächliche Entwicklung der
Ereignisse, die lebendige Erfahrung der Jahre 1848-1851 haben dazu
geführt, daß diese Aufgabe so gestellt wurde. Wie streng sich Marx an
die der geschichtlichen Erfahrung zugrunde liegenden Tatsachen hält,
geht daraus hervor, daß er 1852 noch nicht konkret die Frage stellt, m o -
durch die zu- vernichtende Staatsmascfainerie zu ersetzen sei. Die Er-
fahrung gab damals noch keine Unterlagen für diese Frage, die von der
Geschichte später, im Jahre 1871, auf die Tagesordnung gesetzt wurde.
1852 konnte man mit der Genauigkeit einer naturgeschichtlichen Beob-
achtung lediglich feststellen, daß die proletarische Revolution an die Auf-
gabe her an gekommen war, „alle ihre Kräfte der Zerstörung zu
konzentrieren“ gegen die Staatsgewalt, an die Aufgabe, die Staats-
maschinerie „zu zerbrechen“.
422
Hier kann die Frage auftauchen, ob eine Verallgemeinerung der Er-
fahrung, der Beobachtungen und Schlußfolgerungen von Marx, ob ihre
Übertragung auf umfassendere Gebiete als das der Geschichte Frank-
reichs während der drei Jahre 1848-1851 richtig ist. Zur Untersuchung
dieser Frage erinnern wir zunächst an eine Bemerkung von Engels und
gehen dann zu den Tatsachen über.
„Frankreich*, schrieb Engels in der Vorrede zur dritten Auflage
des „Achtzehnten Brumaire“, „ist das Land, wo die geschichtlichen
Klassenkämpfe mehr als anderswo jedesmal bis zur Entscheidung
durchgefochten wurden, wo also auch die wechselnden politischen
Formen, innerhalb deren sie sich bewegen und in denen ihre Resul-
tate sich zusammenfassen, in den schärfsten Umrissen ausgeprägt
sind. Mittelpunkt des Feudalismus im Mittelalter, Musterland der
einheitlichen ständischen Monarchie seit der Renaissance, hat
Frankreich in der großen Revolution den Feudalismus zertrümmert
und die reine Herrschaft der Bourgeoisie begründet in einer Klassi-
zität wie kein anderes europäisches Land. Und auch der Kampf des
aufstrebenden Proletariats gegen die herrschende Bourgeoisie tritt
hier in einer, anderswo unbekannten, akuten Form auf.“ (S. 4 der
Auflage von 1907.)
Die letzte Bemerkung ist veraltet, da seit 1871 im revolutionären
Kampf des französischen Proletariats eine Unterbrechung eingetreten ist,
obgleich diese Unterbrechung, wie lange sie auch dauern möge, keines-
wegs die Möglichkeit ausschließt, daß sich Frankreich in der kommenden
proletarischen Revolution als das klassische Land des Klassenkampfes
bis zur Entscheidung erweisen wird.
Werfen wir jedoch einen allgemeinen Blidc auf die Geschichte der fort-
geschrittenen Länder am Ausgang des 19. und zu Beginn des 20. Jahr-
hunderts. Wir sehen, daß sich langsamer, vielgestaltiger und auf viel
weiterem Schauplatz der gleiche Prozeß abspielte: einerseits der Ausbau
der „parlamentarischen Macht“ sowohl in den republikanischen Ländern
(Frankreich, Amerika, Schweiz) als auch, in den monarchistischen (Eng-
land, bis zu einem gewissen Grade Deutschland, Italien, die skandina-
vischen Länder usw.), anderseits der Kampf um die Macht zwischen
den verschiedenen bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien, die bei
unveränderter Grundlage der bürgerlichen Ordnung die „Beute“, die
Staat und Revolution 423
Beamtenpöstchen aufteilten und neu verteilten, und schließlich die Ver-
vollkommnung und Festigung der „Exekutivgewalt“, ihres Beamten- und
Militärapparats.
Es unterliegt keinem Zweifel, daß dies gemeinsame Züge der ganzen
neueren Entwicklung der kapitalistischen Staaten überhaupt sind. Frank-
reich zeigte in den drei Jahren 1848-1851 in rascher, ausgeprägter,
konzentrierter Form dieselben Entwicklungsprozesse, die der ganzen
kapitalistischen Welt eigen sind.
Insbesondere aber weist der Imperialismus, weist die Epoche des Bank-
kapitals, die Epoche der gigantischen kapitalistischen Monopole, die
Epoche des Hinüberwachsens des monopolistischen Kapitalismus in den
staatsmonopolistischen Kapitalismus, eine ungewöhnliche Stärkung der
„Staatsmaschinerie“ auf, ein unerhörtes Anwachsen ihres Beamten- und
Militärapparats in Verbindung mit verstärkten Repressalien gegen das
Proletariat sowohl in den monarchistischen als auch in den freiesten,
republikanischen Ländern.
Die Weltgeschichte führt jetzt zweifellos in ungleich größerem Aus-
maß, als das 1852 der Fall war, zur „Konzentrierung aller Kräfte“ der
proletarischen Revolution auf die „Zerstörung“ der Staatsmaschinerie.
Was das Proletariat an ihre Stelle setzen wird, darüber hat die Pariser
Kommune höchst lehrreiches Material geliefert.
3. Marx' Fragestellung im Jahre 1852*
Im Jahre 1907 veröffentlichte Mehring in der „Neuen Zeit“ 101 (XXV,
2, 164) Auszüge aus einem Brief Von Marx an Weydemeyer vom
5. März 1852. In diesem Brief findet sich unter anderem folgende bemer-
kenswerte Betrachtung:
„Was mich nun betrifft, so gebührt mir nicht das Verdienst, weder
die Existenz der Klassen in der modernen Gesellschaft noch ihren
Kampf unter sich entdeckt zu haben. Bürgerliche Geschichtschreiber
hatten längst vor mir die historische Entwicklung dieses Kampfes
der Klassen und bürgerliche Ökonomen die ökonomische Anatomie
* In der zweiten Auflage hinzugefügt.
424
W.I. Lenin
derselben dargestellt. Was ich neu tat, war 1. nachzuweisen, daß die
Existenz der Klassen bloß an bestimmte historische Entwicklungs-
phasen der Produktion gebunden ist; 2. daß der Klassenkampf not-
wendig zur Diktatur des Proletariats führt; 3. daß diese Diktatur
selbst nur den Übergang zur Aufhebung aller Klassen und zu einer
klassenlosen Gesellschaft bildet.“ 1 ® 2
In diesen Worten ist es Marx gelungen, mit erstaunlicher Prägnanz
erstens den Haupt- und Grundunterschied seiner Lehre von der Lehre
der führenden und tiefsten Denker der Bourgeoisie und zweitens das
Wesen seiner Lehre vom Staat zum Ausdruck zu bringen.
Das Wesentliche der Lehre von Marx sei der Klassenkampf. Das wird
sehr oft gesagt und geschrieben. Doch das ist unrichtig, und aus dieser
Unrichtigkeit ergibt sich auf Schritt und Tritt eine opportunistische Ent-
stellung des Marxismus, seine Verfälschung in einem Geiste, der ihn für
die Bourgeoisie annehmbar macht. Denn die Lehre vom Klassenkampf
ist nicht von Marx, sondern vor ihm von der Bourgeoisie geschaffen
worden und ist, allgemein gesprochen, für die Bourgeoisie annehmbar. Wer
nur den Klassenkampf anerkennt, ist noch kein Marxist, er kann noch
in den Grenzen bürgerlichen Denkens und bürgerlicher Politik geblieben
sein. Den Marxismus auf die Lehre vom Klassenkampf beschränken
heißt den Marxismus stutzen, ihn entstellen, ihn auf das reduzieren,
was für die Bourgeoisie annehmbar ist. Ein Marxist ist nur, wer die An-
erkennung des Klassenkampfes auf die Anerkennung der Diktatur des
Proletariats erstreikt. Hierin besteht der tiefste Unterschied des Mar-
xisten vom durchschnittlichen KIein-(und auch Groß-)Bourgeois. Das
muß der Prüfstein für das wirkliche Verstehen und Anerkennen des
Marxismus sein. Und es ist nicht verwunderlich, daß, als die Geschichte
Europas praktisch die Arbeiterklasse vor diese Frage stellte, nicht nur
alle Opportunisten und Reformisten, sondern auch alle „Kautskyaner“
(Leute, die zwischen Reformismus und Marxismus pendeln) sich als er-
bärmliche Philister und kleinbürgerliche Demokraten erwiesen, die die
Diktatur des Proletariats ablehnen. Kautskys Broschüre „Die Diktatur
des Proletariats“, die im August 1918, d. h. lange nach der ersten Auf-
lage des vorliegenden Buches, erschien, ist ein Musterstück kleinbürger-
licher Entstellung des Marxismus, der niederträchtigen Verleugnung des
Marxismus in der Tat, bei heuchlerischer Anerkennung des Marxismus
Staat und Revolution
425
in Worten (siehe meine Broschüre »Die proletarische Revolution und
der Renegat Kautsky“, Petrograd und Moskau 1918).
Der heutige Opportunismus, verkörpert in der Person seines Haupt-
vertreters, des früheren Marxisten K. Kautsky, fällt voll und ganz unter
die angeführte Marxsche Charakteristik der bürgerlichen Haltung, denn
dieser Opportunismus beschränkt das Gebiet der Anerkennung des Klas-
senkampfes auf das Gebiet bürgerlicher Verhältnisse. (Und innerhalb
dieses Gebiets, im Rahmen dieses Gebiets, wird es kein einziger gebilde-
ter Liberaler ablehnen, den Klassenkampf „prinzipiell“ anzuerkennen 1)
Der Opportunismus macht in der Anerkennung des Klassenkampfes ge-
rade vor der Hauptsache halt, vor der Periode des Übergangs vom Kapi-
talismus zum Kommunismus, vor der Periode des Sturzes der Bourgeoisie
und ihrer völligen Vernichtung. In Wirklichkeit ist diese Periode unver-
meidlich eine Periode unerhört erbitterten Klassenkampfes, unerhört
scharfer formen dieses Kampfes, und folglich muß auch der Staat dieser
Periode unvermeidlich auf neue Art demokratisch (für die Proletarier
und überhaupt für die Besitzlosen) und auf neue Art diktatorisch (gegen
die Bourgeoisie) sein.
Weiter. Das Wesen der Marxschen Lehre vom Staat hat nur erfaßt,
wer begriffen hat, daß die Diktatur einer Klasse nicht nur schlechthin
für jede Klassengesellschaft notwendig ist, nicht nur für das Proletariat,
das die Bourgeoisie gestürzt hat, sondern auch für die ganze historische
Periode, die den Kapitalismus von der „klassenlosen Gesellschaft“, vom
Kommunismus, trennt. Die Formen der bürgerlichen Staaten sind außer-
ordentlich mannigfaltig, ihr Wesen ist aber ein und dasselbe: Alle diese
Staaten sind so oder so, aber in letzter Konsequenz unbedingt eine
Diktatur der Bourgeoisie. Der Übergang vom Kapitalismus zum Kom-
munismus muß natürlich eine ungeheure Fülle und Mannigfaltigkeit der
politischen Formen hervorbringen, aber das Wesentliche wird dabei
unbedingt das eine sein : die Diktatur des Proletariats.
426
W. I. Lenin
III. KAPITEL
STAAT UND REVOLUTION
DIE ERFAHRUNGEN DER PARISER KOMMUNE
VOM JAHRE 1871. DIE ANALYSE VON MARX
1. Worin bestand der Heroismus des Versuchs der Kommunarden?
Es ist bekannt, daß Marx einige Monate vor der Kommune, im Herbst
1870, die Pariser Arbeiter warnte und nadiwies, daß der Versuch, die
Regierung zu stürzen, eine verzweifelte Torheit wäre. Als aber im März
1871 den Arbeitern der Entscheidungskampf auf gezwungen wurde und
sie ihn aufnahmen, als der Aufstand zur Tatsache geworden war, be-
grüßte Marx, trotz der schlimmen Vorzeichen, die proletarische Revolu-
tion mit der größten Begeisterung. Marx versteifte sich nicht auf eine
pedantische Verurteilung der „unzeitgemäßen“ Bewegung, wie das der
zu trauriger Berühmtheit gelangte russische Renegat des Marxismus,
Pledianow, tat, der im November 1905 so schrieb, daß er die Arbeiter
und Bauern zum Kampf ermunterte, nach dem Dezember 1905 aber
wie ein Liberaler zeterte: „Man hätte nicht zu den Waffen greifen
sollen.“
Marx begnügte sich jedoch nicht damit, dem Heroismus der, wie er
sich ausdrüdcte, „himmelstürmenden“ Kommunarden Begeisterung zu zol-
len. Er sah in der revolutionären Massenbewegung, obwohl sie ihr Ziel
nicht erreichte, einen historischen Versuch von ungeheurer Tragweite,
einen gewissen Schritt vorwärts in der proletarischen Weltrevolution,
einen praktischen Schritt, der wichtiger ist als Hunderte von Program-
men und Auseinandersetzungen. Diesen Versuch zu analysieren, aus ihm
Lehren für die Taktik zu ziehen, auf Grund dieses Versuchs seine
eigene Theorie zu überprüfen - das war die Aufgabe, die sich Marx
stellte.
Die einzige „Korrektur“, die Marx am „Kommunistischen Manifest“
vorzunehmen für notwendig erachtete, machte er auf Grund der revo-
lutionären Erfahrungen der Pariser Kommunarden.
Die letzte Vorrede zur neuen deutschen Auflage des „Kommunisti-
schen Manifests“, die von seinen beiden Verfassern unterzeichnet ist.
Staat und Revolution
427
datiert vom 24. Juni 1872. In dieser Vorrede erklären die Verfasser.
Karl Marx und Friedrich Engels, daß das Programm des Kommunisti-
schen Manifests „heute stellenweise veraltet“ sei.
„Namentlich", fahren sie fort, „hat die Kommune den Beweis
geliefert, da§ ,die Arbeiterklasse nicht die fertige Staatsmaschine
einfach in Besitz nehmen und sie für ihre eignen Zwecke in Be-
wegung setzen kann '.* 103
Die in einf adle Anführungszeichen gesetzten Worte dieses Zitats haben
seine Verfasser der Marxschen Schrift „Der Bürgerkrieg in Frankreich“
entnommen.
Somit maßen Marx und Engels der einen Haupt- und Grundlehre der
Pariser Kommune eine so ungeheure Bedeutung bei, daß sie sie als
wesentliche Korrektur zum „Kommunistischen Manifest“ hinzufügten.
Es ist überaus bezeichnend, daß gerade diese wesentliche Korrektur
von den Opportunisten entstellt worden ist und daß ihr eigentlicher Sinn
sicherlich neun von zehn, wenn nicht gar neunundneunzig von hundert
Lesern des „Kommunistischen Manifests“ unbekannt ist. Ausführlicher
sprechen wir von dieser Entstellung weiter unten in dem Kapitel, das sich
speziell mit den Entstellungen befaßt. Vorläufig mag der Hinweis ge-
nügen, daß die landläufige, vulgäre „Auffassung“ des von uns zitierten
berühmten Ausspruchs von Marx darin besteht, daß Marx hier angeblich
die Idee der allmählichen Entwicklung im Gegensatz zur Ergreifung der
Macht unterstreiche und dergleichen mehr.
In Wirklichkeit ist es gerade umgekehrt. Der Marxsche Ge-
danke besteht darin, daß die Arbeiterklasse „die fertige Staatsmaschine“
zerschlagen, zerbrechen muß und sich nicht einfach auf ihre
Besitzergreifung beschränken darf.
Am 12. April 1871, d. h. gerade während der Kommune, 'schrieb Marx
an Kugelmann:
„Wenn Du das letzte Kapitel meines .Achtzehnten Brumaire“
nachsiehst, wirst Du finden, daß ich als nächsten Versuch der fran-
zösischen Revolution äusspreche, nicht mehr wie bisher die büro-
kratisch-militärische Maschinerie aus einer Hand in die andere zu
übertragen, sondern sie zu zerbrechen“ (hervorgehoben von
Marx), „und dies ist die Vorbedingung jeder wirklichen Volks-
revolution auf dem Kontinent. Dies ist auch der Versuch unserer
428
W.I. Lenin
heroischen Pariser Parteigenossen.“ (S. 709, „Neue Zeit“, XX, 1,
1901/02.) 104 (Die Briefe von Manc an Kugelmann sind in russischer
Sprache in mindestens zwei Ausgaben erschienen, eine davon unter
meiner Redaktion und mit einem Vorwort von mir.)*
In diesen Worten : „die bürokratisch-militärische Maschinerie zu zer-
brechen“, ist, kurz ausgedrückt, die Hauptlehre des Marxismus von den
Aufgaben des Proletariats in der Revolution gegenüber dem Staat ent-
halten. Und gerade diese Lehre ist nicht nur völlig vergessen, sondern
durch die herrschende, kautskyanische „Auslegung“ des Marxismus ge-
radezu entstellt worden!
Was den Hinweis von Marx auf den „Achtzehnten Brumaire“ anbe-
langt, so haben wir die betreffende Stelle weiter oben vollständig zitiert.
Es ist von Interesse, zwei Stellen aus der angeführten Betrachtung von
Marx besonders hervorzuheben. Erstens beschränkt er seine Schlußfol-
gerung auf den Kontinent. Das war 1871 verständlich, als England noch
das Muster eines rein kapitalistischen Landes war, aber eines Landes
ohne Militarismus und in hohem Grade ohne Bürokratie. Marx schloß
daher England aus, wo eine Revolution und selbst eine Volksrevolution
ohne die Vorbedingung der Zerstörung der „fertigen Staatsmäschine“
damals möglich zu sein schien und möglich war.
Jetzt, im Jahre 1917, in der Epoche des ersten großen imperialisti-
schen Krieges, fällt diese Einschränkung von Marx fort. Sowohl England
als auch Amerika, die im Sinne des Nichtvorhandenseins von Militaris-
mus und Bürokratismus größten und letzten Vertreter angelsächsischer
„Freiheit“ in der ganzen Welt, sind vollständig in den allgemeinen
europäischen, schmutzigen, blutigen Sumpf der bürokratisch-militärischen
Institutionen hinabgesunken, die sich alles unterordnen, die alles er-
drücken. Jetzt bildet sowohl für England als auch für Amerika das Zer-
brechen, das Zerstören der „fertigen Staatsmaschine“ (die dort
in den Jahren 1914-1917 die „europäische“, allgemein-imperialistische
Vollkommenheit erreicht hat) die „Vorbedingung jeder wirklichen Volks-
revolution“.
Zweitens verdient die außerordentlich tiefe Bemerkung von Marx
besondere Beachtung, daß die Zerstörung der bürokratisch-militärischen
Staatsmaschinerie „die Vorbedingung jeder wirklichen Volfesrevolution“
«Siehe Werke, Bd. 12. S. 95-104. Die Red.
Staat und Revolution 429
ist. Dieser Begriff der „Volks" revolution mutet im Munde von. Marx
sonderbar an, und die russischen Pledianowleute und Menschewiki, diese
Nachfolger Struves, die als Marxisten gelten möchten, könnten am Ende
diesen Ausdruck von Marx als „falschen Zungenschlag“ hinstellen. Sie
haben den Marxismus zu einem so armselig-liberalen Zerrbild herab-
gewürdigt, daß für sie außer der Gegenüberstellung von bürgerlicher
und proletarischer Revolution nichts anderes existiert, und selbst diese
Gegenüberstellung wird von ihnen unglaublich starr aufgefaßt.
Nimmt man als Beispiel die Revolutionen des 20. Jahrhunderts, so
wird man natürlich sowohl die portugiesische als auch die türkische Revo-
lution als bürgerliche auffassen müssen. Aber weder die eine noch die
andere ist eine „Volks“revolution, denn die Volksmasse, die ungeheure
Mehrheit des Volkes, ist weder in der einen noch in der anderen Revolu-
tion aktiv, selbständig, mit ihren eigenen wirtschaftlichen und politischen
Forderungen sichtbar hervorgetreten. Dagegen war die russische bürger-
liche Revolution von 1905 bis 1907, obgleich ihr so „glänzende'* Erfolge
versagt blieben, wie sie zeitweilig der portugiesischen und der türkischen
Revolution beschieden waren, zweifellos eine „wirkliche Volks“revolu-
tion, denn die Masse des Volkes, seine Mehrheit, die „untersten“ Ge-
sellschaftsschichten, zermürbt durch Unterjochung und Ausbeutung,
erhoben sich selbständig und drückten dem. ganzen Verlauf der Re-
volution den Stempel ihrer Forderungen auf, ihrer Versuche, auf eigene
Art eine neue Gesellschaft an Stelle der zu zerstörenden alten aufzu-
bauen.
Auf dem europäischen Kontinent bildete 1871 das Proletariat in kei-
nem Lande die Mehrheit des Volkes. Eine „Volks“revolution, die tat-
sächlich die Mehrheit des Volkes in die Bewegung einbezieht, konnte nur
dann eine solche sein, wenn sie sowohl das Proletariat als auch die Bau-
ernschaft erfaßte. Diese beiden Klassen bildeten damals eben das „Volk“.
Beide Klassen sind dadurch vereint, daß die „bürokratisch-militärische
Staatsmaschinerie“ sie knechtet, bedrückt und ausbeutet. Diese Maschi-
nerie zu zerschlagen, sie zu zerbrechen - das verlangt das wirkliche
Interesse des „Volkes", seiner Mehrheit, der Arbeiter und der Mehrzahl
der Bauern, das ist die „Vorbedingung“ für ein freies Bündnis der armen
Bauern mit den Proletariern, ohne dieses Bündnis aber ist die Demokra-
tie nicht von Dauer und die sozialistische Umgestaltung unmöglich.
430
W. I. Lenin
Zu einem solchen Bündnis bahnte sich bekanntlich denn auch die Pari-
ser Kommune den Weg, die aus einer Anzahl innerer und äußerer Gründe
ihr Ziel nicht erreichte.
Folglich hat Marx, als er von einer „wirklichen Volksrevolution“
sprach, ohne die Eigentümlichkeiten des Kleinbürgertums im geringsten
zu vergessen (er sprach viel und oft davon), das tatsächliche Kräftever-
hältnis der Klassen in den meisten Staaten des europäischen Kontinents
im Jahre 1871 ganz genau berüdcsichtigt. Anderseits aber konstatierte
er, daß das „Zerschlagen“ der Staatsmaschinerie im Interesse sowohl der
Arbeiter als auch der Bauern notwendig ist, sie einigt, sie vor die gemein-
same Aufgabe stellt, den „Schmarotzer“ zu beseitigen und ihn durch
etwas Neues zu ersetzen.
Und zwar wodurch?
2. Wodurch ist die zerschlagene Staatsmaschinerie
zu ersetzen?
Auf diese Frage gab Marx 1847 im „Kommunistischen Manifest“ eine
noch völlig abstrakte Antwort, richtiger: eine Antwort, die die Aufgaben,
nicht aber die Methoden ihrer Lösung zeigte. Sie ist zu ersetzen durch
die „Organisation des Proletariats als herrschende Klasse“, durch die
„Erkämpfung der Demokratie“ - das war die Antwort des „Kommuni-
stischen Manifests“.
Ohne sich auf Utopien einzulassen, erwartete Marx von den Erfah-
rungen der Massenbewegung eine Antwort auf die Frage, welche kon-
kreten Formen diese Organisation des Proletariats als herrschende
Klasse annehmen wird, in welcher Weise sich diese Organisation ver-
einen lassen wird mit der möglichst vollständigen und folgerichtigen
„Erkämpfung der Demokratie“.
Die Erfahrungen der Kommune, so gering sie auch waren, unterzieht
Marx in seinem „Bürgerkrieg in Frankreich“ der genauesten Analyse.
Wir führen hier die wichtigsten Stellen aus dieser Schrift an :
Im 19. Jahrhundert entwickelte sich die aus dem Mittelalter stam-
mende zentralisierte Staatsmacht, mit ihren allgegenwärtigen
Organen - stehende Armee, Polizei, Bürokratie, Geistlichkeit, Rieh-
Staat und Revolution
431
terstand . . .“. Mit der Entwicklung des Klassengegensatzes zwischen
Kapital und Arbeit . . erhielt die Staatsmacht mehr und mehr den
Charakter einer öffentlichen Gewalt zur Unterdrückung der Arbei-
terklasse, einer Maschine der Klassenherrschaft. Nach jeder Revo-
lution, die einen Fortschritt des Klassenkampfs bezeichnet, tritt der
rein unterdrückende Charakter der Staatsmacht offner und offner
hervor.“ Die Staatsmacht wird nach der Revolution von 1848/1849
.... das nationale Kriegswerkzeug des Kapitals gegen die Arbeit“.
Das zweite Kaiserreich festigt dieses.
„Der gerade Gegensatz des Kaisertums war die Kommune.“ „Die
Kommune war die bestimmte Form ..." „. . . einer Republik, die
nicht nur die monarchische Form der Klassenherrschaft beseitigen
sollte, sondern die Klassenherrschaft selbst.“
Worin bestand nun diese „bestimmte“ Form der proletarischen, sozia-
listischen Republik? Wie war der Staat beschaffen, den sie aufzubauen
begonnen hatte?
„Das erste Dekret der Kommune war ... die Unterdrückung des
stehenden Heeres und seine Ersetzung durch das bewaffnete Volk.“
Diese Forderung steht heute in den Programmen aller Parteien, die
als sozialistische gelten wollen. Aber was ihre Programme wert sind,
erkennt man am besten aus dem Verhalten unserer Sozialrevolutionäre
und Menschewiki, die gerade nach der Revolution vom 27. Februar auf
die Verwirklichung dieser Forderung in der Praxis verzichtet haben!
„Die Kommune bildete sich aus den durch allgemeines Stimm-
recht in den verschiedenen Bezirken von Paris gewählten Stadt-
räten. Sie waren verantwortlich und jederzeit absetzbar. Ihre Mehr-
zahl bestand selbstredend aus Arbeitern oder anerkannten Vertre-
tern der Arbeiterklasse . . .
Die Polizei, bisher das Werkzeug der Staatsregierung, wurde
sofort aller ihrer politischen Eigenschaften entkleidet und in das
verantwortliche und jederzeit absetzbare Werkzeug der Kommune
verwandelt. Ebenso die Beamten aller andern Verwaltungszweige.
Von den Mitgliedern der Kommune an abwärts, mußte der öffent-
liche Dienst für Arbeiterlohn besorgt werden. Die erworbnen An-
rechte und die Repräsentationsgelder der hohen Staatswürdenträger
verschwänden mit diesen Würdenträgern selbst . . . Das stehende
432
W. I. Lenin
Heer und die Polizei, die Werkzeuge der materiellen Macht der
alten Regierung einmal beseitigt, ging die Kommune sofort darauf
aus, das geistliche Unterdrückungswerkzeug, die Pfaffenmacht, zu
brechen . . . Die richterlichen Beamten verloren jene scheinbare
Unabhängigkeit, ... sie sollten . . . fernerhin gewählt, verantwort-
lich und absetzbar sein.“ 105
Die zerschlagene Staatsmaschinerie wurde also von der Kommune
scheinbar „nur“ durch eine vollständigere Demokratie ersetzt: Beseiti-
gung des stehenden Heeres, vollkommene Wählbarkeit und Absetzbar-
keit aller Amtspersonen. In Wirklichkeit jedoch bedeutet dieses „nur“,
daß im riesigen Ausmaß die einen Institutionen durch Institutionen prin-
zipiell anderer Art ersetzt wurden. Hier ist gerade einer der Fälle des
„Umschlagens von Quantität in Qualität“ wahrzunehmen: Die mit die-
ser denkbar größten Vollständigkeit und Folgerichtigkeit durchgeführte
Demokratie verwandelt sich aus der bürgerlichen Demokratie m die
proletarische, aus dem Staat (= einer besonderen Gewalt zur Unter-
drückung einer bestimmten Klasse) in etwas, was eigentlich kein Staat
mehr ist.
Es ist immer noch notwendig, die Bourgeoisie und ihren Widerstand
niederzuhalten. Für die Kommune war das ganz besonders notwendig,
und eine der Ursachen ihrer Niederlage bestand darin, daß sie das nicht
entschlossen genug getan hat. Aber das unterdrückende Organ ist hier
schon die Mehrheit und nicht, wie dies bisher immer, sei es unter der
Sklaverei, der Leibeigenschaft oder der Lohnsklaverei der Fall war, die
Minderheit der Bevölkerung. Wenn aber die Mehrheit des Volkes selbst
ihre Bedrücker unterdrückt, so ist eine „besondre Repressionsgewalt“
schon nicht mehr nötig! ln diesem Sinne beginnt der Staat
abzusterben. An Stelle besonderer Institutionen einer bevorzugten Min-
derheit (privilegiertes Beamtentum, Offizierskorps des stehenden Heeres)
kann das die Mehrheit selbst unmittelbar besorgen, und je größeren An-
teil das gesamte Volk an der Ausübung der Funktionen der Staatsmacht
hat. um so weniger bedarf es dieser Macht.
Besonders bemerkenswert ist in dieser Beziehung eine von Marx her-
vorgehobene Maßnahme der Kommune: die Beseitigung der Repräsen-
tationsgelder jeder Art, aller finanziellen Privilegien der Beamten, die
Reduzierung der Gehälter aller Amtspersonen im Staat auf das Niveau
Staat und Revolution
433
des Jirbeiterlohnes“. Hier gerade kommt am klarsten der Umschwung
zum Ausdrude - von der bürgerlichen Demokratie zur proletarischen,
von der Unterdrüdcerdemokratie zur Demokratie der unterdrückten
Klassen, vom Staat als „ besondrer Gewalt “ zur Niederhaltung einer be-
stimmten Klasse, zur Niederhaltung der Unterdrücker durch die allge-
meine Gewalt der Mehrheit des Volkes, der Arbeiter und Bauern. Und
gerade in diesem, besonders anschaulichen und, was den Staat betrifft,
wohl wichtigsten Punkt hat man die Marxschen Lehren am gründlichsten
vergessen! In den populären Kommentaren, deren Zahl Legion ist, wird
davon nicht gesprochen. Es ist „üblich“, darüber zu schweigen, als han-
delte es sich um eine überlebte „Naivität“, ungefähr so, wie die Christen
die „Naivitäten“ des Urchristentums mit seinem demokratisch-revolutio-
nären Geiste „vergaßen“, nachdem das Christentum zur Staatsreligiön
erhoben worden war.
Die Herabsetzung der Gehälter der höheren Staatsbeamten erscheint
„einfach“ als Forderung eines naiven, primitiven Demokratismus. Einer
der „Begründer“ des neuesten Opportunismus, der frühere Sozialdemo-
krat Eduard Bernstein, übte sich wiederholt im Nachplappem der trivia-
len bürgerlichen Spötteleien über den „primitiven“ Demokratismus. Wie
alle Opportunisten, wie auch die jetzigen Kautskyaner, hat er absolut
nicht begriffen, erstens, daß der Übergang vom Kapitalismus zum Sozia-
lismus ohne eine gewisse „Rückkehr“ zu „primitivem" Demokratismus
unmöglich ist (wie soll denn sonst der Übergang zur Ausübung der
staatlichen Funktionen durch die Mehrheit der Bevölkerung, ja durch die
ganze Bevölkerung ohne Ausnahme erfolgen?), und zweitens, daß „pri-
mitiver Demokratismus“ auf der Basis des Kapitalismus und der kapita-
listischen Kultur etwas anderes ist als der primitive Demokratismus der
Urzeit oder der vorkapitalistischen Zeit. Die kapitalistische Kultur hat
die Großproduktion, hat Fabriken, Eisenbahnen, Post, Telefon u. a.
geschaffen, und auf dieser Basis sind die meisten Funktionen der alten
„Staatsmacht“ so vereinfacht worden und können auf so einfache Ope-
rationen der Registrierung, Buchung und Kontrolle zurückgeführt wer-
den, daß diese Funktionen alle Leute, die des Lesens und Schreibens
kundig sind, ausüben können, so daß man sie für gewöhnlichen „Arbei-
terlohn“ wird leisten und ihnen jeden Schimmer eines Vorrechts, eines
„Vorgesetztenrechts“ wird nehmen können (und müssen).
28 Lenin, Werke, Bd. 25
434
W. I. Lenin
Die uneingeschränkte Wählbarkeit und die jederzeitige Absetzbarkeit
ausnahmslos aller beamteten Personen, die Reduzierung ihrer Gehälter
auf den gewöhnlichen „Arbeiterlohn“, diese einfachen und „selbstver-
ständlichen“ demokratischen Maßnahmen, bei denen sich die Interessen
der Arbeiter völlig mit denen der Mehrheit der Bauern decken, dienen
gleichzeitig als Brücke, die vom Kapitalismus zum Sozialismus führt.
Diese Maßnahmen betreffen die staatliche, rein politische Umgestaltung
der Gesellschaft, aber sie bekommen vollen Sinn und Bedeutung selbst-
verständlich erst im Zusammenhang mit der in Verwirklichung oder Vor-
bereitung begriffenen „Expropriation der Expropriateure“, d. h. mit dem
Übergang des kapitalistischen Privateigentums an den Produktionsmit-
teln in gesellschaftliches Eigentum.
„Die Kommune“, schrieb Marx, „machte das Stichwort aller
Bourgeoisrevolutionen - wohlfeile Regierung - zur Wahrheit, in-
dem sie die beiden größten Ausgabequellen, die Armee und das
Beamtentum, aufhob."
Aus der Bauernschaft wie auch aus den anderen Schichten des Klein-
bürgertums gelangt nur eine geringfügige Minderheit „nach oben“,
„bringt es zu etwas“ im bürgerlichen Sinne, d. h. wird entweder zu
wohlhabenden Leuten, zu Bourgeois, oder zu gut versorgten, privilegier-
ten Beamten. Die gewaltige Mehrheit der Bauernschaft wird in jedem
kapitalistischen Land, in dem es überhaupt Bauern gibt (was in den mei-
sten kapitalistischen Ländern der Fall ist), von der Regierung unter-
drückt und sehnt deren Sturz, sehnt eine „wohlfeile“ Regierung herbei.
Verwirklichen kann das nur das Proletariat, und indem es das ver-
wirklicht, macht es zugleich einen Schritt zur sozialistischen Umgestal-
tung des Staates.
3. Aufhebung des Parlamentarismus
„Die Kommune“, schrieb Marx, „sollte nicht eine parlamenta-
rische, sondern eine arbeitende Körperschaft sein, vollziehend und
gesetzgebend zu gleicher Zeit . . .
Statt einmal in drei oder sechs Jahren zu entscheiden, welches
Mitglied der herrschenden Klasse das Volk im Parlament ver- und
zertreten soll, sollte das allgemeine Stimmrecht dem in Kommunen
Staat und Revolution
435
konstituierten Volk dienen, wie das individuelle Stimmrecht jedem
andern Arbeitgeber dazu dient, Arbeiter, Aufseher und Buchhalter
in seinem Geschäft auszusuchen.“
Diese bemerkenswerte Kritik am Parlamentarismus, die aus dem Jahre
1871 stammt, gehört jetzt infolge des herrschenden Sozialchauvinismus
und Opportunismus ebenfalls zu den „vergessenen Worten“ des Mar-
xismus. Die Minister und Berufsparlamentarier, die Verräter am Prole-
tariat und „Geschäfts“sozialisten unserer Tage überließen die Kritik am
Parlamentarismus gänzlich den Anarchisten und verschrien aus diesem
erstaunlich klugen Grunde jede Kritik am Parlamentarismus als „Anar-
chismus“ ! ! Es ist durchaus nicht verwunderlich, daß das Proletariat der
„fortgeschrittenen“ parlamentarischen Länder, angeekelt durch den
Anblick solcher „Sozialisten“ wie der Scheidemann, David, Legien, Sem-
bat, Renaudel, Henderson, Vandervelde, Stauning, Branting, Bissolati
und Co., seine Sympathien immer öfter dem Anarchosyndikalismus zu-
wandte, obwohl dieser der leibliche Bruder des Opportunismus ist.
Doch für Marx war die revolutionäre Dialektik nie jenes leere Mode-
wort, jene Kinderklapper, zu der sie Pledbanow, Kautsky und andere
gemacht haben. Marx verstand es, mit den Anarchisten rücksichtslos
zu brechen, weil diese es nicht vermochten, auch nur den „Saustall“ des
bürgerlichen Parlamentarismus auszunutzen, besonders in Zeiten, da
offensichtlich keine revolutionäre Situation vorhanden ist; gleichzeitig
verstand er aber auch, eine wahrhaft revolutionär-proletarische Kritik am
Parlamentarismus zu üben.
Einmal in mehreren Jahren zu entscheiden, welches Mitglied der herr-
schenden Klasse das Volk im Parlament niederhalten und zertreten soll -
das ist das wirkliche Wesen des bürgerlichen Parlamentarismus, nicht
nur in den parlamentarisch-konstitutionellen Monarchien, sondern auch
in den allerdemokratischsten Republiken.
Wirft man aber die Frage des Staates auf, betrachtet man den Parla-
mentarismus als eine der Institutionen des Staates unter dem Gesichts-
punkt der Aufgaben des Proletariats auf diesem Gebiet, wo ist dann der
Ausweg aus dem Parlamentarismus? Wie soll man da ohne ihn aus-
kommen?
Wieder und immer wieder muß man sagen: Die auf dem Studium der
Kommune begründeten Marxschen Lehren sind so gründlich vergessen
436
W. I. Lenin
worden, daß dem heutigen „Sozialdemokraten“ flies : dem heutigen Ver-
räter am Sozialismus) eine andere Kritik am Parlamentarismus als eine
anarchistisdie oder reaktionäre einfadi unverständlich ist.
Der Ausweg aus dem Parlamentarismus ist natürlich nicht in der Auf-
hebung der Vertretungskörperschaften und der Wählbarkeit zu suchen,
sondern in der Umwandlung der Vertretungskörperschaften aus Schwatz-
buden in „arbeitende“ Körperschaften. „Die Kommune sollte nicht eine
parlamentarische, sondern eine arbeitende Körperschaft sein, vollziehend
und gesetzgebend zu gleicher Zeit.“
„Nicht eine parlamentarische, sondern eine arbeitende Körperschaft“ -
das ist den modernen Parlamentariern und parlamentarischen „Schoß-
hündchen“ der Sozialdemokratie direkt ins Stammbuch geschrieben!
Man sehe sich ein beliebiges parlamentarisch regiertes Land an, von
Amerika bis zur Schweiz, von Frankreich bis England, Norwegen u. a. :
die eigentlichen „Staats“gescbäfte werden hinter den Kulissen abge-
wickelt und von den Departements, Kanzleien und Stäben verrichtet. In
den Parlamenten wird nur geschwatzt, speziell zu dem Zweck, das „nie-
dere Volk“ hinters Licht zu führen. Das ist so wahr, daß sich selbst in
der russischen Republik, in der bürgerlich-demokratischen Republik so-
fort, noch bevor sie Zeit fand, ein richtiges Parlament zu schaffen, alle
diese Sünden des Parlamentarismus geltend machten. Solche Helden
des modrigen Spießbürgertums wie die Skobelew und Zereteli, Tscher-
now und Awksentjew haben es zuwege gebracht, auch die Sowjets nach
dem Vorbild des schäbigsten bürgerlichen Parlamentarismus zu versauen,
sie in bloße Schwatzbuden zu verwandeln. In den Sowjets hauen die
Herren „sozialistischen“ Minister die vertrauensseligen Bäuerlein mit
Phrasen und Resolutionen übers Ohr. In der Regierung wird ein ewiger
Tanz aufgeführt, einerseits, um der Reihe nach möglichst viele Sozial-
revolutionäre und Menschewiki „an die Krippe“ gut bezahlter und ehren-
voller Posten zu setzen, und anderseits, um die „Aufmerksamkeit" des
Volkes „zu beschäftigen“. In den Kanzleien, in den Stäben wird inzwi-
schen „Staats“arbeit „geleistet" I
„Delo Naroda“, das Organ der an der Regierung beteiligten Partei
der „Sozialrevolutionäre“, erklärte kürzlich in einem redaktionellen
Leitartikel mit der unnachahmlichen Offenherzigkeit der Menschen aus
der „guten Gesellschaft“, in der „alle“ politische Prostitution treiben.
daß selbst in den von (mit Verlaub zu sagen!) „Sozialisten“ geleiteten
Ministerien, daß selbst hier der gesamte Beamtenapparat im Grunde der
alte bleibt, auf diese alte Weise funktioniert und jedes revolutionäre Be-
ginnen ganz „frei“ sabotiert! Ja selbst wenn dieses Eingeständnis nidit
vorläge, ist denn der tatsächliche Verlauf der Beteiligung der Sozial-
revolutionäre und Menschewiki an der Regierung nicht Beweis genug?
Bezeichnend ist hier nur, daß die Herren Tsdiemow, Russanow, Sensi-
now und sonstigen Redakteure des „Delo Naroda“, die sich in ministe-
rieller Gemeinschaft mit den Kadetten befinden, dermaßen jede Scham
verloren haben, daß sie sich nicht scheuen - als handle es sich um eine
Bagatelle -, öffentlich zu erzählen, ohne zu erröten, daß „bei ihnen“ in
den Ministerien alles beim alten ist!! Revolutionär-demokratische Phra-
sen zur Betörung der einfältigen Bauern und bürokratische Verschleppung
aller Angelegenheiten zur „Zufriedenstellung“ der Kapitalisten - das ist
das Wesen der „ehrlichen“ Koalition.
Den korrupten und verfaulten Parlamentarismus der bürgerlichen Ge-
sellschaft ersetzt die Kommune durch Körperschaften, in denen die Frei-
heit des Urteils und der Beratung nicht in Betrug ausartet, denn die Par-
lamentarier müssen selbst arbeiten, selbst ihre Gesetze ausführen, selbst
kontrollieren, was bei der Durchführung herauskommt, selbst unmittel-
bar vor ihren Wählern die Verantwortung tragen. Die Vertretungskör-
perschaften bleiben, aber den Parlamentarismus als besonderes System,
als Trennung der gesetzgebenden von der vollziehenden Tätigkeit, als
Vorzugsstellung für Abgeordnete gibt es hier nidit. Ohne Vertretungs-
körperschaften können wir uns eine Demokratie nicht denken, auch die
proletarische Demokratie nicht; ohne Parlamentarismus können und
müssen wir sie uns denken, soll die Kritik an der bürgerlichen Gesell-
schaft für uns nicht ein leeres Gerede sein, soll das Streben nach dem
Sturz der Herrschaft der Bourgeoisie aufrichtig und ernst gemeint und
nicht eine „Wahlparole sein, um Arbeiterstimmen zu fangen, wie es
bei den Menschewiki und Sozialrevolutionären, den Scheidemann und
Legien, den Sembat und Vandervelde der Fall ist.
Es ist äußerst lehrreich, daß Marx da, wo er auf die Funktionen jener
Beamtenschaft zu sprechen kommt, die auch die Kommune und die
proletarische Demokratie braucht, zum Vergleich die Angestellten
eines „jeden andern Arbeitgebers“ heranzieht, d. h. ein gewöhnliches
438
W. I. Lenin
kapitalistisches Unternehmen mit „Arbeitern, Aufsehern und Buchhal-
tern“.
Bei Marx findet man auch nicht die Spur von Utopismus in dem Sinne,
daß er sich die „neue“ Gesellschaft erdichtet, zusammenphantasiert.
Nein, er studiert - wie einen naturgeschichtlichen Prozeß - die Geburt
der neuen Gesellschaft aus der alten, studiert die Übergangsformen von
der alten zur neuen. Er hält sich an die tatsächlichen Erfahrungen der pro-
letarischen Massenbewegung und ist bemüht, aus ihr praktische Lehren
zu ziehen. Er „lernt“ von der Kommune, wie alle großen revolutionären
Denker sich nicht gescheut haben, aus den Erfahrungen der großen
Bewegungen der unterdrückten Klasse zu lernen, ohne jemals pedantische
„Moralpredigten“ an sie zu richten (in der Art von Plechanow: „Man
hätte nicht zu den Waffen greifen sollen“ oder Zereteli: „Eine Klasse muß
sich Selbstbeschränkung auferlegen“).
Von einer Vernichtung des Beamtentums mit einem Schlag, überall,
restlos, kann keine Rede sein. Das wäre eine Utopie. Aber mit einem
Schlag die alte Beamtenmaschinerie zerbredien und sofort mit dem Auf-
bau einer neuen beginnen, die allmählich jegliches Beamtentum überflüs-
sig macht und aufhebt - das ist keine Utopie, das lehrt die Erfahrung
der Kommune, das ist die direkte, nächstliegende Aufgabe des revolu-
tionären Proletariats.
Der Kapitalismus vereinfacht die Funktionen der „Staatsverwaltung,
er macht es möglich, das „Vorgesetztenwesen“ zu beseitigen und das
Ganze auf die Organisation der Proletarier (als herrschende Klasse) zu
reduzieren, die im Namen der gesamten Gesellschaft „Arbeiter, Auf-
seher und Buchhalter“ einstellen wird.
Wir sind keine Utopisten. Wir „träumen“ nicht davon, wie man
unvermittelt ohne jede Verwaltung, ohne jede Unterordnung auskom-
men könnte; diese anarchistischen Träumereien, die auf einem Verken-
nen der Aufgaben der Diktatur des Proletariats beruhen, sind dem
Marxismus wesensfremd, sie dienen in Wirklichkeit nur dazu, die so-
zialistische Revolution auf die Zeit zu verschieben, da die Menschen
anders geworden sein werden. Nein, wir wollen die sozialistische Re-
volution mit den Menschen, wie sie gegenwärtig sind, den Menschen,
die ohne Unterordnung, ohne Kontrolle, ohne „Aufseher und Buchhalter“
nicht auskommen werden.
Staat und Revolution
43S
Aber unterzuordnen hat man sich der bewaffneten Avantgarde aller
Ausgebeuteten und Werktätigen - dem Proletariat. Die spezifische „Vor-
gesetztenrolle“ der Staatsbeamten kann und muß man sofort, von heute
auf morgen, durch die einfachen Funktionen von „Aufsehern und Buch-
haltern“ zu ersetzen beginnen, Funktionen, denen der heutige Städter
bei seinem Entwicklungsniveau im allgemeinen schon vollauf gewachsen
ist und die für einen „Arbeiterlohn“ durchaus ausführbar sind.
Organisieren wir Arbeiter selber die Großproduktion, davon aus-
gehend, was der Kapitalismus bereits geschaffen hat, auf unsere Arbei-
tererfahrung gestützt, mit Hilfe strengster, eiserner Disziplin, die von
der Staatsgewalt der bewaffneten Arbeiter aufrechterhalten wird; machen
wir die Staatsbeamten zu einfachen Vollstreckern unserer Aufträge, zu
verantwortlichen, absetzbaren, bescheiden bezahlten „Aufsehern und
Buchhaltern“ (dazu natürlich Techniker jeder Art, jeden Ranges und
Grades) - das ist unsere proletarische Aufgabe, damit kann und muß
man bei der Durchführung der proletarischen Revolution beginnen. Ein
solcher Anfang führt auf der Basis der Großproduktion von selbst zum
allmählichen „Absterben“ jedweden Beamtentums, zur allmählichen
Schaffung einer Ordnung - einer Ordnung ohne Anführungszeichen, die
mit Lohnsklaverei nichts zu tun hat einer Ordnung, bei der die sich
immer mehr vereinfachenden Funktionen der Aufsicht und Rechen-
schaftslegung der Reihe nach von allen ausgeübt, später zur Gewohnheit
werden und schließlich als Sonderfunktionen einer besonderen Schicht
von Menschen in Fortfall kommen.
Ein geistreicher deutscher Sozialdemokrat der siebziger Jahre des vori-
gen Jahrhunderts bezeichnete die Post als Muster sozialistischer Wirt-
schaft. Das ist durchaus richtig. Gegenwärtig ist die Post ein Betrieb, der
nach dem Typ des staats kapitalistischen Monopols organisiert ist Der
Imperialismus verwandelt nach und nach alle Trusts in Organisationen
ähnlicher Art. Ober den „einfachen“ Werktätigen, die schuften und dar-
ben, steht hier die gleiche bürgerliche Bürokratie. Doch der Mechanis-
mus der gesellschaftlichen Wirtschaftsführung ist hier bereits fertig vor-
handen. Man stürze die Kapitalisten, man breche mit der eisernen Faust
der bewaffneten Arbeiter den Widerstand dieser Ausbeuter, man zer-
schlage die bürokratische Maschinerie des modernen Staates - und wir
haben einen von dem „Schmarotzer“ befreiten technisch hochentwickel-
440
W.I.Lenm
ten Medianismus vor uns, den die vereinigten Arbeiter sehr wohl selbst
in Gang bringen können, indem sie Tediniker, Aufseher, Buchhalter an-
stellen und ihrer aller Arbeit, wie die Arbeit aller „Staatsbeamten über-
haupt, mit dem Arbeiterlohn bezahlen. Das ist eine konkrete, praktische
Aufgabe,-die in bezug auf alle Trusts sofort ausführbar ist, wobei die
Werktätigen von der Ausbeutung befreit und die Erfahrungen verwertet
werden, die bereits die Kommune (insbesondere auf dem Gebiet des
Staatsaufbaus) praktisch zu machen begann.
Unser nächstes Ziel ist, die gesamte Volkswirtschaft nach dem Vor-
bild der Post zu organisieren, und zwar so, daß die unter der Kontrolle
und Leitung des bewaffneten Proletariats stehenden Techniker, Auf-
seher, Buchhalter sowie alle beamteten Personen ein den „Arbeiterlohn“
nicht übersteigendes Gehalt beziehen. Das ist der Staat, das ist die öko-
nomische Grundlage des Staates, wie wir sie brauchen. Das wird uns die
Beseitigung des Parlamentarismus und das Beibehalten der Vertretungs-
körperschaften bringen, das wird die arbeitenden Klassen von der Pro-
stituierung dieser Körperschaften durch die Bourgeoisie befreien.
4. Organisierung der Einheit der Nation
„In einer kurzen Skizze der nationalen Organisation, die die
Kommune nicht die Zeit hatte, weiter auszuarbeiten, heißt es aus-
drücklich, daß die Kommune die politische Form selbst des klein-
sten Dorfs sein . . . sollte.“ Von den Kommunen sollte auch die
„Nationaldelegation“ in Paris gewählt werden.
„Die wenigen, aber wichtigen Funktionen, welche dann noch für
eine Zentralregierung übrigblieben, sollten nicht, wie dies absicht-
lich gefälscht worden, abgeschafft, sondern an kommunale, d. h.
streng verantwortliche Beamte übertragen werden.
Die Einheit der Nation sollte nicht gebrochen, sondern im Ge-
genteil organisiert werden durch die Kommunalverfassung ; sie sollte
eine Wirklichkeit werden durch die Vernichtung jener Staatsmacht,
welche sich für die Verkörperung dieser Einheit ausgab, aber un-
abhängig und überlegen sein wollte gegenüber der Nation, an deren
Körper sie doch nur ein Schmarotzerauswuchs war. Während es
441
galt, die bloß unterdrückenden Organe der alten Regierungsmacht
abzuschneiden, sollten ihre berechtigten Funktionen einer Gewalt,
die über der Gesellschaft zu stehn beanspruchte, entrissen und den
verantwortlichen Dienern der Gesellschaft zurüdegegeben werden.“
In welchem Maße die Opportunisten der modernen Sozialdemokratie
diese Ausführungen von Marx nicht verstanden haben - vielleicht rich-
tiger: nicht verstehen wollten -, beweist am besten das herostratisch
berühmte Buch des Renegaten Bernstein „Die Voraussetzungen des So-
zialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“. Gerade in bezug auf
die zitierten Worte von Marx schrieb Bernstein, das sei ein Programm,
„das seinem politischen Gehalt nach in allen wesentlichen Zügen die
größte Ähnlichkeit aufweist mit dem Föderalismus - Proudhons ... Bei
allen sonstigen Verschiedenheiten zwischen Marx und dem .Kleinbürger“
Proudhon“ (Bernstein setzt das Wort „Kleinbürger“ in Anführungs-
zeichen, die seiner Meinung nach Ironie ausdrücken sollen) „ist in diesen
Punkten der Gedankengang bei ihnen so nahe wie nur möglich.“ Na-
türlich. fährt Bernstein fort, wächst die Bedeutung der Munizipalitäten,
doch meint er: „Ob freilich eine solche Auflösung der modernen Staats-
wesen und die völlige Umwandlung ihrer Organisation, wie Marx und
Proudhon sie schildern (die Bildung der Nationalversammlung aus Dele-
gierten der Provinz- bzw. Bezirksversammlungen, die ihrerseits aus De-
legierten der Kommunen zusammenzusetzen wären), das erste Werk der
Demokratie zu sein hätte, so daß also die bisherige Form der National-
vertretungen wegfiele, erscheint mir zweifelhaft.“ (Bernstein, „Voraus-
setzungen“, S. 134 und 136 der deutschen Ausgabe von 1899.)
Das ist geradezu ungeheuerlich: Marx’ Ansichten über die „Vernich-
tung der Staatsmacht, des Schmarotzerauswuchses“ mit dem Föderalis-
mus Proudhons in einen Topf zu werfen I Das ist aber kein Zufall, denn
dem Opportunisten kommt es nicht einmal in den Sinn, daß Marx hier
gar nicht vom Föderalismus im Gegensatz zum Zentralismus spricht,
sondern von /der Zerschlagung der alten, bürgerlichen, in allen bürger-
lichen Ländern bestehenden Staatsmaschinerie.
Dem Opportunisten kommt nur das in den Sinn, was er in dem Mi-
lieu kleinbürgerlichen Spießertums und „reformistischer“ Stagnation um
sich herum sieht, nämlich nur die „Munizipalitäten“! Der Opportunist
hat verlernt, an die Revolution des Proletariats auch nur zu denken.
442
W. I. Lenin
Das ist zum Lachen. Bemerkenswert ist aber, daß über diesen Punkt
mit Bernstein nicht gestritten wurde. Bernstein wurde von vielen wider-
legt. in der russischen Literatur insbesondere von Plechanow und in der
westeuropäischen von Kautsky, aber der eine wie der andere hat über
diese Entstellung von Marx durch Bernstein kein Wort verloren.
Der Opportunist hat so sehr verlernt, revolutionär zu denken und sich
über die Revolution Gedanken zu machen, daß er Marx .Föderalismus“
zuschreibt und ihn mit Proudhon, dem Begründer des Anarchismus, in
einen Topf wirft. Und die Kautsky und Plechanow, die orthodoxe Mar-
xisten sein möchten, die die Lehre des revolutionären Marxismus ver-
teidigen wollen, schweigen dazu! Hier liegt eine der Wurzeln jener äußer-
sten Vulgarisierung der Ansichten über den Unterschied zwischen Mar-
xismus und Anarchismus, die sowohl den Kautskyanem als auch den
Opportunisten eigen ist und auf die wir noch zu sprechen kommen
werden.
In den angeführten Betrachtungen von Marx über die Erfahrungen der
Kommune findet sich auch nicht die Spur von Föderalismus. Marx
stimmt mit Proudhon gerade in dem überein, was der Opportunist Bern-
stein nicht sieht. Marx geht mit Proudhon gerade da auseinander, wo
Bernstein ihre Übereinstimmung sieht.
Marx stimmt mit Proudhon darin überein, daß sie beide für das „Zer-
schlagen" der modernen Staatsmaschine sind. Diese Übereinstimmung
des Marxismus mit dem Anarchismus (sowohl mit Proudhon als auch mit
Bakunin) wollen weder die Opportunisten noch die Kautskyaner sehen,
denn sie haben in diesem Punkt dem Marxismus den Rücken gekehrt.
Marx geht sowohl mit Proudhon als auch mit Bakunin gerade in der
Frage des Föderalismus auseinander (von der Diktatur des Proletariats
schon gar nicht zu reden). Aus den kleinbürgerlichen Anschauungen des
Anarchismus ergibt sich prinzipiell der Föderalismus. Marx ist Zentra-
list. Und in seinen hier zitierten Darlegungen ist nicht die geringste Ab-
weichung vom Zentralismus enthalten. Nur Leute, die vom kleinbürger-
lichen „Aberglauben“ an den Staat erfüllt sind, können die Vernichtung
der bürgerlichen Staatsmaschinerie für eine Vernichtung des Zentralismus
halten!
Nun, wenn aber das Proletariat und die arme Bauernschaft die Staats-
gewalt in ihre Hände nehmen, sich vollkommen frei in Kommunen oiga-
Staat und Revolution
443
nisieren und das Wirken aller Kommunen vereinigen, um das Kapital zu
schlagen, den Widerstand der Kapitalisten zu brechen und das Privat-
eigentum an den Eisenbahnen. Fabriken, an Grund und Boden usw. der
gesamten Nation, der gesamten Gesellschaft zu übertragen - wird das
etwa kein Zentralismus sein? Wird das nicht der konsequenteste demo-
kratische Zentralismus sein? Und dazu noch proletarischer Zentra-
lismus?
Bernstein kann es einfach nicht in den Sinn kommen, daß ein freiwil-
liger Zentralismus, eine freiwillige Vereinigung der Kommunen zur
Nation, eine freiwillige Verschmelzung der proletarischen Kommunen
zum Zweck der Zerstörung der bürgerlichen Herrschaft und der bürger-
lichen Staatsmaschine möglich ist. Bernstein, wie jedem Philister, er-
scheint der Zentralismus als etwas, das nur von oben, nur von der Be-
amtenschaft und dem Militärklüngel aufgezwungen und aufrechterhalten
werden kann.
Marx betonte ausdrücklich, als ob er die Möglichkeit einer Entstellung
seiner Ansichten vorausgesehen hätte, daß die gegen die Kommune er-
hobene Anschuldigung, sie hätte die Einheit der Nation vernichten, die
Zentralregierung abschaffen wollen, eine bewußte Fälschung ist. Marx
gebraucht absichtlich den Ausdruck „Die Einheit der Nation sollte orga-
nisiert werden“, um den bewußten, demokratischen, proletarischen
Zentralismus dem bürgerlichen, militärischen, bürokratischen entgegen-
zustellen.
Aber . . . schlimmer als jeder Taube ist, wer nicht hören will. Und die
Opportunisten der heutigen Sozialdemokratie wollen eben von einer
Vernichtung der Staatsmacht, von einem Abschneiden des Schmarotzer-
auswuchses nichts hören.
5. Vernichtung des Schmarotzers Staat
Wir haben bereits die entsprechenden Stellen aus Marx angeführt, wir
müssen sie aber noch ergänzen.
„Es ist das gewöhnliche Schicksal neuer geschichtlicher Schöpfun-
gen“, schrieb Marx, „für das Seitenstück älterer und selbst verleb-
ter Formen des gesellschaftlichen Lebens versehn zu werden, denen
444
W. I. Lenin
sie einigermaßen ähnlich sehn. So ist diese neue Kommune, die die
moderne Staatsmacht bricht, angesehn worden für eine Wieder-
belebung der mittelalterlichen Kommunen . . . einen Bund kleiner
Staaten, wie Montesquieu und die Girondins ihn träumten ... für
eine übertriebne Form des alten Kampfes gegen Überzeritrali-
sation . . .
Die Kommunalverfassung würde im Gegenteil dem gesellschaft-
lichen Körper alle die Kräfte zurückgegeben haben, die bisher der
Schmarotzerauswuchs .Staat“, der von der Gesellschaft sich nährt
und ihre freie Bewegung hemmt, aufgezehrt hat. Durch diese Tat
allein würde sie die Wiedergeburt Frankreichs in Gang gesetzt
haben ...
In Wirklichkeit aber hätte die Kommunalverfassung die länd-
lichen Produzenten unter die geistige Führung der Bezirkshaupt-
städte gebracht und ihnen dort, in den städtischen Arbeitern, die
natürlichen Vertreter ihrer Interessen gesichert. - Das bloße Be-
stehn der Kommune führte, als etwas Selbstverständliches, die lo-
kale Selbstregierung mit sich, aber nun nicht mehr als Gegengewicht
gegen die, jetzt überflüssig gemachte, Staatsmacht.“
„Vernichtung der Staatsmacht“, die ein „Schmarotzerauswuchs“ war,
ihre „Abschneidung“, ihre „Zerstörung“, „die jetzt überflüssig gemachte
Staatsmacht“ - das sind die Ausdrücke, in denen Marx vom Staat sprach,
als er die Erfahrungen der Kommune beurteilte und analysierte.
Dies alles ist vor nahezu einem halben Jahrhundert geschrieben wor-
den, und heute muß man gewissermaßen Ausgrabungen machen, um dem
Bewußtsein der breiten Massen den unverfälschten Marxismus nahezu-
bringen. Die Schlußfolgerungen aus den Beobachtungen der letzten von
Marx erlebten großen Revolution vergaß man gerade dann, als die Zeit
der folgenden großen Revolutionen des Proletariats kam.
„Die Mannigfaltigkeit der Deutungen, denen die Kommune un-
terlag, und die Mannigfaltigkeit der Interessen, die sich in ihr aus-
gedrückt fanden, beweisen, daß sie eine durch und durch ausdeh-
nungsfähige politische Form war, während alle früheren Regie-
rungsformen wesentlich unterdrückend gewesen waren. Ihr wahres
Geheimnis war dies: Sie war wesentlich eine Regierung der Arbei-
terklasse, das Resultat des Kampfs der hervorbringenden gegen die
Staat und Revolution
445
aneignende Klasse, die endlich entdeckte politische Form, unter der
die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte.
Ohne diese letzte Bedingung war die Kommunalverfassung eine
Unmöglichkeit und eine Täuschung.“
Die Utopisten befaßten sich mit der „Entdeckung“ politischer For-
men, unter denen die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft vor
sich gehen sollte. Die Anarchisten wollten von der Frage nach den poli-
tischen Formen überhaupt nichts wissen. Die Opportunisten der heutigen
Sozialdemokratie betrachteten die bürgerlichen politischen Formen des
parlamentarischen demokratischen Staates als die unüberschreitbare
Grenze, sie schlugen sich beim Anbeten dieses „Vorbilds“ die Stirnen
wund und erklärten jedes Bestreben, diese Formen zu brechen, als An-
archismus.
Marx hat aus der ganzen Geschichte des Sozialismus und des politi-
schen Kampfes gefolgert, daß der Staat verschwinden muß, daß die
Übergangsform seines Verschwindens (der Übergang vom Staat zum
Nichtstaat) das „als herrschende Klasse organisierte Proletariat“ sein
wird. Marx unternahm es aber nicht, die politischen Formen dieser Zu-
kunft zu entdecken. Er beschränkte sich auf eine genaue Beobachtung
der französischen Geschichte, analysierte sie und zog die Schlußfolge-
rung, die sich aus dem Jahre 1851 ergab : Die Zertrümmerung der bür-
gerlichen Staatsmaschinerie wird auf die Tagesordnung gesetzt.
Und als die revolutionäre Massenbewegung des Proletariats ausgebro-
chen war, begann Marx, trotz des Mißerfolgs dieser Bewegung, trotz
ihrer kurzen Dauer und augenfälligen Schwäche, zu forschen, welche
Formen sie entdeckt hat.
Die Kommune ist die von der proletarischen Revolution „endlich ent-
deckte“ Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich voll-
ziehen kann.
Die Kommune ist der erste Versuch der proletarischen Revolution,
die bürgerliche Staatsmaschine zu zerschlagen, ist die „endlich entdeckte“
politische Form, durch die man das Zerschlagene ersetzen kann und muß.
Wir werden in der weiteren Darlegung sehen, daß die russischen Re-
volutionen von 1905 und 1917 in einer anderen Situation, unter anderen
Umständen, das Werk der Kommune fortsetzen und die geniale histo-
rische Analyse von Marx bestätigen.
446
W.I. Lenin
IV. KAPITEL
FORTSETZUNG
ERGÄNZENDE ERLÄUTERUNGEN VON ENGELS
Marx hat zur Beurteilung der Erfahrungen der Kommune das Grund-
legende beigetragen. Engels kam wiederholt auf dasselbe Thema zurück,
wobei er die Analyse und die Schlußfolgerungen von Marx erläuterte
und mitunter mit einer solchen Kraft und Anschaulichkeit andere Seiten
der Frage beleuchtete, daß man auf diese Erläuterungen besonders ein-
gehen muß.
1. „ Zur Wohnungsfrage “
In seiner Abhandlung über die Wohnungsfrage (1872) verwertet En-
gels bereits die Erfahrungen der Kommune und kommt einige Male auf
die Aufgaben der Revolution in bezug auf den Staat zu sprechen. Es ist
interessant, daß an einem konkreten Thema anschaulich aufgezeigt wer-
den: einerseits die Züge, worin der proletarische und der jetzige Staat
einander ähnlich sind, Züge, die in beiden Fällen erlauben, vom Staat
zu sprechen, und anderseits die Unterscheidungsmerkmale oder der
Übergang zur Aufhebung des Staates.
„Wie ist nun die Wohnungsfrage zu lösen? In der heutigen Ge-
sellschaft gerade wie eine jede andere gesellschaftliche Frage gelöst
wird: durch die allmähliche ökonomische Ausgleichung von Nach-
frage und Angebot, eine Lösung, die die Frage selbst immer wieder
von neuem erzeugt, also keine Lösung ist. Wie eine soziale Revo-
lution diese Frage lösen würde, hängt nicht nur von den jedesmali-
gen Umständen ab, sondern auch zusammen mit viel weitergehen-
den Fragen, unter denen die Aufhebung des Gegensatzes von Stadt
und Land eine der wesentlichsten ist. Da wir keine utopistischen
Systeme für die Einrichtung der künftigen Gesellschaft zu machen
haben, wäre es mehr als müßig, hierauf einzugehn. Soviel aber ist
sicher, daß schon jetzt in den großen Städten hinreichend Wohn-
gebäude vorhanden sind, um bei rationeller Benutzung derselben
jeder wirklichen Wohnungsnot' sofort abzuhelfen. Dies kann na-
Staat und Revolution
türlich nur durch Expropriation der heutigen Besitzer, resp. durch
Bequartierung ihrer Häuser mit obdachlosen oder in ihren bisheri-
gen Wohnungen übermäßig zusammengedrängten Arbeitern ge-
schehn, und sobald das Proletariat die politische Macht erobert hat,
wird eine solche, durch das öffentliche Wohl gebotene Maßregel
ebenso leicht ausführbar sein, wie andere Expropriationen und Ein-
quartierungen durch den heutigen Staat.“ (S. 22 der deutschen Aus-
gabe von 1887.) 106
Hier wird nicht die Veränderung der Form der Staatsmacht behandelt,
sondern nur der Inhalt ihrer Tätigkeit. Expropriationen und Einquartie-
rungen erfolgen auch auf Verfügung des jetzigen Staates. Formell be-
trachtet, wird auch der proletarische Staat Einquartierungen und Expro-
priationen von Häusern „verfügen“. Es ist aber klar, daß der alte Voll-
zugsapparat, die mit der Bourgeoisie verbundene Beamtenschaft, zur
Durchführung der Verfügungen des proletarischen Staates einfach un-
tauglich wäre.
„Übrigens muß konstatiert werden, daß die .faktische Besitz-
ergreifung“ sämtlicher Arbeitsinstrumente, die Inbesitznahme der
gesamten Industrie von seiten des arbeitenden Volks, das gerade
Gegenteil ist von der .proudhonistischen „Ablösung“. Bei der letz-
teren wird der einzelne Arbeiter Eigentümer der Wohnung, des
Bauernhofs, des Arbeitsinstruments; bei der ersteren bleibt das
.arbeitende Volk“ Gesamteigentümer der Häuser, Fabriken und Ar-
beitsinstrumente, und wird deren Nießbrauch, wenigstens während
einer Übergangszeit, schwerlich ohne Entschädigung der Kosten an
einzelne oder Gesellschaften überlassen. Gerade wie die Abschaf-
fung des Grundeigentums nicht die Abschaffung der Grundrente
ist, sondern ihre Übertragung, wenn auch in modifizierter Weise,
an die Gesellschaft. Die faktische Besitznahme sämtlicher Arbeits-
instrumente durch das arbeitende Volk schließt also die Beibehal-
tung des Mietverhältnisses keineswegs aus.“ (S. 68.)
Die in diesen Darlegungen angeschnittene Frage, nämlich die Frage
nach den ökonomischen Grundlagen des Absterbens des Staates, wollen
wir im nächsten Kapitel behandeln. Engels drückt sich äußerst vorsichtig
aus, wenn er sagt, daß der proletarische Staat „schwerlich“ die Woh-
nungen ohne Entgelt verteilen werde, „wenigstens während einer Über-
448
W. I. Lenin
gangszeit“. Das Überlassen von Wohnungen, die dem ganzen Volk ge-
hören, an einzelne Familien gegen Entgelt setzt auch die Erhebung die-
ses Mietgeldes, eine gewisse Kontrolle und diese oder jene Normierung
bei der Verteilung der Wohnungen voraus. Alles das erfordert eine ge-
wisse Staatsform, erfordert aber keineswegs einen besonderen militäri-
schen und bürokratischen Apparat mit beamteten Personen in besonders
bevorzugter Stellung. Der Übergang zu einer Ordnung der Dinge jedoch,
bei der es möglich sein wird, die Wohnungen kostenlos zu überlassen,
ist mit dem völligen „Absterben“ des Staates verknüpft.
Wo Engels darauf zu sprechen kommt, daß die Blanquisten nach der
Kommune, beeinflußt durch deren Erfahrungen, prinzipiell die Stellung
des Marxismus bezogen, formuliert er beiläufig diese Stellung folgender-
maßen:
. . Notwendigkeit der politischen Aktion des Proletariats und
seiner Diktatur als Übergang zur Abschaffung der Klassen und, mit
ihnen, des Staats . . .“ (S. 55.)
Liebhaber von Wortklaubereien oder bürgerliche „Marxistenfresser“
mögen wohl einen Widerspruch finden zwischen diesem Bekenntnis zur
„Abschaffung des Staats“ und der Ablehnung einer Formel wie der an-
archistischen in dem früher zitierten Passus aus dem „Anti-Dühring“.
Es wäre nicht verwunderlich, wenn die Opportunisten auch Engels zum
„Anarchisten“ stempelten - wird es doch bei den Sozialchauvinisten jetzt
immer mehr Sitte, die Internationalisten des Anarchismus zu bezich-
tigen.
Daß mit der Abschaffung der Klassen auch die Abschaffung des Staa-
tes erfolgen wird, das hat der Marxismus stets gelehrt. Die allgemein
bekannte Stelle über das „Absterben des Staates“ im „Anti-Dühring“
macht den Anarchisten nicht einfach zum Vorwurf, daß sie für die Ab-
schaffung des Staates eintreten, sondern daß sie predigen, man könne
den Staat „von heute auf morgen“ abschaffen.
Da die gegenwärtig herrschende „sozialdemokratische“ Doktrin das
Verhältnis des Marxismus zum Anarchismus in der Frage der Abschaf-
fung des Staates vollkommen entstellt, wird es besonders nützlich sein,
an eine Polemik von Marx und Engels gegen die Anarchisten zu er-
innern.
Staat und Revolution
449
2. Polemik gegen die Anarchisten
Diese Polemik fällt in das Jahr 1873. Marx und Engels schrieben für
einen italienischen sozialistischen Almanach Artikel gegen die Proudho-
nisten, die „Autonomisten" oder „Antiautoritären“, aber erst im Jahre
1913 erschienen diese Artikel in deutscher Übersetzung in der „Neuen
Zeit“. 107
„Wenn der politische Kampf der Arbeiterklasse“, schrieb Marx,
über die Anarchisten und ihre Ablehnung der Politik spottend, „re-
volutionäre Form annimmt, wenn die Arbeiter an Stelle der Dikta-
tur der Bourgeoisie ihre revolutionäre Diktatur setzen, dann be-
gehen sie das schreckliche Verbrechen der Prinzipienbeleidigung,
denn um ihre kläglichen profanen Tagesbedürfnisse zu befriedigen,
um den Widerstand der Bourgeoisie zu brechen, geben sie dem
Staat eine revolutionäre und vorübergehende Form, statt die Waf-
fen niederzulegen und den Staat abzuschaffen.“ („Neue Zeit“,
32. Jahrgang. 1913/14, Bd. I, S. 40.)
Also ausschließlich gegen diese „Abschaffung" des Staates wandte sich
Marx bei seiner Widerlegung der Anarchisten! Durchaus nicht dagegen,
daß der Staat mit dem Verschwinden der Klassen verschwinden oder
mit der Abschaffung der Klassen abgeschafft werden wird, sondern da-
gegen, daß die Arbeiter auf die Anwendung von Waffen, auf die orga-
nisierte Gewalt, das heißt auf den Staat, verzichten sollen, der dem Ziel
zu dienen hat: „den Widerstand der Bourgeoisie zu brechen“.
Marx betont absichtlich - um einer Entstellung des wahren Sinnes
seines Kampfes gegen den Anarchismus vorzubeugen - die „revolutio-
näre und vorübergehende Form“ des Staates, den das Proletariat braucht.
Das Proletariat braucht den Staat nur zeitweilig. In der Frage der Ab-
schaffung des Staates als Ziel gehen wir mit den Anarchisten keineswegs
auseinander. Wir behaupten, daß zur Erreichung dieses Zieles ein zeit-
weiliges Ausnutzen der Organe, Mittel und Methoden der Staatsgewalt
gegen die Ausbeuter notwendig ist, ebenso wie zur Aufhebung der Klas-
sen die vorübergehende Diktatur der unterdrückten Klasse notwendig
ist. Marx greift gegen die Anarchisten zur schärfsten und klarsten Frage-
stellung: Sollen die Arbeiter „die Waffen niederlegen“, wenn sie das
Joch der Kapitalisten abwerfen, oder sollen sie diese Waffen gegen die
29 Lenin. Werke. Bd. 25
W.I. Lettin
Kapitalisten ausnutzen, um deren Widerstand zu brechen? Aber die
systematische Ausnutzung der Waffen durch eine Klasse gegen eine
andere Klasse, was ist das denn anderes als eine „vorübergehende Form“
des Staates?
Jeder Sozialdemokrat möge sich fragen, ob er in seiner Polemik gegen
die Anarchisten die Frage des Staates so gestellt hat, ob die überwälti-
gende Mehrheit der offiziellen sozialistischen Parteien der II. Internatio-
nale diese Frage so gestellt hat?
Engels entwickelt dieselben Gedanken noch viel ausführlicher und ge-
meinverständlicher. Zunächst verspottet er die Konfusion in den Köpfen
der Proudhonisten, die sich als „Antiautoritäre“ bezeichneten, d. h. jeg-
liche Autorität, jegliche Unterordnung, jegliche Regierungsgewalt ab-
lehnten. Man nehme eine Fabrik, eine Eisenbahn, ein Schiff auf hoher
See, sagt Engels, ist es denn nicht klar, daß ohne eine gewisse Unterord-
nung, also ohne eine gewisse Autorität oder Macht ein Funktionieren
keines dieser komplizierten technischen Betriebe, die auf der Verwen-
dung von Maschinen und dem planmäßigen Zusammenarbeiten vieler
Personen beruhen, möglich wäre?
„Wenn ich diese Argumente den rabiatesten Antiautoritären ent-
gegenstelle, können sie mir nur die folgende Antwort geben : Ah !
Das ist wahr, es handelt sich aber hier nicht um die Autorität, die
wir den Delegierten verleihen, sondern um einen Auftrag. Diese
Leute glauben, daß sie eine Sache ändern können, wenn sie ihren
Namen ändern.“
Nachdem Engels so gezeigt hat, daß Autorität und Autonomie relative
Begriffe sind, daß sich ihr Geltungsbereich mit den verschiedenen Pha-
sen der gesellschaftlichen Entwicklung ändert, daß es ein Widersinn ist,
sie für etwas Absolutes zu halten, und nachdem er hinzugefügt hat, daß
der Geltungsbereich der Maschinen und der Großproduktion sich immer
mehr erweitert, geht er von den allgemeinen Betrachtungen über Autori-
tät zur Frage des Staates über.
„Flätten sich die Autonomisten“, schreibt er, „begnügt, zu sagen,
daß die soziale Organisation der Zukunft die Autorität nur in den
Grenzen zulassen wird, die durch die Produktionsverhältnisse un-
vermeidlich gezogen werden, dann hätte man sich mit ihnen ver-
ständigen können; sie sind aber blind für alle Tatsachen, welche die
Staat und Revolution
4SI
Autorität notwendig machen, und kämpfen leidenschaftlich gegen
das Wort.
Warum beschränken sich die Antiautoritären nicht darauf, gegen
die politische Autorität, gegen den Staat zu schreien? Alle Sozia-
listen sind darin einverstanden, daß der Staat und mit ihm die po-
litische Autorität infolge der künftigen sozialen Revolution ver-
schwinden werden ; das heißt, daß die öffentlichen Funktionen ihren
politischen Charakter verlieren und sich in einfache administrative
Funktionen verwandeln werden, die die sozialen Interessen über-
wachen. Die Antiautoritären aber fordern, daß der politische Staat
mit einem Schlage abgeschafft werde, noch früher, als die sozialen
Verhältnisse abgeschafft sind, die ihn erzeugt haben. Sie fordern,
daß der erste Akt der sozialen Revolution die Abschaffung der
Autorität sein soll.
Haben sie einmal eine Revolution gesehen, diese Herren? Eine
Revolution ist gewiß die autoritärste Sache, die es gibt, ein Akt,
durch den ein Teil der Bevölkerung seinen Willen dem anderen
Teil durch Flinten, Bajonette und Kanonen, alles das sehr autoritäre
Mittel, aufzwingt; und die Partei, die gesiegt hat, muß ihre Herr-
schaft durch den Schrecken, den ihre Waffen den Reaktionären ein-
flößen, behaupten. Und hätte sich die Pariser Kommune nicht der
Autorität eines bewaffneten Volkes gegen die Bourgeoisie bedient,
hätte sie sich länger als einen Tag behauptet? Können wir sie nicht
umgekehrt tadeln, daß sie sich zu wenig dieser Autorität bedient
habe? Also: entweder - oder: Entweder die Antiautoritären wissen
selbst nicht, was sie sagen, und in diesem Falle schaffen sie nur Kon-
fusion, oder sie wissen es, und in diesem Falle verraten sie die Sache
des Proletariats. In beiden Fällen dienen sie nur der Reaktion.“
(S. 39.)
In dieser Betrachtung sind Fragen berührt, die im Zusammenhang mit
dem Verhältnis zwischen Politik und Ökonomie beim Absterben des
Staates betrachtet werden müssen (diesem Thema ist das nachfolgende
Kapitel gewidmet). Das sind: die Frage der Umwandlung der öffent-
lichen Funktionen aus politischen in einfache administrative und die
Frage des „politischen Staates“. Dieser letzte Ausdruck, der besonders
geeignet ist, Mißverständnisse hervorzurufen, deutet auf den Prozeß
29*
452
W.I. Lettin
des Absterbens des Staates hin: Den absterbenden Staat kann man auf
einer gewissen Stufe seines Absterbens als unpolitischen Staat be-
zeichnen.
Am bemerkenswertesten ist in dieser Engelssdien Betrachtung wieder-
um die gegen die Anarchisten gebrauchte Fragestellung. Die Sozialdemo-
kraten, die Schüler von Engels sein wollen, haben sich seit 1873 mil-
lionenmal mit den Anarchisten herumgestritten, aber eben nicht so,
wie Marxisten streiten können und sollen. Die anarchistische Vorstel-
lung von der Abschaffung des Staates ist konfus und unrevolutionär -
so stellte Engels die Frage, Die Anarchisten wollen gerade die Revolution
in ihrem Entstehen und in ihrer Entwicklung, in ihren spezifischen Auf-
gaben hinsichtlich der Gewalt, der Autorität, der Macht und des Staates
nicht sehen.
Die bei den heutigen Sozialdemokraten übliche Kritik am Anarchis-
mus läuft auf die reinste kleinbürgerliche Plattheit hinaus : „Wir erken-
nen den Staat an, die Anarchisten nicht!“ Natürlich muß solch eine Platt-
heit auf einigermaßen denkende und revolutionäre Arbeiter abstoßend
wirken. Engels sagt etwas anderes: Er betont, daß alle Sozialisten das
Verschwinden des Staates als Folge der sozialistischen Revolution an-
erkennen. Er stellt dann konkret die Frage der Revolution, eben jene
Frage, die die Sozialdemokraten aus Opportunismus zu umgehen pfle-
gen, deren „Bearbeitung“ sie sozusagen ausschließlich den Anarchisten
überlassen. Und mit dieser Frage packt Engels den Stier bei den Hör-
nern: Hätte sich die Kommune nicht mehr der revolutionären Macht des
Staates, d. h. des bewaffneten, als herrschende Klasse organisierten Pro-
letariats, bedienen sollen?
Die herrschende offizielle Sozialdemokratie pflegt die Frage nach den
konkreten Aufgaben des Proletariats in der Revolution entweder ein-
fach mit Philisterspötteleien oder bestenfalls mit der ausweichenden so-
phistischen Redewendung abzutun: „Das werden wir dann sehen.“ Und
die Anarchisten durften mit Recht von dieser Sozialdemokratie behaup-
ten, daß sie ihre Aufgabe preisgebe, die Arbeiter im revolutionären Geist
zu erziehen. Engels nutzt die Erfahrungen der letzten proletarischen
Revolution zur ganz konkreten Erforschung dessen aus, was das Prole-
tariat sowohl in bezug auf die Banken als auch in bezug auf den Staat zu
tun hat und wie das zu tun ist.
Staat und Revolution
453
3. Ein Brief an Bebel
Eine der bemerkenswertesten, wenn nicht die bemerkenswerteste Be-
trachtung in den Werken von Marx und Engels über den Staat ist fol-
gende Stelle in einem Brief von Engels an Bebel vom 18./28. März 1875.
Dieser Brief ist, nebenbei bemerkt, unseres Wissens zum ersten Male
von Bebel im Zweiten Teil seiner Memoiren LAus meinem Leben“)
veröffentlicht worden, der 1911, also 36 Jahre nach Niederschrift und
Absendung des Briefes, erschienen ist.
Engels kritisierte in seinem Brief an Bebel denselben Entwurf des Go-
thaer Programms, an dem auch Marx in seinem berühmten Brief an
Bracke Kritik übte. Speziell zur Frage des Staates schrieb Engels fol-
gendes:
„Der freie Volksstaat ist in den freien Staat verwandelt. Gram-
matikalisch genommen ist ein freier Staat ein solcher, wo der Staat
frei gegenüber seinen Bürgern ist, also ein Staat mit despotischer
Regierung. Man sollte das ganze Gerede vom Staat fallenlassen, be-
sonders seit der Kommune, die schon kein Staat im eigentlichen
Sinne mehr war. Der ,Volksstaat‘ ist uns von den Anarchisten bis
zum Überdruß in die Zähne geworfen worden, obwohl schon die
Schrift Marx’ gegen Proudhon und nachher das .Kommunistische
Manifest“ direkt sagen, daß mit Einführung der sozialistischen Ge-
sellschaftsordnung der Staat sich von selbst auflöst und verschwin-
det. Da nun der Staat doch nur eine vorübergehende Einrichtung ist,
deren man sich im Kampf, in der Revolution bedient, um seine
Gegner gewaltsam niederzuhalten, so ist es purer Unsinn, von
freiem Volksstaat zu sprechen: solange das Proletariat den Staat
noch gebraucht, gebraucht es ihn nicht im Interesse der Freiheit,
sondern der Niederhaltung seiner Gegner, und sobald von Freiheit
die Rede sein kann, hört der Staat als solcher auf zu bestehen. Wir
würden daher vorschlagen, überall statt Staat .Gemeinwesen“ zu
setzen, ein gutes altes deutsches Wort, das das französische .Kom-
mune“ sehr gut vertreten kann.“ (S. 321/322 des deutschen Origi-
nals.) 108
Man muß im Auge behalten, daß dieser Brief sich auf das Parteipro-
gramm bezieht, das Marx in einem nur wenige Wochen später geschrie-
454
benen Brief (vom 5. Mai 1875) kritisierte, und daß Engels damals mit
Marx zusammen in London lebte. Wenn also Engels im letzten Satz
„wir“ sagt. 60 empfiehlt er zweifellos in seinem und in Marx' Namen
dem Führer der deutschen Arbeiterpartei, das Wort „Staat“ aus dem
Programm zu streichen und es durch das Wort „ Gemeinwesen “ zu er-
setzen.
Welches Geheul über „Anarchismus“ würden die Häuptlinge des
jetzigen, für die Opportunisten gebrauchsfertig zurechtgemachten „Mar-
xismus“ erheben, wenn man ihnen eine solche Korrektur am Programm
Vorschlägen wollte!
Mögen sie heulen. Dafür wird sie die Bourgeoisie loben.
Wir aber werden unser Werk weiter tun. Bei der Überprüfung unse-
res Parteiprogramms muß der Ratschlag von Engels und Marx unbedingt
berücksichtigt werden, um der Wahrheit näher zu kommen, um den
Marxismus wiederherzustellen und ihn von Entstellungen zu säubern,
um den Kampf der Arbeiterklasse für ihre Befreiung sicherer zu lenken.
Unter den Bolschewiki werden sich gewiß keine Gegner des Ratschlags
von Engels und Marx finden. Die Schwierigkeit dürfte wohl nur im Ter-
minus liegen. Im Deutschen gibt es zwei Wörter: „Gemeinde“ und „Ge-
meinwesen“, von denen Engels dasjenige wählte, das nicht die einzelne
Gemeinde, sondern die Gesamtheit, das System der Gemeinden, bedeu-
tet. Im Russischen gibt es kein entsprechendes Wort, und man wird sich
vielleicht für das französische Wort „Kommune“ entscheiden müssen,
obgleich auch das seine Nachteile hat.
„Die Kommune, die schon kein Staat im eigentlichen Sinne mehr
war“ - das ist eine theoretisch höchst wichtige Behauptung von Engels.
Nach dem oben Dargelegten ist diese Behauptung durchaus begreiflich.
Die Kommune hörte auf, ein Staat zu sein, insofern sie nicht die Mehr-
heit der Bevölkerung, sondern eine Minderheit (die Ausbeuter) nieder-
zuhalten hatte: die bürgerliche Staatsmaschine wurde von ihr zerschla-
gen; an Stelle einer besonderen Repressionsgewalt trat die Bevölkerung
selbst auf den Plan. Alles das sind Abweichungen vom Staat im eigent-
lichen Sinne. Und hätte sich die Kommune behauptet, so wären in ihr
die Spuren des Staates von selbst „abgestorben“, sie hätten seine Insti-
tutionen nicht „abzuschaffen“ brauchen, diese hätten in dem Maße auf-
gehört zu funktionieren, wie sie nichts mehr zu tun gehabt hätten.
Staat und Revolution
455
„Der ,VoIksstaat‘ ist uns von den Anarchisten bis zum Überdruß in
die Zähne geworfen worden", sagt Engels und meint in erster Linie Ba-
kunin und dessen Ausfälle gegen die deutschen Sozialdemokraten. En-
gels erkennt diese Ausfälle insoweit für berechtigt an, als der „Volks-
staat“ ein ebensolcher Unsinn und ein ebensolches Abweichen vom So-
zialismus ist wie auch der „freie Volksstaat“. Engels ist bemüht, den
Kampf der deutschen Sozialdemokraten gegen die Anarchisten zu kor-
rigieren, diesem Kampf die prinzipiell richtige Linie zu geben, ihn von
den opportunistischen Vorurteilen in bezug auf den „Staat“ zu reinigen.
Aber leider! Der Brief von Engels hat 36 Jahre lang in einer Schreib-
tischschublade gelegen. Wir werden weiter unten sehen, daß auch nach
der Veröffentlichung dieses Briefes Kautsky im wesentlichen die gleichen
Fehler hartnäckig wiederholt, vor denen Engels warnte.
Bebel antwortete Engels mit einem Brief vom 21. September 1875, in
dem er unter anderem schrieb, daß er mit Engels’ Urteil über die Pro-
grammvorlage „vollkommen übereinstimme“ und daß er Liebknecht
Nachgiebigkeit vorgeworfen habe (Bebel, „Aus meinem Leben“, Zweiter
Teil, S. 334). Nimmt man jedoch Bebels Broschüre „Unsere Ziele“ zur
Hand, so findet man in ihr vollkommen falsche Betrachtungen über den
Staat:
„Der Staat soll also aus einem auf Klassenherrschaft beruhenden Staat in einen
Volksstaat verwandelt werden.“ („Unsere Ziele", deutsche Ausgabe von 1886.
S. 14.)
So zu lesen in der neunten (neunten!) Auflage der Bebelschen Bro-
schüre! Kein Wunder, daß die so hartnäckig wiederholten opportunisti-
schen Betrachtungen über den Staat der deutschen Sozialdemokratie in
Fleisch und Blut übergingen, besonders da man die revolutionären Er-
läuterungen von Engels vor der Welt geheimhielt und da die ganzen
Lebensverhältnisse für lange Zeit von der Revolution „entwöhnten“.
4. Kritik des Entwurfs des Erfurter Programms
Die Kritik des Entwurfs des Erfurter Programms 109 , die Engels am
29. Juni 1891 an Kautsky sandte und die erst zehn Jahre später in der
„Neuen Zeit“ veröffentlicht wurde, darf bei der Analyse der marxisti-
456
W. I. Lenin
sehen Lehre vom Staat nicht übergangen werden, da sie hauptsächlich
gerade der Kritik der opportunistischen Anschauungen der Sozialdemo-
kratie in den Fragen der Staatsordnung gewidmet ist.
Nebenbei sei bemerkt, daß Engels in Fragen der Ökonomik ebenfalls
einen außerordentlich wertvollen Fingerzeig gibt, der beweist, wie auf-
merksam und überlegt er namentlich die Veränderungen des modernen
Kapitalismus verfolgte und wie er es daher verstand, bis zu einem gewis-
sen Grad die Aufgaben unserer, der imperialistischen, Epoche vorweg-
zunehmen. Hier dieser Fingerzeig: Über das Wort „Planlosigkeit“, das
im Programmentwurf zur Kennzeichnung des Kapitalismus angewendet
wurde, schreibt Engels:
„. . . wenn wir von den Aktiengesellschaften übergehen zu den
Trusts, die ganze Industriezweige beherrschen und monopolisieren,
so hört da nicht nur die Privatproduktion auf, sondern auch die
Planlosigkeit“ („Neue Zeit“, XX. Jahrgang, 1901/02, Bd. I, S. 8).
Hier ist das Grundlegende in der theoretischen Einschätzung des
neuesten Kapitalismus, d. h. des Imperialismus, gegeben, nämlich, daß
sich der Kapitalismus in monopolistischen Kapitalismus verwandelt. Das
letztere muß besonders hervoigehoben werden, denn zu den meistver-
breiteten Irrtümem gehört die bürgerlich-reformistische Behauptung, der
monopolistische oder staatsmonopolistische Kapitalismus sei schon kein
Kapitalismus mehr, er könne bereits als „Staatssozialismus“ bezeichnet wer-
den und ähnliches mehr. Eine vollständige Planmäßigkeit boten die Trusts
natürlich nicht, bieten sie bis auf den heutigen Tag nicht und können sie
nicht bieten. Soweit sie auch Planmäßigkeit bieten, soweit die Kapital-
magnaten den Umfang der Produktion in nationalem oder gar inter-
nationalem Maßstab auch im voraus berechnen, soweit sie die Produk-
tion auch planmäßig regulieren - wir verbleiben trotz allem im Kapitalis-
mus, wenn auch in einem neuen Stadium, aber doch unverkennbar im
Kapitalismus. Die „Nähe“ eines solchen Kapitalismus zum Sozialismus
muß für wirkliche Vertreter des Proletariats ein Beweisgrund sein für die
Nähe, Leichtigkeit, Durchführbarkeit und Dringlichkeit der sozialisti-
schen Revolution, keineswegs aber ein Argument dafür, daß man die Ab-
lehnung dieser Revolution und die Beschönigung des Kapitalismus, wie
dies bei allen Reformisten zu finden ist, tolerant hinnehmen solle.
Doch kehren wir zur Frage des Staates zurück. Engels gibt hier dreier-
Staat und Revolution
457
ld besonders wertvolle Hinweise: erstens in der Frage der Republik,
zweitens über den Zusammenhang zwischen der nationalen Frage und
der Staatsordnung und drittens über die lokale Selbstverwaltung.
Was die Republik betrifft, so hat Engels sie zum Schwerpunkt seiner
Kritik am Entwurf des Erfurter Programms gemacht. Und wenn wir be-
denken, welche Bedeutung das Erfurter Programm in der ganzen inter-
nationalen Sozialdemokratie gewonnen hat, daß es für die gesamte
II. Internationale zum Vorbild geworden ist. so wird man ohne Über-
treibung sagen dürfen, daß Engels hier den Opportunismus der gesamten
II. Internationale kritisiert.
„Die politischen Forderungen des Entwurfes“, schreibt Engels,
„haben einen großen Fehler. Das, was eigentlich gesagt werden
sollte, steht nicht drin" (hervorgehoben von Engels).
Und weiter wird auseinandergesetzt, daß die deutsche Reichsverfas-
sung im Grunde einen Abklatsch der äußerst reaktionären Verfassung
von 1850 bilde, daß der Reichstag nach einem Ausspruch Wilhelm Lieb-
knechts nur das „Feigenblatt des Absolutismus“ sei, daß auf Grund-
lage dieser Verfassung, die die Kleinstaaterei und den Bund der deut-
schen Kleinstaaten sanktioniert, eine „Umwandlung aller Arbeitsmittel in
Gemeineigentum“ durchführen zu wollen, „augenscheinlich sinnlos“ sei.
„Daran zu tasten ist aber gefährlich“, fügt Engels hinzu, der nur
zu gut weiß, daß es unmöglich ist, in Deutschland im Programm die
Forderung der Republik legal zu erheben. Aber mit dieser einleuch-
tenden Erwägung, mit der sich „alle“ zufriedengeben, findet sich
Engels nicht ohne weiteres ab. Er fährt fort: „Und dennoch muß so
oder so die Sache angegriffen werden. Wie nötig das ist, beweist
gerade jetzt der in einem großen Teile der sozialdemokratischen
Presse einreißende Opportunismus. Aus Furcht vor einer Erneue-
rung des Sozialistengesetzes, aus der Erinnerung an allerlei unter
der Herrschaft jenes Gesetzes gefallenen voreiligen Äußerungen
soll jetzt auf einmal der gegenwärtige gesetzliche Zustand in
Deutschland der Partei genügen können, alle ihre Forderungen auf
friedlichem Wege durchzuführen.“
Daß die deutschen Sozialdemokraten aus Furcht vor einer Wiederein-
führung des Ausnahmegesetzes handelten, diese grundlegende Tatsache
rückt Engels in den Vordergrund und bezeichnet sie ohne Umschweife
458
W. /. Lenin
als Opportunismus; gerade weil in Deutschland Republik und Freiheit
fehlen, erklärt er die Träume von einem „friedlichen“ Weg für völlig
sinnlos. Engels ist vorsichtig genug, sich nicht die Hände zu binden. Er
gibt zu, daß man sich in Republiken oder sonst in Ländern mit weit-
gehender Freiheit eine friedliche Entwicklung zum Sozialismus „vorstel-
len kann“ (nur „vorstellen“ I), aber in Deutschland, wiederholt er,
„. . . in Deutschland, wo die Regierung fast allmächtig und der
Reichstag und alle anderen Vertretungskörper ohne wirkliche Macht,
in Deutschland so etwas proklamieren und noch dazu ohne Not,
heißt das Feigenblatt dem Absolutismus abnehmen und sich selbst
vor die Blöße binden.“
Die offiziellen Führer der deutschen sozialdemokratischen Partei, die
diese Hinweise „zu den Akten“ gelegt hatte, erwiesen sich in ihrer über-
wiegenden Mehrheit denn auch in der Tat als Schirmer des Absolu-
tismus.
„Eine solche Politik kann nur die eigene Partei auf die Dauer
irreführen. Man schickt allgemeine, abstrakte politische Fragen in
den Vordergrund und verdeckt dadurch die nächsten konkreten
Fragen, die Fragen, die bei den ersten großen Ereignissen, bei der
ersten politischen Krise sich selbst auf die Tagesordnung setzen.
Was kann dabei herauskommen, als daß die Partei plötzlich im
entscheidenden Moment ratlos ist, daß über die entscheidendsten
Punkte Unklarheit und Uneinigkeit herrscht, weil diese Punkte nie
diskutiert worden sind . . .
Dies Vergessen der großen Hauptgesichtspunkte über den augen-
blicklichen Interessen des Tages, dies Ringen und Trachten nach
dem Augenblickserfolg ohne Rücksicht auf die späteren Folgen, dies
Preisgeben der Zukunft der Bewegung um der Gegenwart der Be-
wegung willen mag .ehrlich' gemeint sein, aber Opportunismus ist
und bleibt es, und der .ehrliche' Opportunismus ist vielleicht der
gefährlichste von allen . . .
Wenn etwas feststeht, so ist es dies, daß unsere Partei und die
Arbeiterklasse nur zur Herrschaft kommen kann unter der Form
der demokratischen Republik. Diese ist sogar die spezifische Form
für die Diktatur des Proletariats, wie schon die große französische
Revolution gezeigt hat.“
Staat und Revolution 459
Engels wiederholt hier in besonders plastischer Form jenen Grund-
gedanken, der sich wie ein roter Faden durch alle Werke von Marx zieht,
nämlich, daß die demokratische Republik der unmittelbare Zugang zur
Diktatur des Proletariats ist. Denn diese Republik, die in keiner Weise
die Herrschaft des Kapitals und somit die Unterdrückung der Massen
und den Klassenkampf beseitigt, führt unvermeidlich zu solcher Ausdeh-
nung, Entfaltung, Entblößung und Verschärfung dieses Kampfes, daß,
sobald einmal die Möglichkeit entsteht, die Grundinteressen der unter-
drückten Massen zu befriedigen, diese Möglichkeit unausbleiblich und
allein durch die Diktatur des Proletariats verwirklicht wird, dadurch, daß
das Proletariat die Massen führt. Für die gesamte II. Internationale sind
auch das „vergessene Worte“ des Marxismus, und das Vergessen dieser
Worte trat außerordentlich kraß in der Geschichte der Partei der Men-
schewiki während des ersten halben Jahres der russischen Revolution von
1917 zutage.
Zur Frage der Föderativrepublik im Zusammenhang mit der natio-
nalen Zusammensetzung der Bevölkerung schrieb Engels:
„Was soll an die Stelle“ (des jetzigen Deutschlands mit seiner
reaktionären monarchistischen Verfassung und der ebenso reaktio-
nären Kleinstaaterei, die das spezifische „Preußentum“ verewigt,
statt beides in Deutschland als Ganzem aufgehen zu lassen) „treten?
Nach meiner Ansicht kann das Proletariat nur die Form der einen
und unteilbaren Republik gebrauchen. Die Föderativrepublik ist auf
dem Riesengebiet der Vereinigten Staaten jetzt noch im ganzen eine
Notwendigkeit, obgleich sie im Osten bereits ein Hindernis wird.
Sie wäre ein Fortschritt in England, wo vier Nationen auf den bei-
den Inseln wohnen und trotz eines Parlaments schon jetzt dreierlei
Gesetzsysteme nebeneinander bestehen. Sie ist in der kleinen
Schweiz schon längst ein Hindernis geworden, erträglich nur, weil
die Schweiz sich damit begnügt, ein rein passives Glied des europäi-
schen Staatensystems zu sein. Für Deutschland wäre die föderali-
stische Verschweizerung ein enormer Rückschritt. Zwei Punkte
unterscheiden den Bundesstaat vom Einheitsstaat, daß jeder ver-
bündete Einzelstaat, jeder Kanton seine eigene Zivil- und Kriminal-
gesetzgebung und Gerichtsverfassung hat, und dann, daß neben
dem Volkshaus ein Staatenhaus besteht, worin jeder Kanton, groß
460
W.I. Lenin
oder klein, als solcher stimmt“ In Deutschland ist der Bundesstaat
der Übergang zum Einheitsstaat, und die 1866 und 1870 gemachte
„Revolution von oben“ darf man nicht wieder rückgängig machen,
sondern muß sie durch eine „Bewegung von unten“ ergänzen.
Die Staatsformen sind Engels keineswegs gleichgültig, er ist im Gegen-
teil bemüht, mit außerordentlicher Sorgfalt gerade die Übergangsformen
zu analysieren, um je nach den konkret-historischen Eigentümlichkeiten
jedes Einzelfalles festzustellen, wovon und wozu die betreffende Form
den Übergang bildet.
Engels, wie auch Marx, verficht vom Standpunkt des Proletariats
und der proletarischen Revolution aus den demokratischen Zentralismus,
die eine und unteilbare Republik. Die föderative Republik betrachtet er
entweder als Ausnahmefall und als Hindernis der Entwicklung oder als
Übergang von der Monarchie zur zentralistischen Republik, unter be-
stimmten besonderen Verhältnissen als einen „Fortschritt“. Und unter
diesen besonderen Verhältnissen rückt die nationale Frage in den Vorder-
grund.
Bei Engels wie auch bei Marx findet man, trotz ihrer schonungslosen
Kritik an der reaktionären Kleinstaaterei und an der Verschleierung
dieses ihres reaktionären Charakters durch die nationale Frage in be-
stimmten konkreten Fällen, nirgends die leiseste Spur eines Bestrebens,
der nationalen Frage aus dem Wege zu gehen, eines Bestrebens, das
sich häufig die holländischen und polnischen Marxisten zuschulden
kommen lassen, die von dem durchaus berechtigten Kampf gegen den
spießerhaft-beschränkten Nationalismus „ihrer“ kleinen Staaten aus-
gehen.
Selbst in England, wo sowohl die geographischen Bedingungen als
auch die Gemeinsamkeit der Sprache und die Geschichte vieler Jahrhun-
derte die nationale Frage in den einzelnen kleinen Teilen Englands „er-
ledigt“ zu haben scheinen, selbst hier trägt Engels der klaren Tatsache
Rechnung, daß die nationale Frage noch nicht überwunden ist, und sieht
darum in der föderativen Republik einen „Fortschritt“. Selbstverständ-
lich ist hier auch nicht der geringste Verzicht auf eine Kritik an den
Mängeln der föderativen Republik, auf die entschiedenste Propaganda
und den Kampf für eine einheitliche, zentralistisch-demokratische Repu-
blik zu finden.
Staat und Revolution 461
Engels faßt aber den demokratischen Zentralismus keineswegs in dem
bürokratischen Sinne auf, in dem die bürgerlichen und die kleinbürger-
lichen Ideologen, darunter auch die Anarchisten, diesen Begriff gebrau-
chen. Der Zentralismus schließt für Engels nicht im geringsten jene weit-
gehende lokale Selbstverwaltung aus, die, bei freiwilliger Wahrung der
Einheit des Staates durch die „Kommunen“ und Provinzen, jeden Büro-
kratismus und jedes „Kommandieren“ von oben unbedingt beseitigt.
„Also einheitliche Republik“, schreibt Engels, die programmati-
schen Ansichten des Marxismus über den Staat entwickelnd. „Aber
nicht im Sinne der heutigen französischen, die weiter nichts ist als
das 1798 begründete Kaiserreich ohne den Kaiser. Von 1792 bis
1798 besaß jedes französische Departement, jede Gemeinde voll-
ständige Selbstverwaltung nach amerikanischem Muster, und das
müssen wir auch haben. Wie die Selbstverwaltung einzurichten ist
und wie man ohne Bürokratie fertig werden kann, das bewies uns
Amerika und die erste französische Republik, und noch heute
Australien, Kanada und die anderen englischen Kolonien. Und eine
solche provinzielle und gemeindliche Selbstverwaltung ist weit freier
als zum Beispiel der Schweizer Föderalismus, wo der Kanton zwar
sehr unabhängig ist gegenüber dem Bund“ (d. h. dem föderativen
Gesamtstaat), „aber auch gegenüber dem Bezirk und der Gemeinde.
Die Kantonalregierungen ernennen Bezirksstatthalter und Präfek-
ten, wovon man in den Ländern englischer Zunge nichts weiß und
die wir uns ebenso höflichst in Zukunft verbeten haben wollen,
wie die preußischen Landräte und Regierungsräte' (Kommissare,
Kreispolizeichefs, Gouverneure, überhaupt alle von oben ernannten
Beamten). Engels empfiehlt dementsprechend, im Programm den
Punkt über die Selbstverwaltung wie folgt zu formulieren: „Voll-
ständige Selbstverwaltung in Provinz" (Gouvernement oder Ge-
biet), „Kreis und Gemeinde durch nach allgemeinem Stimmrecht
gewählte Beamte. Abschaffung aller von Staats wegen ernannten
Lokal- und Provinzialbehörden.“
In der von der Regierung Kerenskis und der anderen „sozialistischen“
Minister verbotenen „Prawda“ (Nr. 68 vom 28. Mai 1917)* hatte ich
Siehe Werke, Bd. 24, S. 539-542. Die Red.
•462
W.I. Lenin
bereits Gelegenheit, darauf hinzuweisen, wie in diesem Punkt - freilich
bei weitem nicht nur in diesem allein - unsere angeblich sozialistischen
Vertreter einer angeblich revolutionären angeblichen Demokratie sich
himmelschreiende Verstöße gegen den Demokratismus leisteten. Es ist
begreiflich, daß Leute, die sich durch eine „Koalition“ mit der imperia-
listischen Bourgeoisie gebunden haben, für diese Hinweise taub blieben.
Es ist äußerst wichtig hervorzuheben, daß Engels an Hand von Tat-
sachen, an einem ganz exakten Beispiel, das - besonders unter der klein-
bürgerlichen Demokratie - weitverbreitete Vorurteil widerlegt, die föde-
rative Republik bedeute unbedingt mehr Freiheit als die zentralistische.
Das ist falsch. Das widerlegen die Tatsachen, die Engels über die zentra-
listische französische Republik von 1792 bis 1798 und die föderalistische
schweizerische Republik anführt. Die wirklich demokratische zentralistische
Republik bot mehr Freiheit als die föderalistische. Oder anders ausge-
drückt: Die größte lokale, provinzielle, usw. Freiheit, die die Geschichte
kennt, hat die zentralistische und nicht die föderative Republik geboten.
Dieser Tatsache, wie überhaupt der ganzen Frage der föderativen und
der zentralistischen Republik sowie der lokalen Selbstverwaltung, wurde
und wird in unserer Parteipropaganda und -agitation nicht genügend
Beachtung geschenkt.
5. Die Einleitung vom fahre 1891 zu Marx ’
JDer Bürgerkrieg in Frankreich"
In seiner Einleitung zur dritten Auflage des „Bürgerkriegs in Frank-
reich“ - diese Einleitung datiert vom 18. März 1891 und war ursprüng-
lich in der „Neuen Zeit“ veröffentlicht - gibt Engels neben interessanten
beiläufigen Bemerkungen zu Fragen, die mit dem Verhältnis zum Staat
Zusammenhängen, eine überaus prägnante Zusammenfassung der Leh-
ren der Kommune. 1 “ Diese Zusammenfassung, vertieft durch die ganze
Erfahrung eines Zeitabschnitts von zwanzig Jahren, der den Verfasser
von der Kommune trennte, und speziell gegen die in Deutschland ver-
breitete „abergläubische Verehrung des Staats“ gerichtet, kann mit Recht
als das letzte Wort des Marxismus zu der Frage, die wir hier untersuchen,
bezeichnet werden.
Staat und Revolution
463
In Frankreich, bemerkt Engels, waren die Arbeiter nach jeder
Revolution bewaffnet, „für die am Staatsruder befindlichen Bour-
geois war daher Entwaffnung der Arbeiter erstes Gebot. Daher
nach jeder, durch die Arbeiter erkämpften Revolution ein neuer
Kampf, der mit der Niederlage der Arbeiter endigt.“
Diese Bilanz der Erfahrungen der bürgerlichen Revolutionen ist eben-
so kurz wie bedeutungsvoll. Das Wesen der Sache - unter anderem auch
in der Frage des Staates (ob die unterdrückte Klasse
W aff en besitzt) - ist hier treffend erfaßt. Gerade diesen Kern
umgehen meistenteils sowohl die unter dem Einfluß der bürgerlichen
Ideologie stehenden Professoren als auch die kleinbürgerlichen Demo-
kraten. In der russischen Revolution von 1917 fiel dem „Menschewik"
und „Auch-Marxis ten“ Zereteli die Ehre zu (eine Cavaignacsche Ehre),
dieses Geheimnis der bürgerlichen Revolutionen auszuplaudem. In seiner
„historischen“ Rede vom 11. Juni plauderte Zereteli aus der Schule, die
Bourgeoisie sei entschlossen, die Petrograder Arbeiter zu entwaffnen,
wobei er natürlich diesen Beschluß auch als seinen eigenen wie überhaupt
als eine „Staats“notwendigkeit hinstellte!
Die historische Rede Zeretdis vom 11. Juni wird natürlich für jeden
Geschichtsschreiber der Revolution von 1917 eine der anschaulichsten
Illustrationen dafür bieten, wie sich der von Herrn Zereteli geführte
Block der Sozialrevolutionäre und Menschewiki gegen das revolutionäre
Proletariat auf die Seite der Bourgeoisie geschlagen hat.
Eine andere beiläufige Bemerkung von Engels, die ebenfalls mit der
Frage des Staates zusammenhängt, bezieht sich auf die Religion. Es ist
bekannt, daß die deutsche Sozialdemokratie in dem Maße, wie sie ver-
sumpfte und immer opportunistischer wurde, immer häufiger zu einer
philisterhaften Falschdeutung der berühmten Formel „Erklärung der
Religion zur Privatsache“ hinabsank. Nämlich: Diese Formel wurde so
gedeutet, als sei auch für die Partei des revolutionären Proletariats die
Frage der Religion Privatsache! ! Gegen diesen völligen Verrat am revo-
lutionären Programm des Proletariats machte Engels Front, der 1891 erst
ganz schwache Keime des Opportunismus in seiner Partei beobachtete
und sich daher äußerst vorsichtig ausdrückte:
„Wie in der Kommune fast nur Arbeiter oder anerkannte Arbei-
tervertreter saßen, so trugen auch ihre Beschlüsse einen entschieden
464
proletarischen Charakter. Entweder dekretierten sie Reformen, die
die republikanische Bourgeoisie nur aus Feigheit unterlassen hatte,
die aber für die freie Aktion der Arbeiterklasse eine notwendige
Grundlage bildeten, wie die Durchführung des Satzes, daß dem
Staat gegenüber die Religion bloße Privatsache sei; oder sie erließ
Beschlüsse direkt im Interesse der Arbeiterklasse und teilweise tief
einschneidend in die alte Gesellschaftsordnung.“
Engels unterstrich die Worte „dem Staat gegenüber“ mit Vorbedacht,
um haargenau den deutschen Opportunismus zu treffen, der die Religion
der Partei gegenüber zur Privatsadie erklärte und auf diese Weise die
Partei des revolutionären Proletariats auf das Niveau eines banalen
„freidenkerischen“ Spießertums hinabdrückte, das bereit ist, Konfessions-
losigkeit zu dulden, aber auf den Kampf der Partei gegen das volks-
verdummende Opium Religion verzichtet.
Der künftige Geschichtsschreiber der deutschen Sozialdemokratie
wird beim Aufspüren der Wurzeln ihres schmachvollen Zusammenbruchs
im Jahre 1914 nicht wenig interessantes Material zu dieser Frage vor-
finden, angefangen von den ausweichenden, dem Opportunismus Tür
und Tor öffnenden Erklärungen in den Artikeln Kautskys, des ideolo-
gischen Führers der Partei, bis zu dem Verhalten der Partei zu der „Los-
von-der-Kirche-Bewegung“ im Jahre 1913.
Gehen wir jedoch zu den Lehren über, die Engels zwanzig Jahre nach
der Kommune aus ihren Erfahrungen für das kämpfende Proletariat zog.
Das sind die Lehren, die Engels in den Vordergrund rückte;
„Gerade die unterdrückende Macht der bisherigen zentralisierten
Regierung, Armee, politische Polizei, Bürokratie, die Napoleon 1798
geschaffen und die seitdem jede neue Regierung als willkommnes
Werkzeug übernommen und gegen ihre Gegner ausgenutzt hatte,
gerade diese Macht sollte überall fallen, wie sie in Paris bereits ge-
fallen war.
Die Kommune mußte gleich von vornherein anerkennen, daß die
Arbeiterklasse, einmal zur Herrschaft gekommen, nicht fortwirt-
schaften könne mit der alten Staatsmaschine; daß diese Arbeiter-
klasse, um nicht ihrer eignen, erst eben eroberten Herrschaft wie-
der verlustig zu gehn, einerseits alle die alte, bisher gegen sie selbst
ausgenutzte Unterdrückungsmaschinerie beseitigen, andrerseits aber
Staat und Revolution
465
sich sichern müsse gegen ihre eignen Abgeordneten und Beamten,
indem sie diese, ohne alle Ausnahme, für jederzeit absetzbar er-
klärte.“
Engels unterstreicht immer wieder, daß nicht nur in der Monarchie,
sondern auch in der demokratischen Republik der Staat Staat bleibt, d. h.
sein grundlegendes Unterscheidungsmerkmal beibehält: die beamteten
Personen, die »Diener der Gesellschaft“, ihre Organe in Herren über die
Gesellschaft zu verwandeln.
»Gegen diese, in allen bisherigen Staaten unumgängliche Ver-
wandlung des Staats und der Staatsorgane aus Dienern der Ge-
sellschaft in Herren der Gesellschaft wandte die Kommune zwei
unfehlbare Mittel an. Erstens besetzte sie alle Stellen, verwaltende,
richtende, lehrende, durch Wahl nach allgemeinem Stimmrecht der
Beteiligten, und zwar auf jederzeitigen Widerruf durch dieselben
Beteiligten. Und zweitens zahlte sie für alle Dienste, hohe wie nied-
rige, nur den Lohn, den andre Arbeiter empfingen. Das höchste
Gehalt, das sie überhaupt zahlte, war 6000 Franken*. Damit war
der Stellenjägerei und dem Strebertum ein sichrer Riegel vorge-
schoben, auch ohne die gebundnen Mandate bei Delegierten zu
Vertretungskörpem, die noch zum Überfluß hinzugefügt wurden.“
Engels gelangt hier an jene denkwürdige Grenze, wo eine konsequente
Demokratie sich auf der einen Seite in Sozialismus verwandelt und auf
der andern Seite den Sozialismus erfordert. Denn zur Aufhebung des
Staates ist nötig, daß die Funktionen des Staatsdienstes in solche ein-
fachen Operationen der Kontrolle und Rechnungsführung verwandelt
werden, die für die ungeheure Mehrheit der Bevölkerung und später für
die gesamte Bevölkerung ohne Ausnahme verständlich und ausführbar
sind. Zur völligen Beseitigung des Strebertums ist es erforderlich, daß ein
„Ehrenamt“ im Staatsdienst, auch wenn es nichts einbringt, nicht als
Sprungbrett dienen kann, um in hochbezahlte Stellungen bei Banken und
* Nominell waren das zirka 2400 Rubel, nach dem heutigen Kurs zirka
6000 Rubel. Ganz unverzeihlich handeln die Bolsdiewiki, die z. B. Vorschlägen, in
den städtischen Dumas Gehälter von 9000 Rubel einzuführen, statt ein Maximum
von 6000 Rubel für den ganzen Staat za beantragen - eine Summe, die durchaus
genügen dürfte.
Lenin. Werke. Bd. 25
466
Aktiengesellschaften zu gelangen, wie das in allen kapitalistischen Län-
dern, auch den freiesten, ständig vorkommt.
Engels begeht aber nicht den Fehler, den z. B. manche Marxisten in
der Frage des Selbstbestimmungsrechts der Nationen begehen: im Kapi-
talismus sei die Selbstbestimmung unmöglich und im Sozialismus über-
flüssig. Eine derartige, anscheinend geistreiche, in Wirklichkeit aber
falsche Argumentation ließe sich über jede beliebige demokratische Ein-
richtung wiederholen, auch über die bescheidenen Beamtengehälter, denn
ein vollauf konsequenter Demokratismus ist unter dem Kapitalismus un-
möglich, im Sozialismus wird aber jede Demokratie absterben.
Das ist eine Sophisterei, die an die alte Scherzfrage erinnert, ob ein
Mensch beginnt kahlköpfig zu werden, wenn er ein Haar verliert.
Entwicklung der Demokratie bis zu Ende, Auffinden der Formen einer
solchen Entwicklung, ihre Erprobung in der Praxis usw. - das alles bildet
eine der integrierenden Aufgaben des Kampfes um die soziale Revolu-
tion. Für sich genommen wird kein Demokratismus den Sozialismus brin-
gen. Im Leben aber wird der Demokratismus nie „für sich genommen“,
sondern er wird mit anderen Erscheinungen „zusammengenommen“, er
wird seinen Einfluß auch auf die Ökonomik ausüben, ihre Umgestaltung
fördern, dem Einfluß der ökonomischen Entwicklung unterliegen usw.
Das ist die Dialektik der lebendigen Geschichte.
Engels fährt fort:
„Diese Sprengung der bisherigen Staatsmacht und ihre Ersetzung
durch eine neue, in Wahrheit demokratische, ist im dritten Ab-
schnitt des .Bürgerkriegs“ eingehend geschildert. Es war aber nötig,
hier nochmals kurz auf einige Züge derselben einzugehn, weil ge-
rade in Deutschland der Aberglaube an den Staat aus der Philoso-
phie sich in das allgemeine Bewußtsein der Bourgeoisie und selbst
vieler Arbeiter übertragen hat. Nach der philosophischen Vorstel-
lung ist der Staat die .Verwirklichung der Idee“ oder das ins Philo-
sophische übersetzte Reich Gottes auf Erden, das Gebiet, worauf
die ewige Wahrheit und Gerechtigkeit sich verwirklicht oder ver-
wirklichen soll. Und daraus folgt dann eine abergläubische Vereh-
rung des Staats und alles dessen, was mit dem Staat zusammen-
hängt, und die sich um so leichter einstellt, als man sich von
Kindesbeinen daran gewöhnt hat, sich einzubilden, die der ganzen
Staat und Revolution
467
Gesellschaft gemeinsamen Geschäfte und Interessen könnten nicht
anders besorgt werden, als wie sie bisher besorgt worden sind,
nämlich durch den Staat und seine wohlbestallten Behörden. Und
man glaubt schon einen ganz gewaltig kühnen Schritt getan zu
haben, wenn man sich frei gemacht vom Glauben an die erbliche
Monarchie und auf die demokratische Republik schwört. In Wirk-
lichkeit aber ist der Staat nichts als eine Maschine zur Unterdrük-
kung einer Klasse durch eine andre, und zwar in der demokratischen
Republik nicht minder als in der Monarchie; und im besten Fall ein
Übel, das dem im Kampf um die Klassenherrschaft siegreichen Pro-
letariat vererbt wird, und dessen schlimmste Seiten es, ebensowenig
wie die Kommune, umhinkönnen wird, sofort möglichst zu be-
schneiden. bis ein in neuen, freien Gesellschaftszuständen heran-
gewachsenes Geschlecht imstande sein wird, den ganzen Staats-
plunder von sich abzutun.“
Engels ermahnte die Deutschen, bei der Ersetzung der Monarchie
durch eine Republik nicht die Grundlagen des Sozialismus in der Frage
des Staates überhaupt zu vergessen. Seine Warnungen lesen sich jetzt
geradezu wie eine Lektion für die Herren Zereteli und Tschemow, die
in ihrer „Koalitions"praxis ihren Aberglauben an den Staat und ihre
abergläubische Verehrung des Staates offenbart haben!
Noch zwei Bemerkungen. Erstens; Wenn Engels sagt, daß in einer
demokratischen Republik der Staat .nicht minder“ als in der Monarchie
eine .Maschine zur Unterdrückung einer Klasse durch eine andre“ bleibt,
so bedeutet das durchaus nicht, daß die Form der Unterdrückung dem
Proletariat gleichgültig sei, wie manche Anarchisten „lehren". Eine brei-
tere, freiere, offenere Form des Klassenkampfes und der Klassenunter-
drückung bedeutet für das Proletariat eine riesige Erleichterung im Kampf
um die Aufhebung der Klassen überhaupt.
Zweitens: Die Frage, warum erst ein neues Geschlecht imstande sein
wird, den ganzen Staatsplunder von sich abzutun, hängt mit der Frage
der Überwindung der Demokratie zusammen, einer Frage, zu der wir
nun übergehen.
468
W.I. Lenin
6. Engels über die Überwindung der Demokratie
Engels hatte Gelegenheit, sich darüber zu äußern im Zusammenhang
mit der Frage der wissenschaftlichen Unrichtigkeit der Bezeichnung „So-
zialdemokrat“.
Im Vorwort zu einer Ausgabe seiner Aufsätze zu verschiedenen The-
men aus den siebziger Jahren hauptsächlich „internationalen“ Inhalts
C, Internationales aus dem .Volksstaat“ “), datiert vom 3. Januar 1894,
also anderthalb Jahre vor seinem Tod, schrieb Engels, er habe in allen
Aufsätzen das Wort „Kommunist“ und nicht „Sozialdemokrat“ ge-
braucht, weil sich damals die Proudhonisten in Frankreich und die Las-
salleaner in Deutschland Sozialdemokraten nannten.
„Für Marx und mich“, fährt Engels fort, „war es daher rein un-
möglich, zur Bezeichnung unseres speziellen Standpunkts einen Aus-
druck von solcher Dehnbarkeit zu wählen. Heute ist das anders, und
so mag das Wort“ („Sozialdemokrat“) „passieren, so unpassend es
bleibt für eine Partei, deren ökonomisches Programm nicht bloß
allgemein sozialistisch, sondern direkt kommunistisch, und deren
politisches letztes Endziel die Überwindung des ganzen Staates,
also auch der Demokratie ist. Die Namen wirklicher •“ (hervorgeho-
ben von Engels) „politischer Parteien stimmen aber nie ganz; die
Partei entwickelt sich, der Name bleibt.“ 111
Der Dialektiker Engels bleibt am Ende seiner Tage der Dialektik treu.
Marx und ich, sagt er, hatten einen ausgezeichneten, wissenschaftlich
exakten Namen für die Partei, aber es fehlte die wirkliche, d. h. die pro-
letarische Massenpartei. Jetzt (Ende des 19. Jahrhunderts) existiert eine
wirkliche Partei, aber ihr Name ist wissenschaftlich unrichtig. Tut nichts,
er „mag passieren“, wenn nur die Partei sich entwickelt, wenn nur die
wissenschaftliche Ungenauigkeit ihres Namens der Partei selbst nicht
verborgen bleibt und sie nicht daran hindert, sich in der richtigen Rich-
tung zu entwickeln!
Mancher Spaßvogel könnte am Ende auch uns, die Bolschewiki, nach
der Art von Engels trösten wollen: Wir haben eine wirkliche Partei, sie
entwickelt sich vorzüglich; es mag also auch ein so sinnloses und mon-
ströses Wort wie „Bolschewik“ „passieren“, das nichts weiter ausdrückt
als den rein zufälligen Umstand, daß wir 1903 auf dem Parteitag in
Staat und Revolution
Brüssel-London die Mehrheit hatten . . . Jetzt, da die Verfolgungen un-
serer Partei im Juli und August durch die Republikaner und die „revolu-
tionäre“ kleinbürgerliche Demokratie das Wort „Bolschewik“ im ganzen
Volk zu einem Ehrennamen gemacht, jetzt, da diese Verfolgungen außer-
dem einen so gewaltigen, historischen Fortschritt unserer Partei in ihrer
wirklichen Entwicklung markiert haben - jetzt hätte auch ich vielleicht
Bedenken, wie im April vorzuschlagen, den Namen unserer Partei zu
ändern. Vielleicht würde ich meinen Genossen ein „Kompromiß“ Vor-
schlägen: uns Kommunistische Partei zu nennen und das Wort Bolsche-
wiki in Klammem beizubehalten . . .
Doch die Frage nach der Benennung der Partei ist unvergleichlich we-
niger wichtig als die Frage nach dem Verhältnis des revolutionären Pro-
letariats zum Staat.
In den landläufigen Betrachtungen über den Staat wird fortwährend
der Fehler begangen, vor dem hier Engels warnt und den wir in den vor-
hergegangenen Darlegungen beiläufig gestreift haben. Man vergißt näm-
lich immer, daß die Aufhebung des Staates auch die Aufhebung der De-
mokratie bedeutet, daß das Absterben des Staates ein Absterben der
Demokratie ist.
Auf den ersten Blick mag diese Behauptung höchst sonderbar und un-
verständlich erscheinen ; bei manchem dürfte sogar die Befürchtung auf-
kommen, daß wir den Anbruch einer Gesellschaftsordnung erwarten, in
der das Prinzip der Unterordnung der Minderheit unter die Mehrheit
nicht eingehalten werden würde, denn Demokratie sei doch gerade die
Anerkennung dieses Prinzips!
Nein. Demokratie ist nicht identisch mit Unterordnung der Minder-
heit unter die Mehrheit. Demokratie ist ein die Unterordnung der Min-
derheit unter die Mehrheit anerkennender Staat, d. h. eine Organisation
zur systematischen Gewaltanwendung einer Klasse gegen die andere,
eines Teils der Bevölkerung gegen den anderen.
Als Endziel setzen wir uns die Abschaffung des Staates, d. h. jeder
organisierten und systematischen Gewalt, jeder Gewaltanwendung gegen
Menschen überhaupt. Wir erwarten nicht, daß eine Gesellschaftsordnung
anbricht, in der das Prinzip der Unterordnung der Minderheit unter die
Mehrheit nicht eingehalten werden würde. Doch in unserem Streben zum
Sozialismus sind wir überzeugt, daß er in den Kommunismus hinüber-
470
W. I. Lenin
wachsen wird und daß im Zusammenhang damit jede Notwendigkeit der
Gewaltanwendung gegen Menschen überhaupt, der Unterordnung eines
Menschen unter den anderen, eines Teils der Bevölkerung unter den an-
deren verschwinden wird, denn die Menschen werden sich daran gewöh-
nen. die elementaren Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens ohne
Gewalt und ohne Unterordnung einzuhalten.
Um dieses Element der Gewohnheit zu betonen, spricht Engels eben
von einem neuen Geschlecht, das, „in neuen, freien Gesellschaftszustän-
den herangewachsen, imstande sein wird, den ganzen Staatsplunder von
sich abzutun“ - jedes Staatswesen abzuschaffen, auch das demokratisch-
republikanische.
Um das klarzumachen, bedarf es einer Untersuchung der Frage nach
den ökonomischen Grundlagen für das Absterben des Staates.
V. KAPITEL
die Ökonomischen Grundlagen
FÜR DAS ABSTERBEN DES STAATES
Am ausführlichsten erörtert Marx diese Frage in seiner „Kritik des
Gothaer Programms“ (Brief an Bracke vom 5. Mai 1875, veröffentlicht
erst 1891 in der „Neuen Zeit“, Jahrgang IX, 1, in russischer Sprache als
Broschüre erschienen). Der polemische Teil dieses bedeutenden Werkes,
der aus einer Kritik am Lassalleanertum besteht, hat seinen positiven
Teil, nämlich die Analyse des Zusammenhangs zwischen der Entwicklung
des Kommunismus und dem Absterben des Staates; sozusagen in den
Schatten gestellt.
1. Die Fragestellung hei Marx
Bei einem oberflächlichen Vergleich des Briefes von Marx an Bracke
vom 5. Mai 1875 mit dem oben besprochenen Brief von Engels an Bebel
vom 28. März 1875 könnte es scheinen, als wäre Marx viel mehr „Staats-
anhänger“ als Engels und als bestünde zwischen den Auffassungen der
beiden Verfasser über den Staat ein ganz erheblicher Unterschied.
Staat und Revolution
471
Engels empfiehlt Bebel, das ganze Gerede vom Staat überhaupt fallen-
zulassen, das Wort „Staat“ gänzlich aus dem Programm zu entfernen
und es durch das Wort „Gemeinwesen“ zu ersetzen ; Engels erklärt so-
gar, die Kommune sei kein Staat im eigentlichen Sinne mehr gewesen.
Marx dagegen spricht sogar vom „zukünftigen Staatswesen der kommu-
nistischen Gesellschaft“, d. h„ er erkennt scheinbar die Notwendigkeit
des Staates selbst im Kommunismus an.
Eine derartige Auffassung wäre jedoch grundfalsch. Eine nähere Be-
trachtung ergibt, daß sich die Ansichten von Marx und die von Engels
über den Staat und dessen Absterben durchaus decken, der erwähnte
Ausdruck von Marx bezieht sich doch gerade auf dieses absterbende
Staatswesen.
Es ist klar, daß von einer Bestimmung des Zeitpunkts des künftigen
„Absterbens“ nicht einmal die Rede sein kann, um so mehr, als es sich
offenkundig um einen langwierigen Prozeß handelt. Der scheinbare Un-
terschied zwischen Marx und Engels erklärt sich aus der Verschiedenheit
der Themen, die sie behandelten, der Aufgaben, die sie verfolgten. En-
gels machte es sich zur Aufgabe, Bebel anschaulich, scharf Umrissen, in
großen Zügen die ganze Unsinnigkeit der landläufigen (und in nicht
geringem Maße von Lassalle geteilten) Vorurteile in bezug auf den Staat
nachzuweisen. Marx streift diese Frage nur nebenbei; ihn interessiert
ein anderes Thema: die Entmicklung der kommunistischen Gesellschaft.
Die ganze Theorie von Marx ist eine Anwendung der Entwicklungs-
theorie - in ihrer konsequentesten, vollkommensten, durchdachtesten
und inhaltsreichsten Form - auf den modernen Kapitalismus. Es ist nur
natürlich, daß sich für Marx die Frage nach der Anwendung dieser Theo-
rie auch auf den bevorstehenden Zusammenbruch des Kapitalismus und
die künftige Entwicklung des künftigen Kommunismus erhob.
Auf Grund welcher Unterlagen aber kann die Frage nach der künf-
tigen Entwicklung des künftigen Kommunismus aufgeworfen werden?
Auf Grund der Tatsache, daß er aus dem Kapitalismus hervorgeht,
sich historisch aus dem Kapitalismus entwickelt, das Resultat der Wir-
kungen einer gesellschaftlichen Kraft ist, die der Kapitalismus erzeugt
hat. Bei Marx findet sich auch nicht die Spur eines Versuchs, Utopien zu
konstruieren, ins Blaue hinein Mutmaßungen anzustellen über das, was
man nicht wissen kann. Marx stellt die Frage des Kommunismus so, wie
472
der Naturforscher die Frage der Entwicklung einer neuen, sagen wir,
biologischen Abart stellen würde, wenn man weiß, daß sie so und so ent-
standen ist und sich in der und der bestimmten Richtung modifiziert.
Marx räumt vor allem mit der Konfusion auf, die durch das Gothaer
Programm in die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Gesellschaft
hineingetragen wird.
„Die .heutige Gesellschaft“ ist die kapitalistische Gesellschaft“,
schreibt er, „die in allen Kulturländern existiert, mehr oder weniger
frei von mittelaltrigem Beisatz, mehr oder weniger durch die be-
sondre geschichtliche Entwicklung jedes Landes modifiziert, mehr
oder weniger entwickelt. Dagegen der .heutige Staat' wechselt mit
der Landesgrenze. Er ist ein andrer im preußisch-deutschen Reich
als in der Schweiz, ein andrer in England als in den Vereinigten
Staaten. ,Der heutige Staat' ist also eine Fiktion.
Jedoch haben die verschiednen Staaten der verschiednen Kultur-
länder trotz ihrer bunten Formverschiedenheit alle das gemein, daß
sie auf dem Boden der modernen bürgerlichen Gesellschaft stehn,
nur einer mehr oder minder kapitalistisch entwickelten. Sie haben
. daher auch gewisse wesentliche Charaktere gemein. In diesem Sinne
kann man von .heutigem Staatswesen' sprechen, im Gegensatz zur
Zukunft, worin seine jetzige Wurzel, die bürgerliche Gesellschaft,
abgestorben ist.
Es fragt sich dann: Welche Umwandlung wird das Staatswesen
in einer kommunistischen Gesellschaft erleiden? In andern Worten,
welche gesellschaftlichen Funktionen bleiben dort übrig, die jetzigen
Staatsfunktionen analog sind? Diese Frage ist nur wissenschaftlich
zu beantworten, und man kommt dem Problem durch tausendfache
Zusammensetzung des Wortes Volk mit dem Wort Staat auch nicht
um einen Flohsprung näher.“ 112
Nachdem Marx auf diese Weise alles Gerede vom „Volksstaat“ lächer-
lich gemacht hat, gibt er die Problemstellung und warnt gewissermaßen
davor, bei der wissenschaftlichen Beantwortung der Frage anders als mit
feststehenden wissenschaftlichen Angaben zu operieren.
Das erste, was durch die ganze Entwicklungstheorie, die ganze Wis-
senschaft überhaupt ganz genau festgestellt wurde, was die Utopisten
vergaßen und die jetzigen Opportunisten, die sich vor der sozialistischen
Staat und Revolution
473
Revolution fürchten, vergessen, ist der Umstand, daß es geschichtlich
zweifellos ein besonderes Stadium oder eine besondere Etappe des Über-
gangs vom Kapitalismus zum Kommunismus geben muß.
2. Der Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus
„Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesell-
schaft“, fährt Marx fort, „liegt die Periode der revolutionären Um-
wandlung der einen in die andre. Der entspricht auch eine politische
Übergangsperiode, deren Staat nichts andres sein kann als die revo-
lutionäre Diktatur des Proletariats.“
Diese Schlußfolgerung beruht bei Marx auf der Analyse der Rolle, die
das Proletariat in der modernen kapitalistischen Gesellschaft spielt, auf
den Tatsachen der Entwicklung dieser Gesellschaft und der Unversöhn-
lichkeit der einander entgegengesetzten Interessen des Proletariats und
der Bourgeoisie.
Früher wurde die Frage so gestellt: Das Proletariat muß, um seine
Befreiung zu erlangen, die Bourgeoisie stürzen, die politische Macht er-
obern und seine revolutionäre Diktatur errichten.
Jetzt wird die Frage etwas anders gestellt: Der Übergang von der
kapitalistischen Gesellschaft, die sich zum Kommunismus hin entwickelt,
zur kommunistischen Gesellschaft ist unmöglich ohne eine „politische
Übergangsperiode“, und der Staat dieser Periode kann nur die revolutio-
näre Diktatur des Proletariats sein.
In welchem Verhältnis steht nun diese Diktatur zur Demokratie?
Wir haben gesehen, daß das „Kommunistische Manifest“ einfach zwei
Begriffe nebeneinander stellt: „Erhebung des Proletariats zur herrschen-
den Klasse“ und „Erkämpfung der Demokratie“. Auf Grund alles oben
Gesagten läßt sich genauer bestimmen, wie sich die Demokratie beim
Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus verändert.
In der kapitalistischen Gesellschaft, ihre günstigste Entwiklung vor-
ausgesetzt, haben wir in der demokratischen Republik einen mehr oder
weniger vollständigen Demokratismus. Dieser Demokratismus ist jedoch
durch den engen Rahmen der kapitalistischen Ausbeutung stets eingeengt
und bleibt daher im Grunde genommen stets ein Demokratismus für die
474
W.I. Lenin
Minderheit, nur für die besitzenden Klassen, nur für die Reichen. Die
Freiheit der kapitalistischen Gesellschaft bleibt immer ungefähr die
gleiche, die sie in den antiken griechischen Republiken war: Freiheit für
die Sklavenhalter. Die modernen Lohnsklaven bleiben infolge der Be-
dingungen der kapitalistischen Ausbeutung so von Not und Elend be-
drückt, daß ihnen „nicht nach Demokratie“, „nicht nach Politik“ der Sinn
steht, so daß bei dem gewöhnlichen, friedlichen Gang der Ereignisse die
Mehrheit der Bevölkerung von der Teilnahme am öffentlichen und poli-
tischen Leben ausgeschlossen ist.
Die Richtigkeit dieser Behauptung wird vielleicht am anschaulichsten
durch Deutschland bestätigt, da gerade in diesem Staat die verfassungs-
mäßige Legalität sich erstaunlich lange und stabil, nahezu ein halbes Jahr-
hundert (1871-1914), behauptet hat, während die Sozialdemokratie es
verstanden hat, in dieser Zeit viel mehr als in anderen Ländern die „Le-
galität auszunutzen“ und einen so großen Teil der Arbeiter in der poli-
tischen Partei zu organisieren, wie das sonst nirgends in der Welt der
Fall war.
Wie groß ist nun dieser höchste in der kapitalistischen Gesellschaft je
beobachtete Teil der politisch bewußten und aktiven Lohnsklaven? Eine
Million Mitglieder der sozialdemokratischen Partei - von fünfzehn Mil-
lionen Lohnarbeitern! Drei Millionen gewerkschaftlich Organisierte -
von fünfzehn Millionen !
Demokratie für eine verschwindende Minderheit, Demokratie für die
Reichen - so sieht der Demokratismus der kapitalistischen Gesellschaft
aus. Sieht man sich den Mechanismus der kapitalistischen Demokratie
genauer an, so findet man überall, sowohl in den „geringfügigen“, an-
geblich geringfügigen, Einzelheiten des Wahlrechts (Ansässigkeitsklau-
sel, Ausschließung der Frauen usw.) als auch in der Technik der Vertre-
tungskörperschaften, in den tatsächlichen Behinderungen des Versamm-
lungsrechts (die öffentlichen Gebäude sind nicht für „Habenichtse“ da!)
oder in der rein kapitalistischen Organisation der Tagespresse und so
weiter und so fort - überall, wo man hinblickt, Beschränkungen auf Be-
schränkungen des Demokratismus. Diese Beschränkungen, Ausnahmen,
Ausschließungen und Behinderungen für die Armen erscheinen gering,
besonders demjenigen, der selbst nie Not gekannt hat und mit dem
Leben der unterdrückten Klassen in ihrer Masse nicht in Berührung
Staat und Revolution
475
gekommen ist (und das trifft für neun Zehntel, wenn nicht gar für neun-
undneunzig Hundertstel der bürgerlichen Publizisten und Politiker zu) -
aber zusammengenommen bewirken diese Beschränkungen, daß die arme
Bevölkerung von der Politik, von der aktiven Teilnahme an der Demo-
kratie ausgeschlossen, verdrängt wird.
Marx hat dieses Wesen der kapitalistischen Demokratie glänzend
erfaßt, als er in seiner Analyse der Erfahrungen der Kommune sagte:
den Unterdrückten wird in mehreren Jahren einmal gestattet, darüber
zu entscheiden, welcher Vertreter der unterdrückenden Klasse sie im
Parlament ver- und zertreten sollt
Doch von dieser kapitalistischen Demokratie - die unvermeidlich eng
ist, die die Armen im stillen beiseite schiebt und daher durch und durch
heuchlerisch und verlogen ist - führt die weitere Entwicklung nicht ein-
fach, geradeswegs und glatt, »zu immer größerer Demokratie“, wie die
liberalen Professoren und kleinbürgerlichen Opportunisten die Sache
darzustellen pflegen. Nein. Die weitere Entwicklung, d. h. die Entwick-
lung zum Kommunismus, geht über die Diktatur des Proletariats und
kann auch gar nicht anders gehen, denn außer dem Proletariat ist nie-
mand imstande, den Widerstand der kapitalistischen Ausbeuter zu bre-
chen, und auf anderem Wege ist er nicht zu brechen.
Die Diktatur des Proletariats aber, d. h. die Organisierung der Avant-
garde der Unterdrückten zur herrschenden Klasse, um die Unterdrücker
niederzuhalten, kann nicht einfach nur eine Erweiterung der Demokratie
ergeben. Zugleich mit der gewaltigen Erweiterung des Demokratismus,
der zum erstenmal ein Demokratismus für die Armen, für das
Volk wird und nicht ein Demokratismus für die Reichen, bringt die Dik-
tatur des Proletariats eine Reihe von Freiheitsbeschränkungen für die
Unterdrücker, die Ausbeuter, die Kapitalisten. Diese müssen wir nieder-
halten, um die Menschheit von der Lohnsklaverei zu befreien, ihr Wider-
stand muß mit Gewalt gebrochen werden, und es ist klar, daß es dort, wo
es Unterdrückung, wo es Gewalt gibt, keine Freiheit, keine Demokratie
gibt.
Engels hat das ausgezeichnet in seinem Brief an Bebel zum Ausdruck
gebracht, wenn er, wie der Leser sich entsinnen wird, sagt: „Solange das
Proletariat den Staat noch gebraucht, gebraucht es ihn nicht im Inter-
esse der Freiheit, sondern der Niederhaltung seiner Gegner, und sobald
476
W. I. Lenin
von Freiheit die Rede sein kann, hört der Staat als solcher auf zu be-
stehen.“
Demokratie für die riesige Mehrheit des Volkes und gewaltsame Nie-
derhaltung der Ausbeuter, der Unterdrücker des Volkes, d. h. ihr Aus-
schluß von der Demokratie - diese Modifizierung erfährt die Demokra-
tie beim Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus.
Erst in der kommunistischen Gesellschaft, wenn der Widerstand der
Kapitalisten schon endgültig gebrochen ist, wenn die Kapitalisten ver-
schwunden sind, wenn es keine Klassen (d. h. keinen Unterschied zwi-
schen den Mitgliedern der Gesellschaft in ihrem Verhältnis zu den ge-
sellschaftlichen Produktionsmitteln) mehr gibt - erst dann „hört der
Staat auf zu bestehen, und es kann von Freiheit die Rede sein“. Erst dann
ist eine tatsächlich vollkommene Demokratie, tatsächlich ohne jede Aus-
nahme, möglich und wird verwirklicht werden. Und erst dann beginnt
die Demokratie abzusterben, infolge des einfachen Umstands, daß die
von der kapitalistischen Sklaverei, von den ungezählten Greueln, Bruta-
litäten, Widersinnigkeiten und Gemeinheiten der kapitalistischen Aus-
beutung befreiten Menschen sich nach und nach gewöhnen wer-
den, die elementaren, von alters her bekannten und seit Jahrtausenden
in allen Vorschriften gepredigten Regeln des gesellschaftlichen Zusam-
menlebens einzuhalten, sie ohne Gewalt, ohne Zwang, ohne Unterord-
nung, ohne den besonderen Zwangsapparat, der sich
Staat nennt, einzuhalten.
Der Ausdruck „der Staat stirbt ab“ ist sehr treffend gewählt, denn er
deutet sowohl auf das Allmähliche als auch auf das Elementare des Pro-
zesses hin. Nur die Gewöhnung kann und wird zweifellos eine solche
Wirkung ausüben, denn wir beobachten rings um uns millionenfach, wie
leicht sich Menschen an die Einhaltung der für sie notwendigen Regeln
des gesellschaftlichen Zusammenlebens gewöhnen, wenn die Ausbeutung
fehlt, wenn nichts vorhanden ist, was sie empört, sie zu Protest und Auf-
lehnung herausfordert, was die Notwendigkeit der Niederhaltung schafft.
Also: In der kapitalistischen Gesellschaft haben wir eine gestutzte,
dürftige, falsche Demokratie, eine Demokratie nur für die Reichen, für
eine Minderheit. Die Diktatur des Proletariats, die Periode des Über-
gangs zum Kommunismus, wird zum erstenmal Demokratie für das
Volk, für die Mehrheit bringen, aber zugleich wird sie notwendigerweise
eine Minderheit, die Ausbeuter, niederhalten. Einzig und allein der
Kommunismus ist imstande, eine wahrhaft vollständige Demokratie zu
bieten, und je vollständiger diese sein wird, um so schneller wird sie ent-
behrlich werden, wird sie von selbst absterben.
Mit anderen Worten: Im Kapitalismus haben wir den Staat im eigent-
lichen Sinne des Wortes, eine besondere Maschine zur Unterdrückung
einer Klasse durch eine andere, und zwar der Mehrheit durch eine Min-
derheit. Damit eine solche Sache wie die systematische Unterdrückung
der Mehrheit der Ausgebeuteten durch die Minderheit der Ausbeuter
erfolgreich ist, bedarf es natürlich der größten Grausamkeit und bestia-
lischer Unterdrückung, sind Meere von Blut nötig, durch die denn auch
die Menschheit im Zustand der Sklaverei, der Leibeigenschaft und der
Lohnarbeit ihren Weg geht.
Weiter. Beim Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus ist die
Unterdrückung noch notwendig, aber es ist das bereits eine Unterdrük-
kung der Minderheit der Ausbeuter durch die Mehrheit der Ausgebeu-
teten. Ein besonderer Apparat, eine besondere Maschine zur Unter-
drückung, ein „Staat“ ist noch notwendig, aber es ist das bereits ein
Übergangsstaat, kein Staat im eigentlichen Sinne mehr, denn die Nieder-
haltung der Minderheit der Ausbeuter durch die Mehrheit der Lohn-
sklaven von gestern ist eine so verhältnismäßig leichte, einfache und na-
türliche Sache, daß sie viel weniger Blut kosten wird als die Unterdrüc-
kung von Aufständen der Sklaven, Leibeigenen und Lohnarbeiter, daß
sie der Menschheit weit billiger zu stehen kommen wird. Und sie ist
vereinbar mit der Ausdehnung der Demokratie auf eine so überwälti-
gende Mehrheit der Bevölkerung, daß die Notwendigkeit einer beson-
deren Maschine zur Unterdrückung zu schwinden beginnt. Die Ausbeu-
ter sind natürlich nicht imstande, das Volk niederzuhalten ohne eine sehr
komplizierte Maschine zur Erfüllung dieser Aufgabe, das Volk aber ver-
mag die Ausbeuter mit einer sehr einfachen „Maschine“, ja nahezu ohne
„Maschine“, ohne einen besonderen Apparat niederzuhalten, durch die
einfache Organisation der bewaffneten Massen (in der Art der Sowjets
der Arbeiter- und Soldatendeputierten, sei voigreifend bemerkt).
Schließlich macht allem der Kommunismus den Staat völlig über-
flüssig, denn es ist niemand niederzuhalten, „niemand“ im Sinne einer
Klasse, im Sinne des systematischen Kampfes gegen einen bestimmten
478
Teil der Bevölkerung. Wir sind keine Utopisten und leugnen durchaus
nicht die Möglichkeit und Unvermeidlichkeit von Ausschreitungen ein-
zelner Personen und ebensowenig die Notwendigkeit, solche Ausschrei-
tungen zu unterdrücken. Aber erstens bedarf es dazu keiner besonderen
Maschine, keines besonderen Unterdrückungsapparates; das wird das
bewaffnete Volk selbst mit der gleichen Selbstverständlichkeit und Leich-
tigkeit bewerkstelligen, mit der eine beliebige Gruppe zivilisierter Men-
schen sogar in der heutigen Gesellschaft Raufende auseinander bringt
oder, eine Frau vor Gewalt schützt. Zweitens wissen wir, daß die soziale
Grundursache der Ausschreitungen, die eine Verletzung der Regeln des
gesellschaftlichen Zusammenlebens bedeuten, in der Ausbeutung der
Massen, ihrer Not und ihrem Elend zu suchen ist. Mit der Beseitigung
dieser Hauptursache werden die Ausschreitungen unvermeidlich „ abzu-
sterben“ beginnen. Wir wissen nicht, wie rasch und in welcher Folge das
geschehen wird, aber wir wissen, daß sie absterben werden. Mit dem
Absterben der Ausschreitungen wird auch der Staat äbsterben.
Ohne sich auf Utopien einzulassen, hat Marx das näher bestimmt, was
sich jetzt über diese Zukunft bestimmen läßt, nämlich den Unterschied
zwischen der niederen und der höheren Phase (Stufe, Etappe) der kom-
munistischen Gesellschaft.
3. Die erste Phase der kommunistischen Gesellschaft
In der „Kritik des Gothaer Programms“ widerlegt Marx eingehend
die Lassallesche Idee, der Arbeiter werde im Sozialismus den „unver-
kürzten“ oder „vollen Arbeitsertrag“ erhalten. Marx zeigt, daß von dem
gesellschaftlichen Gesamtprodukt ein Reservefonds abzuziehen ist, ein
Fonds für die Ausdehnung der Produktion, ferner für Ersatz der „ver-
brauchten“ Maschinen u. dgl. m„ sodann aus den Konsumtionsmitteln ein
Fonds für Verwaltungskosten, für Schulen, Krankenhäuser, Altersheime
usw.
An Stelle der nebelhaften, imklaren, allgemeinen Phrase Lassalles
(„dem Arbeiter den vollen Arbeitsertrag“) gibt Marx eine nüchterne
Berechnung, wie die sozialistische Gesellschaft zu wirtschaften gezwun-
gen sein wird. Marx analysiert konkret die Lebensbedingungen einer
solchen Gesellschaft, in der es keinen Kapitalismus geben wird, und sagt:
„Womit wir es hier zu tun haben“ (bei der Erörterung des Pro-
gramms der Arbeiterpartei), „ist eine kommunistische Gesellschaft,
nicht wie sie sich auf ihrer eigenen Grundlage entwickelt hat, son-
dern umgekehrt, wie sie eben aus der kapitalistischen Gesellschaft
hervor geht ; die also in jeder Beziehung, ökonomisch, sittlich, gei-
stig, noch behaftet ist mit den Muttermalen der alten Gesellschaft,
aus deren Schoß sie herkommt.“
Eben diese kommunistische Gesellschaft, die gerade aus dem Schoße
des Kapitalismus ans Tageslicht tritt, die in jeder Beziehung mit den
Muttermalen der alten Gesellschaft behaftet ist, bezeichnet Marx als die
„erste“ oder niedere Phase der kommunistischen Gesellschaft.
Die Produktionsmittel sind schon nicht mehr Privateigentum einzelner
Personen. Die Produktionsmittel gehören der ganzen Gesellschaft. Jedes
Mitglied der Gesellschaft leistet einen gewissen Teil gesellschaftlich not-
wendiger Arbeit und erhält von der Gesellschaft einen Schein darüber,
daß es ein gewisses Quantum Arbeit geliefert hat. Auf diesen Schein
erhält es ein entsprechendes Quantum Produkte aus den gesellschaft-
lichen Vorräten an Konsumtionsmitteln. Nach Abzug des Arbeitsquan-
tums, das für die gemeinschaftlichen Fonds bestimmt ist, erhält jeder
Arbeiter also von der Gesellschaft so viel zurück, wie er ihr gegeben
hat.
Es herrscht gewissermaßen „Gleichheit“.
Wenn aber Lassalle von dieser Gesellschaftsordnung (die gewöhnlich
als Sozialismus bezeichnet wird, während Marx sie als erste Phase des
Kommunismus bezeichnet) meint, das wäre eine „gerechte Verteilung“,
das wäre „gleiches Recht eines jeden auf den gleichen Arbeitsertrag“, so
irrt er, und Marx deckt seinen Irrtum auf.
„Gleiches Recht“, sagt Marx, haben wir hier allerdings, es ist aber
noch das „bürgerliche Recht“, das, wie alles Recht, Ungleichheit
voraussetzt. Jedes Recht besteht in Anwendung von gleichem
Maßstab auf un gleiche Individuen, die in Wirklichkeit verschieden,
untereinander ungleich sind; das „gleiche Recht“ ist daher eine Ver-
letzung der Gleichheit und eine Ungerechtigkeit. In der Tat erhält jeder,
der den gleichen Teil gesellschaftlicher Arbeit geleistet hat wie die an-
deren, den gleichen Anteil am gesellschaftlichen Produkt (nach den er-
wähnten Abzügen).
W. I. Lenin
Indes sind die einzelnen Menschen nicht gleich: Der eine ist stärker,
der andere schwächer; der eine ist verheiratet, der andere nicht; der eine
hat mehr Kinder als der andere usw.
„Bei gleicher Arbeitsleistung“, folgert Marx, „und daher gleichem
Anteil an dem gesellschaftlichen Konsumtionsfonds erhält also der
eine faktisch mehr als der andre, ist der eine reicher als der andre
etc. Um alle diese Mißstände zu vermeiden, müßte das Recht, statt
gleich, ungleich sein.“
Gerechtigkeit und Gleichheit kann also die erste Phase des Kommunis-
mus noch nicht bringen : Unterschiede im Reichtum, und zwar ungerechte
Unterschiede bleiben bestehen, unmöglich aber wird die Ausbeutung
des Menschen durch den Menschen sein, denn es wird nicht mehr mög-
lich sein, die Produktionsmittel, die Fabriken, Maschinen, den Grund
und Boden usw., als Privateigentum an sich zu reißen. Marx zerschlägt
die kleinbürgerliche, unklare Phrase Lassalles von „Gleichheit“ und „Ge-
rechtigkeit“ schlechthin und zeigt dabei den Entwicklungsgang der kom-
munistischen Gesellschaft, die gezwungen ist, zunächst nur die „Un-
gerechtigkeit“ zu beseitigen, daß die Produktionsmittel von einzelnen
Personen angeeignet sind, und vorerst nicht imstande ist, mit einem
Schlag auch die weitere Ungerechtigkeit zu beseitigen, die in der Vertei-
lung der Konsumtionsmittel „nach der Arbeitsleistung“ (und nicht nach
den Bedürfnissen) besteht.
Die Vulgärökonomen, darunter bürgerliche Professoren mitsamt „un-
seren“ Tugan, machen den Sozialisten ständig zum Vorwurf, daß sie die
Ungleichheit der Menschen vergessen und von einer Beseitigung dieser
Ungleichheit „träumen“. Ein solcher Vorwurf beweist, wie wir sehen,
nur grenzenlose Ignoranz der Herren bürgerlichen Ideologen.
Marx zieht nicht nur auf das genaueste die unvermeidliche Ungleich-
heit der Menschen in Betracht, er berücksichtigt auch, daß der bloße
Übergang der Produktionsmittel in das Gemeineigentum der gesamten
Gesellschaft („Sozialismus“ im landläufigen Gebrauch des Wortes) die
Mängel der Verteilung und die Ungleichheit des „bürgerlichen Rechts“
nicht beseitigt, das weiter herrscht, solange die Produkte „nach
der Arbeitsleistung“ verteilt werden.
„Aber diese Mißstände“, fährt Marx fort, „sind unvermeidbar
in der ersten Phase der kommunistischen Gesellschaft, wie sie eben
Staat und Revolution
481
aus der kapitalistischen Gesellschaft nach langen Geburtswehen her-
vorgegangen ist. Das Recht kann nie höher sein als die ökonomische
Gestaltung und dadurch bedingte Kulturentwicklung der Gesell-
schaft.“
Somit wird in der ersten Phase der kommunistischen Gesellschaft (die
gewöhnlich Sozialismus genannt wird) das „bürgerliche Recht“ nicht
vollständig abgeschafft, sondern nur zum Teil, nur entsprechend der be-
reits erreichten ökonomischen Umwälzung, d. h. lediglich in bezug auf
die Produktionsmittel. Das „bürgerliche Recht“ sieht in ihnen das Pri-
vateigentum einzelner Individuen. Der Sozialismus macht sie zum Ge-
meineigentum. Insofern - und nur insofern - fällt das „bürgerliche
Recht“ fort.
Es bleibt jedoch in seinem anderen Teil bestehen, es bleibt als Regu-
lator (Ordner) bei der Verteilung der Produkte und der Arbeit unter
die Mitglieder der Gesellschaft. „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht
essen“, dieses sozialistische Prinzip ist schon verwirklicht; „für das
gleiche Quantum Arbeit das gleiche Quantum Produkte“ - auch dieses
sozialistische Prinzip ist sdton verwirklicht. Das ist jedoch noch nicht
Kommunismus, und das beseitigt noch nicht das „bürgerliche Recht“, das
ungleichen Individuen für ungleiche (faktisch ungleiche) Arbeitsmengen
die gleiche Menge Produkte zuweisf.
Das ist ein „Mißstand“, sagt Marx, aber er ist in der ersten Phase des
Kommunismus unvermeidbar, denn will man nicht in Utopien verfallen,
so darf man nicht annehmen, daß die Menschen sofort nach dem Sturz
des Kapitalismus lernen werden, ohne alle Rechtsnormen für die Allge-
meinheit zu arbeiten, sind doch die ökonomischen Voraussetzungen für
eine solche Änderung durch die Abschaffung des Kapitalismus nicht so-
fort gegeben.
Andere Normen aber als die des „bürgerlichen Rechts“ sind nicht vor-
handen. Insofern bleibt noch die Notwendigkeit des Staates bestehen,
der unter Wahrung des gesellschaftlichen Eigentums an den Produktions-
mitteln die Gleichheit der Arbeitsleistung und die Gleichheit bei der Ver-
teilung der Produkte zu schützen hat.
Der Staat stirbt ab, insofern es keine Kapitalisten, keine Klassen mehr
gibt und man daher auch keine Klasse mehr unterdrücken kann.
Der Staat ist aber noch nicht ganz abgestorben, denn noch bleibt die
Lenin. Werke. Bd. 25
482
Wahrung des „bürgerlichen Rechts“, das die faktische Ungleichheit sank-
tioniert. Zum vollständigen Absterben des Staates bedarf es des voll-
ständigen Kommunismus.
4. Die höhere Phase der kommunistischen Gesellschaft
Marx fährt fort:
„In einer hohem Phase der kommunistischen Gesellschaft, nach-
dem die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung
der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher
Arbeit verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum
Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden; nach-
dem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch die Pro-
duktionskräfte gewachsen sind und alle Springquellen des genossen-
schaftlichen Reichtums voller fließen - erst dann kann der enge bür-
gerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesell-
schaft auf ihre Fahnen schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten,
jedem nach seinen Bedürfnissen!“
Erst jetzt können wir die ganze Richtigkeit der Bemerkungen von
Engels einschätzen, in denen er unerbittlich die Verbindung der Wörter
„Freiheit“ und „Staat“ als unsinnig verspottete. Solange es einen Staat
gibt, gibt es keine Freiheit. Wenn es Freiheit geben wird, wird es keinen
Staat geben.
Die ökonomische Grundlage für das vollständige Absterben des Staa-
tes ist eine so hohe Entwicklung des Kommunismus, daß der Gegensatz
von geistiger und körperlicher Arbeit verschwindet, folglich eine der
wichtigsten Quellen der heutigen gesellschaftlichen Ungleichheit beseitigt
wird, und zwar eine Quelle, die durch den bloßen Übergang der Pro-
duktionsmittel in Gemeineigentum, durch die bloße Expropriation der
Kapitalisten keinesfalls mit einem Schlag aus der Welt geschafft werden
kann.
Diese Expropriation wird eine enorme Entwicklung der Produktiv-
kräfte ermöglichen. Und wenn wir sehen, wie schon jetzt der Kapitalis-
mus in unglaublicher Weise diese Entwicklung aufhält, wie vieles auf
Grund der heutigen, bereits erreichten Technik vorwärtsgebracht werden
könnte, so sind wir berechtigt, mit voller Überzeugung zu sagen, daß
die Expropriation der Kapitalisten unausbleiblich eine gewaltige Entwick-
lung der Produktivkräfte der menschlichen Gesellschaft zur Folge haben
wird. Wie rasch aber diese Entwicklung weitergehen wird, wie schnell
sie zur Aufhebung der Arbeitsteilung, zur Beseitigung des Gegensatzes
von geistiger und körperlicher Arbeit, zur Verwandlung der Arbeit in
„das erste Lebensbedürfnis“ führen wird, das wissen wir nicht und kön-
nen wir nicht wissen.
Wir sind daher auch nur berechtigt, von dem unvermeidlichen Ab-
sterben des Staates zu sprechen. Dabei betonen wir, daß dieser Prozeß
von langer Dauer ist und vom Entwicklungstempo der höheren Phase des
Kommunismus abhängt, wobei wir die Frage der Fristen oder der kon-
kreten Formen des Absterbens vollkommen offenlassen, denn Unter-
lagen zur Entscheidung dieser Fragen gibt es nicht.
Der Staat wird dann völlig absterben können, wenn die Gesellschaft
den Grundsatz Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Be-
dürfnissen" verwirklicht haben wird, d. h. wenn die Menschen sich so an
das Befolgen der Grundregeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens
gewöhnt haben werden und ihre Arbeit so produktiv sein wird, daß sie
freiwillig nach ihren Fähigkeiten arbeiten werden. Der „enge bürger-
liche Rechtshorizont“, der dazu zwingt, mit der Hartherzigkeit eines
Shylock bedacht zu sein, nur ja nicht eine halbe Stunde länger zu arbei-
ten als der andere und keine geringere Bezahlung zu erhalten als der
andere - dieser enge Horizont wird dann überschritten sein. Die Ver-
teilung der Produkte wird dann von der Gesellschaft keine Normierung
der jedem einzelnen zukommenden Menge erfordern; jeder wird frei
„nach seinen Bedürfnissen“ nehmen.
Vom bürgerlichen Standpunkt aus ist es leicht, eine solche Gesell-
schaftsstruktur als -„reine Utopie“ hinzustellen und darüber zu spotten,
daß die Sozialisten jedem das Recht zusichem, von der Gesellschaft ohne
jegliche Kontrolle über die Arbeitsleistung des einzelnen Bürgers eine
beliebige Menge Trüffeln, Autos, Klaviere u. dgl. m. zu erhalten. Die
meisten bürgerlichen „Gelehrten“ beschränken sich auch bis auf den
heutigen Tag auf dieses Spotten und verraten dadurch nur ihre Ignoranz
und ihre eigennützige Verteidigung des Kapitalismus.
Ignoranz, denn es ist keinem Sozialisten je eingefallen, „zuzusichem“.
484
W. I. Lenin
daß die höhere Phase der Entwicklung des Kommunismus eintreten wird ;
die Voraussicht der großen Sozialisten aber, daß sie eintreten wird, hat
nicht die heutige Arbeitsproduktivität und nicht den heutigen Spießer
zur Voraussetzung, der es fertigbrächte, etwa wie die Seminaristen bei
Pomjalowski*, „für nichts und wieder nichts“ Magazine gesellschaftlicher
Vorräte zu beschädigen und Unmögliches zu verlangen.
Bis die „höhere“ Phase des Kommunismus eingetreten sein wird, for-
dern die Sozialisten die strengste Kontrolle seitens der Gesellschaft und
seitens des Staates über das Maß der Arbeit und das Maß der Konsum-
tion, aber diese Kontrolle muß mit der Expropriation der Kapitalisten
begannen, mit der Kontrolle der Arbeiter über die Kapitalisten, und darf
nicht von einem Beamtenstaat durchgeführt werden, sondern von dem
Staat der bewaffneten Arbeiter.
Die eigennützige Verteidigung des Kapitalismus durch die bürgerlichen
Ideologen (und ihre Schleppenträger vom Schlage der Herren Zereteli,
Tschemow und Co.) besteht gerade darin, daß sie die dringende, aktu-
elle Frage der heutigen Politik in Diskussionen und Gerede über die
ferne Zukunft umfälsdten, und zwar die Frage der Expropriation der
Kapitalisten, der Umwandlung aller Bürger in Arbeiter und Angestellte
eines großen „Syndikats“, nämlich des ganzen Staates, und der völligen
Unterordnung der gesamten Arbeit dieses ganzen Syndikats unter den
wahrhaft demokratischen Staat, den Staat der Sowjets der Arbeiter- und
Soldatendeputierten.
Wenn der gelehrte Professor und mit ihm der Spießer und die Herren
Zereteli und Tschernow von hirnverbrannten Utopien, von demagogi-
schen Versprechungen der Bolschewiki, von der Unmöglichkeit der „Ein-
führung“ des Sozialismus reden, dann meinen sie im Grunde genommen
das höhere Stadium, die höhere Phase des Kommunismus, die „einzu-
führen“ niemand versprochen, ja nicht einmal im Sinn gehabt hat, denn
„einführen“ läßt sie sich überhaupt nicht.
Hier sind wir bei der Frage des wissenschaftlichen Unterschieds zwi-
schen Sozialismus und Kommunismus angelangt, die Engels in seiner
obenerwähnten Betrachtung über die Unrichtigkeit der Bezeichnung „So-
zialdemokraten“ berührt. Politisch wird der Unterschied zwischen der
ersten oder niederen und der höheren Phase des Kommunismus mit der
* Pomjalowski - russischer Schriftsteller des 19. Jahrhunderts. Die Red.
Staat und Revolution
485
Zeit wahrscheinlich ungeheuer groß sein, doch wäre es lächerlich, jetzt,
im Kapitalismus, diesen Unterschied hervorzuheben ; ihn in den Vorder-
grund rücken könnten höchstens vereinzelte Anarchisten (falls unter den
Anarchisten noch Leute übriggeblieben sind, die nichts hinzugelemt ha -
ben, nachdem sich die Kropotkin, Grave, Comelissen und andere „Leuch-
ten“ des Anarchismus auf „Plechanowsche“ Art in Sozialchauvinisten oder
in Schützengraben-Anarchisten verwandelt haben - wie sich Ge, einer
der wenigen Anarchisten, die noch Ehre und Gewissen bewahrt haben,
ausgedrückt hat).
Doch der wissenschaftliche Unterschied zwischen Sozialismus und
Kommunismus ist klar. Was gewöhnlich als Sozialismus bezeichnet wird,
nannte Marx die „erste“ oder niedere Phase der kommunistischen Ge-
sellschaft. Insofern die Produktionsmittel Gemeineigentum werden, ist
das Wort „Kommunismus“ auch hier anwendbar, wenn man nicht ver-
gißt, daß es kein vollkommener Kommunismus ist. Die große Bedeutung
der Erörterungen von Marx besteht darin, daß er auch hier konsequent
die materialistische Dialektik, die Entwicklungslehre, anwendet, indem
er den Kommunismus als etwas betrachtet, das sich aus dem Kapitalis-
mus entwickelt. An Stelle scholastisch ausgeklügelter, „erdachter“ De-
finitionen und fruchtloser Wortklaubereien (was Sozialismus, was Kom-
munismus sei) gibt Marx eine Analyse dessen, was man als Stufen der
ökonomischen Reife des Kommunismus bezeichnen könnte.
In seiner ersten Phase, auf seiner ersten Stufe kann der Kommunis-
mus ökonomisch noch nickt völlig reif, völlig frei von den Traditionen,
von den Spuren des Kapitalismus sein. Daraus erklärt sich eine so inter-
essante Erscheinung wie das Fortbestehai des „engen bürgerlichen
Rechtshorizonts“ während der ersten Phase des Kommunismus. Das
bürgerliche Recht setzt natürlich in bezug auf die Verteilung der Kon-
sumtionsmittd unvermeidlich auch den bürgerlichen Staat voraus, denn
Recht ist nichts ohne einen Apparat, der imstande wäre, die Einhaltung
der Rechtsnormen zu erzwingen.
So ergibt sich, daß im Kommunismus nicht nur das bürgerliche Recht
eine gewisse Zeit fortbesteht, sondern sogar auch der bürgerliche Staat -
ohne Bourgeoisie!
Das mag paradox oder einfach als dialektisches Gedankenspiel erschei-
nen, wie das vielfach dem Marxismus von Leuten zum Vorwurf gemacht
W. I. Lettin
wird, die sich nicht im geringsten die Mühe genommen haben, seinen
überaus tiefen Gehalt zu ergründen.
In Wirklichkeit zeigt uns doch das Leben auf Schritt und Tritt, sowohl
in der Natur als auch in der Gesellschaft, Überreste des Alten im Neuen.
Und Marx hat nicht willkürlich ein Stückchen „bürgerlichen“ Rechts in
den Kommunismus hineingebracht, sondern hat das genommen, was
wirtschaftlich und politisch in einer aus dem Schoß des Kapitalismus her-
vorgehenden Gesellschaft unvermeidlich ist.
Die Demokratie ist im Befreiungskampf der Arbeiterklasse gegen die
Kapitalisten von gewaltiger Bedeutung. Die Demokratie ist aber durch-
aus keine unübersdireitbare Grenze, sondern lediglich eine der Etappen
auf dem Wege vom Feudalismus zum Kapitalismus und vom Kapitalis-
mus zum Kommunismus.
Demokratie bedeutet Gleichheit. Es ist begreiflich, welch große Bedeu-
tung der Kampf des Proletariats um die Gleichheit und die Losung der
Gleichheit haben, wenn man sie richtig, im Sinne der Aufhebung der
Klassen auffaßt. Aber Demokratie bedeutet nur formale Gleichheit. Und
sofort nach der Verwirklichung der Gleichheit aller Mitglieder der Ge-
sellschaft in bezug auf den Besitz der Produktionsmittel, d. h. der Gleich-
heit der Arbeit, der Gleichheit des Arbeitslohnes, wird sich vor der
Menschheit unvermeidlich die Frage erheben, wie sie von der formalen
zur tatsächlichen Gleichheit, d. h. zur Verwirklichung des Satzes „Jeder
nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“ weiterschrei-
ten soll. Welche Etappen die Menschheit auf dem Wege zu diesem hö-
heren Ziel durchschreiten wird; welche praktischen Maßnahmen sie hier-
zu ergreifen wird, wissen wir nicht und können wir nicht wissen. Es ist
aber wichtig, daß wir uns darüber klarwerden, wie grenzenlos verlogen
die landläufige bürgerliche Vorstellung ist, der Sozialismus sei etwas
Totes, Erstarrtes, ein für allemal Gegebenes, während in Wirklichkeit
erst mit dem Sozialismus die rasche, wirkliche, wahrhafte Vorwärts-
bewegung der Massen auf allen Gebieten des öffentlichen und persön-
lichen Lebens, zunächst unter Teilnahme der Mehrheit der Bevölkerung
und später der gesamten Bevölkerung, einsetzen wird.
Die Demokratie ist eine Staatsform, eine der Spielarten des Staates.
Folglich ist sie, wie jeder Staat, eine Organisierte, systematische Gewalt-
anwendung gegenüber Menschen. Das ist die eine Seite. Anderseits be-
Staat und Revolution
487
deutet Demokratie aber die formale Anerkennung der Gleichheit zwi-
schen den Bürgern, des gleichen Rechtes aller, die Staatsveifassung zu be-
stimmen und den Staat zu verwalten. Das wiederum hat zur Folge, daß
die Demokratie auf einer bestimmten Entwicklungsstufe erstens die dem
Kapitalismus gegenüber revolutionäre Klasse, das Proletariat, zusammen-
schließt und ihr die Möglichkeit gibt, die bürgerliche, und sei es auch
eine bürgerlich-republikanische, Staatsmaschine - stehendes Heer, Poli-
zei, Beamtentum - zu zerbrechen, in Scherben zu schlagen, aus der Welt
zu schaffen, sie durch eine demokratischere Staatsmaschine, aber immer-
hin nodi durch eine Staatsmaschine zu ersetzen, bestehend aus bewaff-
neten Arbeitermassen, die dazu übergehen, das gesamte Volk zur Beteili-
gung an der Miliz heranzuziehen.
Hier „schlägt Quantität in Qualität um“ : Eine solche Stufe des De-
mokratismus ist mit der Sprengung des Rahmens der bürgerlichen Ge-
sellschaft, mit dem Beginn ihrer sozialistischen Umgestaltung verbunden.
Wenn tatsächlich alle an der Verwaltung des Staates teilnehmen, dann
kann sich der Kapitalismus nicht länger halten. Die Entwicklung des
Kapitalismus schafft ihrerseits die Voraussetzungen dafür, daß wirklich
„alle“ an der Leitung des Staates teilnehmen können. Zu diesen Voraus-
setzungen gehört die allgemeine Schulbildung, die in den fortgeschrit-
tensten kapitalistischen Ländern bereits eingeführt ist, ferner die „Schu-
lung und Disziplinierung“ von Millionen Arbeitern durch den umfassen-
den. komplizierten, vergesellschafteten Apparat der Post, der Eisenbah-
nen, der Großbetriebe, des Großhandels, des Bankwesens usw. usf.
Unter solchen ökonomischen Voraussetzungen ist es durchaus möglich,
unverzüglich, von heute auf morgen, dazu überzugehen, die Kapitalisten
und Beamten, nachdem sie gestürzt sind, bei der Kontrolle über Pro-
duktion und Verteilung, bei der Registrierung der Arbeit und der Pro-
dukte, durch bewaffnete Arbeiter, durch das gesamte bewaffnete Volk
zu ersetzen. (Man verwechsle nicht die Frage der Kontrolle und Rech-
nungsführung mit der Frage des wissenschaftlich ausgebildeten Perso-
nals, der Ingenieure, Agronomen u. a.: Diese Herrschaften arbeiten
heute und fügen sich den Kapitalisten, sie werden morgen noch besser
arbeiten und sich den bewaffneten Arbeitern fügen.)
Rechnungsführung und Kontrolle - das ist das Wichtigste, was zum
„Ingangsetzen“, zum richtigen Funktionieren der kommunistischen Ge-
W. I. Lenin
Seilschaft in ihrer ersten Phase erforderlich ist. Alte Bürger verwandeln
sich hier in entlohnte Angestellte des Staates, den die bewaffneten Ar-
beiter bilden. Alle Bürger werden Angestellte und Arbeiter eines das ge-
samte Volk umfassenden Staats„syndikats“. Es handelt sich nur darum,
daß sie alle gleichermaßen arbeiten, das Maß der Arbeit richtig einhal-
ten und gleichermaßen Lohn bekommen. Die Rechnungsführung und
Kontrolle darüber ist durch den Kapitalismus bis zum äußersten ver-
einfacht, in. außergewöhnlich einfache Operationen verwandelt wor-
den, die zu verrichten jeder des Lesens und Schreibens Kundige imstande
ist, er braucht nur zu beaufsichtigen und zu notieren, es genügt, daß er
die vier Grundrechnungsarten beherrscht und entsprechende Quittungen
ausstellen kann.*
Wenn die Mehrheit des Volkes anfangen wird, selbständig allerorts
eine solche Rechnungsführung, eine solche Kontrolle über die Kapitali-
sten (die nunmehr Angestellte geworden sind) und über die Herren In-
tellektuellen, die kapitalistische Allüren beibehalten haben, auszuüben,
dann wird diese Kontrolle eine wiiklich universelle, allgemeine, eine
wirkliche Volkskontrolle werden, dann wird man sich ihr auf keine Weise
entziehen können, wird man sich vor ihr „nirgends retten“ können.
Die gesamte Gesellschaft wird ein Büro und eine Fabrik mit gleicher
Arbeit und gleichem Lohn sein.
Aber diese „Fabrik“disziplin, die das siegreiche Proletariat nach dem
Sturz der Kapitalisten, nach Beseitigung der Ausbeuter auf die gesamte
Gesellschaft erstrecken wird, ist nichts weniger als unser Ideal oder unser
Endziel, sie ist nur eine Stufe, die notwendig ist zur radikalen Reinigung
der Gesellschaft von den Niederträchtigkeiten und Gemeinheiten der
kapitalistischen Ausbeutung, eine Stufe, um weiter vorwärtsschreiten zu
können.
Von dem Zeitpunkt an, da alle Mitglieder der Gesellschaft oder we-
nigstens ihre übergroße Mehrheit selbst gelernt haben, den Staat zu re-
gieren, selbst die Staatsregierung in ihre Hände genommen haben, die
* Wenn der Staat im wesentlichen Teil seiner Funktionen auf eine solche Rech-
nungsführung und Kontrolle durch die Arbeiter selbst reduziert wird, hört er auf,
ein „politischer Staat“ zu sein, dann „verwandeln sich die öffentlichen Funktionen
aus politischen in einfache administrative Funktionen“ (vgL oben. Kapitel IV, Ab-
schnitt 2, über Engels’ Polemik gegen die Anarchisten).
Staat und Revolution
Kontrolle .in Gang gebracht“ haben über die verschwindend kleine Min-
derheit der Kapitalisten, über die Herrchen, die die kapitalistischen Al-
lüren gern bewahren möchten, über die Arbeiter, die durch den Kapita-
lismus tief demoralisiert worden sind - von diesem Zeitpunkt an beginnt
die Notwendigkeit jeglichen Regierens überhaupt zu schwinden. Je voll-
ständiger die Demokratie, um so näher der Zeitpunkt, zu dem sie über-
flüssig wird. Je demokratischer der „Staat“, der aus bewaffneten Arbei-
tern besteht und „schon kein Staat im eigentlichen Sinne mehr“ ist, um
so rascher beginnt jeder Staat abzusterben.
Denn wenn alle gelernt haben werden, selbständig die gesellschaft-
liche Produktion zu leiten, und sie in der Tat leiten werden, wenn sie
selbständig die Rechnungsführung und die Kontrolle über Müßiggänger,
Herrensöhnchen, Gauner und ähnliche „Hüter der Traditionen des Ka-
pitalismus“ verwirklichen, dann wird das Umgehen dieser vom ganzen
Volk durchgeführten Rechnungsführung und Kontrolle unvermeidlich so
ungeheuer schwierig werden, eine so höchst seltene Ausnahme bilden
und wahrscheinlich eine so rasche und ernsthafte Bestrafung nach sich
ziehen (denn die bewaffneten Arbeiter sind Menschen des praktischen
Lebens, keine sentimentalen Intelligenzler und werden kaum mit sich
spaßen lassen), daß die Notwendigkeit zur Einhaltung der un-
komplizierten Grundregeln für jedes Zusammenleben von Menschen sehr
bald zmGewohnheit werden wird.
Dann wird das Tor zum Übergang von der ersten Phase der kommu-
nistischen Gesellschaft zu ihrer höheren Phase und damit auch zum völ-
ligen Absterben des Staates weit geöffnet sein.
VI. KAPITEL
DIE VULGARISIERUNG DES MARXISMUS
DURCH DIE OPPORTUNISTEN
Die Frage nach dem Verhältnis des Staates zur sozialen Revolution
und der sozialen Revolution zum Staat hat die prominentesten Theore-
tiker und Publizisten der II. Internationale (1889-1914) sehr wenig
beschäftigt, ebensowenig wie die Frage der Revolution überhaupt. Aber
W.I. Lenin
das Charakteristischste an dem Prozeß des stetigen Anwachsens des Op-
portunismus, der 1914 zum Zusammenbruch der II. Internationale ge-
führt hat, ist, daß man selbst da, wo man an diese Frage hart heran-
gekommen war, sie zu umgehen suchte oder sie nicht bemerkte.
Im großen und ganzen kann man sagen, daß das Ausweichen vor der
Frage des Verhältnisses der proletarischen Revolution zum Staat, ein
Ausweichen, das den Opportunismus begünstigte und nährte, zur Ent-
stellung und völligen Verflachung des Marxismus geführt hat.
Um diesen traurigen Prozeß wenigstens in aller Kürze zu kennzeich-
nen, wenden wir uns den prominentesten Theoretikern des Marxismus,
Plechanow und Kautsky, zu.
1. Pledianows Polemik gegen die Anarchisten
Plechanow hat der Frage des Verhältnisses zwischen Anarchismus und
Sozialismus eine besondere Broschüre, „Anarchismus und Sozialismus“,
gewidmet, die 1894 in deutscher Sprache erschienen ist.
Plechanow brachte es fertig, dieses Thema zu behandeln und dabei
das Aktuellste, Dringlichste und politisch Wesentlichste im Kampf gegen
den Anarchismus, nämlich das Verhältnis der Revolution zum Staat wie
überhaupt die Frage des Staates, völlig zu umgehen! In seiner Broschüre
treten zwei Teile hervor: der eine - ein historisch-literarischer mit wert-
vollem Material zur Geschichte der Ideen Stimers, Proudhons u. a„ der
andere - ein philisterhafter mit platten Betrachtungen darüber, daß ein
Anarchist von einem Banditen nicht zu unterscheiden sei.
Eine höchst kuriose Themenverknüpfung, die für die ganze Tätigkeit
Plechanows am Vorabend der Revolution und während der Revolutions-
periode in Rußland äußerst charakteristisch ist: Plechanow entpuppte sich
denn auch in den Jahren 1905-1917 halb als Doktrinär und halb als
Philister, der in der Politik im Nachtrab der Bourgeoisie einherging.
Wir haben gesehen, wie Marx und Engels in ihrer Polemik gegen die
Anarchisten besonders eingehend ihre Ansichten über das Verhältnis der
Revolution zum Staat klarlegten. Als Engels 1891 die Marxsche „Kritik
des Gothaer Programms“ herausgab, schrieb er: „Wir“ (d. h. Engels und
Marx) „lagen damals, kaum zwei Jahre nach dem Haager Kongreß der
Staat und Revolution
491
(ersten) Internationale 113 , im heftigsten Kampf mit Bakunin und seinen
Anarchisten . .
Die Anarchisten versuchten, gerade die Pariser Kommune sozusagen
„für sich“ in Anspruch zu nehmen, als eine Bestätigung ihrer Lehre, da-
bei hatten sie die Lehren der Kommune und die Analyse dieser Lehren
durch Marx überhaupt nicht begriffen. Zu den konkret-politischen Fra-
gen: Soll man die alte Staatsmaschinerie zerschlagen? - und wodurch ist
sie zu ersetzen? - hat der Anarchismus nichts beigetragen, was auch nur
annähernd an die Wahrheit heranreichte.
Aber über „Anarchismus und Sozialismus“ reden und dabei der gan-
zen Frage des Staates ausweichen, die ganze Entwicklung des Marxis-
mus vor und nach der Kommune übersehen, das hieß unvermeidlich zum
Opportunismus abgleiten. Denn eben dem Opportunismus ist am besten
gedient, wenn die beiden von uns soeben bezeichneten Fragen überhaupt
nicht angeschnitten werden. Das allein bedeutet schon einen Sieg des
Opportunismus.
2. Kautskys Polemik gegen die Opportunisten
Von Kautskys Schriften sind zweifellos bedeutend mehr ins Russische
übersetzt als in irgendeine andere Sprache. Nicht zu Unrecht sagen
manche deutsche Sozialdemokraten im Scherz, Kautsky werde in Ruß-
land mehr gelesen als in Deutschland. (Nebenbei bemerkt, enthält dieser
Scherz einen viel tieferen historischen Sinn, als seine Urheber vermuten,
nämlich: die russischen Arbeiter, die 1905 einen wahren Heißhunger
nach den besten Werken der besten sozialdemokratischen Literatur der
Welt an den Tag legten und die eine im Vergleich mit anderen Ländern
unerhört große Menge von Übersetzungen und Ausgaben solcher Werke
erhielten, übertrugen damit sozusagen auf den jungen Boden unserer pro-
letarischen Bewegung in beschleunigter Weise die reiche Erfahrung des
fortgeschritteneren Nachbarlandes.)
Besonders bekannt ist Kautsky bei uns, abgesehen von seiner popu-
lären Darstellung des Marxismus, durch seine Polemik gegen die Oppor-
tunisten, an ihrer Spitze Bernstein. Kaum bekannt ist aber eine Tatsache,
die nicht umgangen werden darf, wenn man sich die Aufgabe stellt, zu
492
W. I. Lenin
verfolgen, wie Kautsky zu einer unglaublich schmachvollen Verwirrung
und zur Verteidigung des Sozialchauvinismus in der Zeit der schwersten
Krise; 1914/1915 hinabgesunken ist. Nämlich die Tatsache, daß Kautsky
vor seinem Auftreten gegen die prominentesten Vertreter des Opportu-
nismus in Frankreich (Millerand und Jaures) und Deutschland (Bern-
stein) sehr stark geschwankt hat. Die marxistische „Sarja“ 114 , die
1901/1902 in Stuttgart erschien und revolutionär-proletarische Anschau-
ungen vertrat, sah sich gezwungen, gegen Kautsky zu polemisieren, seine
aus Halbheiten bestehende, ausweichende, den Opportunisten gegenüber
versöhnliche Resolution auf dem Internationalen Sozialistenkongreß zu
Paris 1900 115 als »kautschukartig“ zu bezeichnen. In der deutschen Lite-
ratur sind Briefe von Kautsky veröffentlicht worden, die zeigen, daß er
vor seinem Feldzug gegen Bernstein nicht weniger schwankte.
Von ungleich größerer Bedeutung ist jedoch der Umstand, daß wir
selbst in seiner Polemik gegen die Opportunisten, in seiner Fragestellung
und seiner Art der Behandlung der Frage jetzt, da'wir die Geschichte des
neuesten Verrats Kautskys am Marxismus untersuchen, ein systemati-
sches Hinneigen zum Opportunismus gerade in der Frage des Staates
feststellen können.
Nehmen wir Kautskys erstes größeres Werk gegen den Opportunis-
mus, sein Buch »Bernstein und das Sozialdemokratische Programm“.
Bernstein wird von Kautsky ausführlich widerlegt. Charakteristisch aber
ist folgendes.
Bernstein erhebt in seinen herostratisch berühmt gewordenen „Voraus-
setzungen des Sozialismus" gegen den Marxismus den Vorwurf des
„Blanquismus" (ein Vorwurf, den seither die Opportunisten und die libe-
ralen Bourgeois in Rußland Tausende von Malen gegen die Vertreter
des revolutionären Marxismus, die Bolschewiki, wiederholten). Dabei
geht Bernstein besonders auf den Marxschen „Bürgerkrieg in Frank-
reich“ ein und versucht - wie wir gesehen haben, höchst erfolglos -, die
Marxschen Ansichten über die Lehren der Kommune mit Proudhons
Ansichten zu identifizieren. Besondere Beachtung findet bei Bernstein die
Schlußfolgerung von Marx, die er in der Vorrede von 1872 zum „Kom-
munistischen Manifest“ unterstrichen hat und die besagt, daß „die Ar-
beiterklasse nicht die fertige Staatsmaschine einfach in Besitz nehmen
und sie für ihre eignen Zwecke in Bewegung setzen kann“.
Staat und Revolution
49 3
Bernstein hat dieser Ausspruch so sehr „gefallen“, daß er ihn in seinem
Buch nicht weniger als dreimal wiederholt, um ihn in einem ganz ent-
stellten, opportunistischen Sinne auszulegen.
Marx will, wie wir gesehen haben, sagen, daß die Arbeiterklasse die
ganze Staatsmaschine zerschlagen, zerbrechen, sprengen muß (der Aus-
druck „Sprengung“ wird von Engels gebraucht). Bernstein dagegen stellt
es so hin, als hätte Marx mit diesen Worten die Arbeiterklasse vor revo-
lutionärem Übereifer bei der Ergreifung der Macht warnen wollen.
Eine gröbere und abscheulichere Verdrehung des Marxschen Gedan-
kens ist kaum vorstellbar.
Was tat nun Kautsky in seiner sehr eingehenden Widerlegung der
Bemsteiniade?
Er vermied es, die ganze Tiefe der Entstellung des Marxismus durch
den Opportunismus in diesem Punkt zu untersuchen. Er führte die oben
zitierte Stelle aus der Engelsschen Einleitung zum „Bürgerkrieg“ von
Marx an und beschränkte sich darauf, zu sagen, daß nach Marx die
Arbeiterklasse nicht die fertige Staatsmaschine einfach in Besitz nehmen
kann, daß sie aber, allgemein gesprochen, sie in Besitz nehmen könne,
weiter nichts. Davon, daß Bernstein Marx das gerade Gegen-
teil des wirklichen Marxschen Gedankens zuschrieb, daß Marx seit
1852 als Aufgabe der proletarischen Revolution das „Zerschlagen" der
Staatsmasdiinerie in den Vordergrund rückte, findet sich bei Kautsky,
nicht ein Wort.
So kam es, daß der wesentlichste Unterschied zwischen Marxismus
und Opportunismus hinsichtlich der Aufgaben der proletarischen Revo-
lution bei Kautsky verkleistert wurde 1
„Die Entscheidung über das Problem der proletarischen Diktatur“, schrieb
Kautsky „gegen" Bernstein, „können wir wohl ganz ruhig der Zukunft überlassen.“
(S. 172 der deutschen Ausgabe.)
Das ist keine Polemik gegen Bernstein, sondern im Grunde ein Zu-
geständnis an ihn, eine Kapitulation vor dem Opportunismus, denn vor-
erst brauchen die Opportunisten ja nichts weiter, als daß alle grund-
legenden Fragen nach den Aufgaben der proletarischen Revolution „ganz
ruhig der Zukunft überlassen“ werden.
Marx und Engels haben von 1852 bis 1891, vierzig Jahre hindurch,
das Proletariat gelehrt, daß es die Staatsmaschinerie zerschlagen muß.
494
Kautsky aber bringt es 1899 fertig, angesichts des völligen Verrats, den
die Opportunisten in diesem Punkt am Marxismus geübt haben, die
Frage, ob man diese Maschine zerschlagen müsse, zu vertauschen gegen
die Frage nach den konkreten Formen dieses Zerschlagens, und rettet sich
unter die Fittiche der „unbestreitbaren“ (und nutzlosen) philisterhaften
Wahrheit, daß man die konkreten Formen nicht im voraus kennen
könne!!
Ein Abgrund klafft zwischen Marx und Kautsky in ihrem Verhältnis
zu der Aufgabe der proletarischen Partei, die Arbeiterklasse auf die Revo-
lution vorzubereiten.
Nehmen wir ein späteres, reiferes Werk von Kautsky, das in beträcht-
lichem Maße ebenfalls einer Widerlegung der Irrtümer des Opportu-
nismus gewidmet ist. Es ist seine Broschüre „Die soziale Revolution“.
Der Verfasser behandelt hier speziell das Thema der „proletarischen
Revolution“ und des „proletarischen Regimes“. Der Verfasser hat sehr
viel außerordentlich Wertvolles geboten, aber gerade die Frage des Staa-
tes hat er umgangen. In der Broschüre ist überall von der Eroberung der
Staatsgewalt die Rede, weiter nichts, d. h., es ist eine solche Formulie-
rung gewählt, die den Opportunisten entgegenkommt, da sie die Erobe-
rung der Macht ohne eine Zerstörung der Staatsmaschinerie zuläßt.
Gerade das, was Marx 1872 im Programm des „Kommunistischen Mani-
fests“ für. „veraltet“ erklärt, wird von Kautsky 1902 wieder aufgewärmt.
In der Broschüre ist ein besonderer Abschnitt den „Formen und Waf-
fen der sozialen Revolution“ gewidmet. Hier wird wohl vom politischen
Massenstreik gesprochen, ebenso vom Bürgerkrieg und von den „Macht-
mitteln des modernen Großstaates, seiner Bürokratie und Armee“, aber
kein Sterbenswort davon, was die Kommune die Arbeiter bereits gelehrt
hat. Augenscheinlich hat Engels die Sozialisten, insbesondere die deut-
schen, nicht ohne Grund vor der „abergläubischen Verehrung“ des Staa-
tes gewarnt.
Kautsky schildert die Sache folgendermaßen: Das siegreiche Prole-
tariat wird „das demokratische Programm zur Wahrheit machen“, und
er erläutert die einzelnen Punkte dieses Programms. Darüber aber, was
das Jahr 1871 in der Frage der Ersetzung der bürgerlichen Demokratie
durch die proletarische Demokratie Neues gebracht hat, kein Wort.
Kautsky begnügt sich mit. solchen „solide" klingenden Banalitäten wie:
Staat und Revolution
495
„Und dodi ist es selbstverständlich, daß wir nicht zur Herrschaft kommen
unter den heutigen Verhältnissen. Die Revolution selbst setzt lange und tief-
gehende Kämpfe voraus, die bereits unsere heutige politische und soziale Struktur
verändern werden.“
Freilich ist das „selbstverständlich", ebensogut wie die Wahrheit, daß
Pferde Hafer fressen und die Wolga ins Kaspische Meer fließt. Schade
nur, daß mit Hilfe der hohlen und schwülstigen Phrase über „tief-
gehende“ Kämpfe die für das revolutionäre Proletariat wesentliche Frage
umgangen wird, worin denn die „Tiefe“ seiner Revolution gegenüber
dem Staat, gegenüber der Demokratie zum Unterschied von den frühe-
ren, nichtproletarischen Revolutionen zum Ausdrude kommt.
Indem Kautsky diese Frage umgeht, macht er in der Tat in diesem
wesentlichsten Punkt ein Zugeständnis an den Opportunismus, auch wenn
er ihm in 'Worten einen erbitterten Krieg ansagt und die Bedeutung der
„Idee der Revolution“ unterstreicht (was mag diese „Idee“ wert sein,
wenn man sich fürchtet, unter den Arbeitern die konkreten Lehren der
Revolution zu propagieren?) oder sagt: „revolutionären Idealismus vor
allem“, oder erklärt, daß die englischen Arbeiter „heute kaum noch etwas
anderes als kleine Bourgeois“ seien.
„Die verschiedensten Formen des Betriebes", schreibt Kautsky, „bürokratischer
(??), gewerkschaftlicher, genossenschaftlicher, Alleinbetrieb ... können neben-
einander in einer sozialistischen Gesellschaft existieren ... Es gibt z. B. Betriebe,
die ohne eine bürokratische (??) Organisation nicht auskommen, wie die Eisen-
bahnen. Die demokratische Organisation kann sich da so gestalten, daß die Ar-
beiter Delegierte wählen, die eine Art Parlament bilden, welches die Arbeitsord-
nungen feststellt und die Verwaltung des bürokratischen Apparates überwacht.
Andere Betriebe kann man der Verwaltung der Gewerkschaften übergeben, wie-
der andere können genossenschaftlich betrieben werden.“ (S. 148 und 115 der
russischen Übersetzung, Genfer Ausgabe 1903.)
Diese Betrachtung ist falsch. Sie bedeutet einen Rückschritt im Ver-
gleich zu dem, was Marx und Engels in den siebziger Jahren am Beispiel
der Lehren der Kommune gezeigt haben.
Was die angeblich notwendige „bürokratische“ Organisation angeht,
unterscheiden sich die Eisenbahnen absolut durch nichts von allen Be-
trieben der maschinellen Großindustrie überhaupt, von einer beliebigen
Fabrik, einem großen Geschäft, einem großkapitalistischen landwirt-
496
W. I. Lenin
schaftlichen Unternehmen. In allen solchen Betrieben schreibt die Tech-
nik unbedingt die strengste Disziplin vor, die größte Genauigkeit bei
Ausführung der jedem zugewiesenen Teilarbeit, da sonst die Stillegung
des ganzen Betriebes, eine Schädigung des Mechanismus, eine Schädi-
gung des Produkts zu befürchten wäre. In allen diesen Unternehmen
werden die Arbeiter natürlich „Delegierte wählen, die eine Art Parla-
ment bilden“.
Aber das ist ja eben der ganze Witz, daß diese .Art Parlament“
kein Parlament im Sinne der bürgerlich-parlamentarischen Körper-
schaften sein wird. Das ist ja der Witz, daß diese „Art Parlament“
nicht nur die „Arbeitsordnungen feststellen und die Verwaltung des
bürokratischen Apparates überwachen“ wird, wie Kautsky sich das aus-
malt, dessen Gedanken über den Rahmen des bürgerlichen Parlamen-
tarismus nicht hinausgehen. In der sozialistischen Gesellschaft wird natür-
lich „eine Art Parlament“ von Arbeiterdeputierten die „Arbeitsord-
nungen feststellen“ und die „Verwaltung des Apparates überwachen“,
aber dieser Apparat wird nicht „bürokratisch“ sein. Die Arbeiter
werden nach Eroberung der politischen Macht den alten bürokratischen
Apparat zerschlagen, ihn bis auf den Grund zerstören, von ihm nicht
einen Stein auf dem anderen lassen; sie werden ihn durch einen neuen
Apparat ersetzen, gebildet aus eben diesen Arbeitern und Angestellten,
gegen deren Verwandlung in Bürokraten man sofort die von Marx
und Engels eingehend untersuchten Maßnahmen treffen wird: 1. nicht
nur Wählbarkeit, sondern auch jederzeitige Absetzbarkeit; 2. eine den
Arbeiterlohn nicht übersteigende Bezahlung; 3. sofortiger Obergang da-
zu, daß alle die Funktionen der Kontrolle und Aufsicht verrichten, daß
alle eine Zeitlang zu „Bürokraten“ werden, so daß daher niemand
zum „Bürokraten“ werden kann.
Die Worte von Marx: „Die Kommune sollte nicht eine parlamen-
tarische, sondern eine arbeitende Körperschaft sein, vollziehend und
gesetzgebend zu gleicher Zeit“ hat Kautsky überhaupt nicht durchdacht.
Kautsky hat überhaupt nicht den Unterschied begriffen zwischen bür-
gerlichem Parlamentarismus, der die Demokratie (nicht für das
V olk) mit dem Bürokratismus (gegen das Volk) verbindet, und
dem proletarischen Demokratismus, der sofort Maßnahmen eigreifen
wird, um den Bürokratismus radikal zu unterbinden, und der imstande
Staat und Revolution
497
sein wird, diese Maßnahmen zu Ende zu führen, bis zur völligen Vernich-
tung des Bürokratismus, bis zur Einführung der vollen Demokratie für
das Volk.
Kautsky offenbart hier immer noch die gleiche .abergläubische Ver-
ehrung“ des Staates, das gleiche „abergläubische Vertrauen“ dem Büro-
kratismus gegenüber.
Gehen wir zum letzten und besten Werk Kautskys gegen die Oppor-
tunisten über, zu seiner Broschüre „Der Weg zur Macht“ (die, glaube ich,
keine russische Ausgabe erlebte, da sie im Jahre 1909 erschienen ist, zur
Zeit, als bei uns die schwärzeste Reaktion herrschte). Diese Broschüre
ist ein erheblicher Schritt vorwärts, da in ihr nicht von einem revolutio-
nären Programm im allgemeinen, wie 1899 in der Schrift gegen- Bern-
stein, nicht von den Aufgaben der sozialen Revolution ohne Bezugnahme
auf die Zeit ihres Anbruchs, wie 1902 in der Broschüre „Die soziale
Revolution“, die Rede ist, sondern von den konkreten Bedingungen, die
uns zwingen anzuerkennen, daß die „Ära der Revolution“ anhebt.
Der Verfasser weist mit Bestimmtheit auf die Verschärfung der Klas-
sengegensätze im allgemeinen und auf den Imperialismus hin, der in die-
ser Beziehung eine besonders große Rolle spiele. Nach dem „revolutio-
nären Zeitalter 1789-1871“ für Westeuropa beginne seit 1905 ein ähn-
liches Zeitalter für den Osten. Der Weltkrieg rücke mit bedrohlicher
Geschwindigkeit näher. „Es“ (das Proletariat) „kann nicht mehr von
einer vorzeitigen Revolution reden.“ „Wir sind in eine revolutionäre
Periode eingetreten.“ Die „revolutionäre Ära hebt an“.
Diese Erklärungen sind völlig klar. Diese Schrift Kautskys muß als
Gradmesser dafür dienen, was die deutsche Sozialdemokratie vor dem
imperialistischen Krieg zu sein versprach und wie tief sie (mitsamt
Kautsky selbst) bei Ausbruch des Krieges gesunken ist. „Die heutige
Situation“, schrieb Kautsky in der angeführten Broschüre, „bringt aber
die Gefahr mit sich, daß wir“ (d. h. die deutsche Sozialdemokratie) „leicht
.gemäßigter' aussehen, als wir sind.“ Es hat sich aber herausgestellt, daß
die deutsche sozialdemokratische Partei unvergleichlich gemäßigter und
opportunistischer war, als sie zu sein schien!
Um so bezeichnender ist es, daß Kautsky trotz dieser Bestimmtheit
seiner Erklärungen über die bereits angebrochene Ara der Revolutionen
auch in dieser Broschüre, die nach seinen eigenen Worten der Erörterung
32 Lenin. Werke. Bd. 25
W. I. Lenin
der Frage gerade der „ politischen Revolution“ gewidmet ist, wiederum
die Frage des Staates völlig umgeht.
Die Summe der Umgehungen dieser Frage, des Verschweigens und
Ausweidiens ergab unvermeidlich jenes völlige Abschwenken zum
Opportunismus, über das wir nun zu sprechen haben werden.
In der Person Kautskys erklärte die deutsche Sozialdemokratie gleich-
sam: Ich bleibe bei den revolutionären Anschauungen (1899). Ich er-
kenne insbesondere die Unausbleiblichkeit der sozialen Revolution des
Proletariats an (1902). Ich erkenne den Anbruch einer neuen Ara der Re-
volutionen an (1909). Aber dennoch gehe ich hinter das zurück, was Marx
bereits 1852 gesagt hat, wenn es sich um die Frage nach den Aufgaben
der proletarischen Revolution in bezug auf den Staat handelt (1912).
So nämlich wurde die Frage mit aller Eindeutigkeit in der Polemik
Kautskys gegen Pannekoek gestellt.
3. Kautskys Polemik gegen Pannekoek
Pannekoek trat gegen Kautsky als ein Vertreter jener „linksradikalen“
Strömung auf, die Rosa Luxemburg, Karl Radek und andere in ihren
Reihen zählte und die bei der Verfechtung der revolutionären Taktik
einig war in der Überzeugung, daß Kautsky die Position des prinzipien-
los zwischen Marxismus und Opportunismus hin und her schwanken-
den „Zentrums“ beziehe. Die Richtigkeit dieser Ansicht wurde durch den
Krieg vollauf bestätigt, als die Richtung des „Zentrums" (das zu Unrecht
marxistisch genannt wird) oder des „Kautskyanertums“ sich in ihrer gan-
zen widerlichen Jämmerlichkeit zeigte.
In dem Artikel „Massenaktion und Revolution“ („Neue Zeit“, 1912,
XXX, 2), in dem die Frage des Staates berührt wird, charakterisierte
Pannekoek die Stellung Kautskys als die des „passiven Radikalismus“,
als „die Theorie des aktionslosen Abwartens“. „Kautsky übersieht den
Prozeß der Revolution“ (S: 616). Indem Pannekoek die Frage auf diese
Weise stellte, kam er auf das uns interessierende Thema, die Aufgaben
der proletarischen Revolution gegenüber dem Staat, zu sprechen.
„Der Kampf des Proletariats“, schrieb er, „ist nicht einfach ein Kampf gegen
die Bourgeoisie um die Staatsgewalt als Objekt, sondern ein Kampf gegen die
Staat und Revolution
Staatsgewalt . . . der Inhalt dieser Revolution ist die Vernichtung und Auflösung
der Machtmittel des Staates durch die Machtmittel des Proletariats . . . Der Kampf
hört erst auf, wenn als Endresultat die völlige Zerstörung der staatlichen Organi-
sation eingetreten ist. Die Organisation der Mehrheit hat dann ihre Überlegenheit
dadurch erwiesen, daß sie die Organisation der herrschenden Minderheit vernichtet
hat.“ (S. 548.)
Die Formulierung, in die Pannekoek seine Gedanken kleidete, weist
sehr große Mängel auf. Aber der Gedanke ist immerhin klar, und es ist
interessant, wie Kautsky ihn widerlegte.
.Bisher“, schrieb er, „bestand der Gegensatz zwischen Sozialdemokraten und
Anarchisten darin, daß jene die Staatsgewalt erobern, diese sie zerstören wollten.
Pannekoek will beides.“ (S. 724.)
Wenn auch bei Pannekoek die Darstellung nicht klar und nicht kon-
kret genug ist (von anderen Mängeln seines Artikels, die nicht zu dem in
Rede stehenden Thema gehören, ganz abgesehen), so griff doch Kautsky
gerade das von Pannekoek angedeutete prinzipielle Wesen der Sache auf,
und in dieser grundlegenden prinzipiellen Frage hat er die Position des
Marxismus gänzlich verlassen, ist er ganz und gar zum Opportunismus
übergegangen. Seine Auffassung von dem Unterschied zwischen Sozial-
demokraten und Anarchisten ist grundfalsch, der Marxismus ist bei ihm
endgültig entstellt und verflacht.
Der Unterschied zwischen Marxisten und Anarchisten besteht darin,
daß 1. die Marxisten, die sich die völlige Aufhebung des Staates zum
Ziel setzen, dieses Ziel für erreichbar halten erst nach der Aufhebung
der Klassen durch die sozialistische Revolution, als Resultat der Errich-
tung des Sozialismus, der zum Absterben des Staates führt; die Anarchi-
sten wollen die völlige Aufhebung des Staates von heute auf morgen,
ohne die Bedingungen für die Durchführbarkeit einer solchen Aufhebung
zu begreifen. 2. Die Marxisten halten es für notwendig, daß das Prole-
tariat nach Eroberung der politischen Macht die alte Staatsmaschinerie
völlig zerstört und sie durch eine neue, eine nach dem Typ der Kommune
gebildete Organisation der bewaffneten Arbeiter ersetzt; die Anarchi-
sten, die auf die Zerstörung der Staatsmaschinerie schwören, stellen
sich ganz unklar vor, was das Proletariat an ihre Stelle setzen und wie es
die revolutionäre Macht gebrauchen wird; die Anarchisten verwerfen
sogar die Ausnutzung der Staatsgewalt durch das revolutionäre Prole-
32*
500
W.I. Lenin
tariat, dessen revolutionäre Diktatur. 3. Die Marxisten fordern die Vor-
bereitung des Proletariats auf die Revolution unter Ausnutzung des
heutigen Staates ; die Anarchisten lehnen das ab.
Kautsky gegenüber vertritt eben Pannekoek in dieser Kontroverse den
Marxismus, denn gerade Marx hat uns gelehrt, daß das Proletariat nicht
einfach die Staatsmacht erobern kann in dem Sinne, daß der alte Staats-
apparat in neue Hände übeigeht, sondern daß es diesen Apparat zer-
schlagen, zerbrechen, ihn durch einen neuen ersetzen muß.
Kautsky wechselt vom Marxismus zu den Opportunisten über, denn
bei ihm verschwindet gänzlich gerade die für die Opportunisten völlig
unannehmbare Zerstörung der Staatsmaschine, und es bleibt für sie ein
Hintertürchen offen dadurch, daß man die „Eroberung“ als einfaches Er-
langen der Mehrheit auslegt.
Um seine Entstellung des Marxismus zu bemänteln, verfährt Kautsky
wie ein Schriftgelehrter: er führt „ein Zitat“ von Marx selbst ins Feld.
1850 schrieb Marx über die Notwendigkeit der „entschiedensten Zentra-
lisation der Gewalt in die Hände der Staatsmacht“. Und Kautsky
fragt triumphierend: Will denn Pannekoek den „Zentralismus“ zer-
stören?
Das ist schon einfach ein Taschenspidertrick ähnlich der Bemstein-
schen Identifizierung von Marxismus und Proudhonismus in den An-
schauungen über Föderalismus im Gegensatz zum Zentralismus.
Das „Zitat“ paßt bei Kautsky wie die Faust aufs Auge. Zentralismus
ist sowohl bei der alten als auch bei der neuen Staatsmaschinerie möglich.
Wenn die Arbeiter freiwillig ihre bewaffneten Kräfte vereinigen wer-
den, so wird das Zentralismus sein, aber er wird auf der „völligen Zer-
störung“ des zentralistischen Staatsapparats, des stehenden Heeres, der
Polizei und der Bürokratie beruhen. Kautsky handelt geradezu betrüge-
risch, wenn er die wohlbekannten Darlegungen von Marx und Engels
über die Kommune übergeht und ein Zitat hervorholt, das mit der Frage
nichts zu tun hat.
„Will er“ (Pannekoek) „vielleicht die staatlichen Funktionen der Beamten auf-
heben?“ fährt Kautsky fort. „Aber wir kommen in Partei und Gewerkschaft nicht
ohne Beamte aus. geschweige denn in der Staatsverwaltung. Unser Programm for-
dert denn auch nicht Abschaffung der staatlichen Beamten, sondern die Erwählung
der Behörden durch das Volk . . . Nicht darum handelt es sich bei unserer jetzigen
Staat und Resolution
501
Erörterung, wie sich der Verwaltungsapparat des .Zukunftsstaates* gestalten wird,
sondern darum, ob unser politischer Kampf die Staatsgewalt auflöst, ehe mir sie
noch erobert haben " (hervorgehoben von Kautsky). „Welches Ministerium mit
seinen Beamten könnte aufgehoben werden?" Es werden die Ministerien des Unter-
richts, der Justiz, der Finanzen und das Kriegsministerium aufgezählt. „Nein, kei-
nes der heutigen Ministerien wird durch unsem politischen Kampf gegen die Regie-
rungen beseitigt werden ... Ich wiederhole es, um Mißverständnissen vorzubeugen:
hier ist nicht die Rede von der Gestaltung des Zukunftsstaats durch die siegreiche
Sozialdemokratie, sondern von der des Gegenwartsstaates durch unsere Oppo-
sition." (S. 725.)
Dies ist eine offensichtliche Unterstellung. Pannekoek warf doch ge-
rade die Frage der Revolution auf. Das wird sowohl in der Überschrift
seines Artikels als auch in den angeführten Stellen klar gesagt. Indem
Kautsky auf die Frage der „Opposition" überspringt, fälscht er gerade
den revolutionären Standpunkt in einen opportunistischen um. Bei ihm
läuft es darauf hinaus: Gegenwärtig machen wir Opposition, und nach
Eroberung der Macht werden wir weiter sehen. Die Revolution ver-
schwindet! Das war gerade das, was die Opportunisten brauchten.
Es handelt sich nicht um Opposition und nicht um den politischen
Kampf im allgemeinen, sondern eben um die Revolution. Die Revolution
besteht darin, daß das Proletariat den „Verwaltungsapparat", ja den
gesamten Staatsapparat zerstört und ihn durch einen neuen, aus
bewaffneten Arbeitern bestehenden Apparat ersetzt. Kautsky offenbart
eine „abergläubische Verehrung“ der „Ministerien“, weshalb aber sollten
diese nicht ersetzt werden können, sagen wir, durch Kommissionen von
Fachleuten bei den Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten, denen
die ganze ungeteilte Macht gehört?
Der Kern der Frage besteht durchaus nicht darin, ob „Ministerien"
bestehenbleiben, ob es „Kommissionen von Fachleuten“ oder irgend-
welche andere Institutionen geben wird; das ist ganz belanglos. Die ent-
scheidende Frage ist, ob die alte Staatsmaschinerie (die durch tausend
Fäden mit der Bourgeoisie verbunden und durch und durch von ver-
knöcherten Gewohnheiten und Konservatismus durchsetzt ist) aufrecht-
erhalten bleibt, oder ob sie zerstört und durch eine neue ersetzt wird.
Die Revolution darf nicht darin bestehen, daß die neue Klasse mit Hilfe
der alten Staatsmaschinerie kommandiert und regiert, sondern muß dar-
502
WA. Lenin
in bestehen, daß sie diese Maschine zerschlägt und mit Hilfe einer neuen
Maschine kommandiert und regiert - diesen grundlegenden Gedanken
des Marxismus vertuscht Kautsky. oder aber er hat ihn überhaupt nicht
begriffen.
Seine Frage bezüglich der Beamten beweist anschaulich, daß er die
Lehren der Kommune und die Marxsdie Lehre nicht begriffen hat. „Wir
kommen in Partei und Gewerkschaft nicht ohne Beamte aus . . .“
Wir kommen unter dem Kapitalismus, unter der Herrschaft der Bour-
geoisie nicht ohne Beamte aus. Das Proletariat ist geknechtet, die werk-
tätigen Massen sind durch den Kapitalismus versklavt. Unter dem Kapi-
talismus ist die Demokratie durch die ganzen Verhältnisse der Lohn-
sklaverei, der Not und des Elends der Massen eingeengt, eingeschnürt,
gestutzt, verstümmelt. Aus diesem Grund, und nur aus diesem, werden
die beamteten Personen in unseren politischen und gewerkschaftlichen
Organisationen durch die Verhältnisse des Kapitalismus demoralisiert
(oder, genauer gesagt, besteht die Tendenz, daß sie demoralisiert wer-
den), neigen sie dazu, sich in Bürokraten, d. h. in den Massen entfrem-
dete, über den Massen stehende, privilegierte Personen zu verwandeln.
Darin besteht das Wesen des Bürokratismus, und solange die Kapita-
listen nicht expropriiert sind, solange die Bourgeoisie nicht gestürzt ist -
solange ist eine gewisse „Bürokratisierung“ sogar der proletarischen be-
amteten Personen unvermeidlich.
Bei Kautsky sieht die Sache so aus: Da nun einmal gewählte beam-
tete Personen bleiben, so bleiben auch im Sozialismus die Beamten, bleibt
die Bürokratie! Und gerade das ist falsch. Gerade am Beispiel der Kom-
mune hat Marx gezeigt, daß im Sozialismus die beamteten Personen auf-
hören, „Bürokraten“, „Beamte“ zu sein, sie hören in dem Maße auf, es
zu sein, wie außer der Wählbarkeit audi noch die jederzeitige Absetz-
barkeit eingeführt wird, dazu noch die Reduzierung des Gehalts auf den
durchschnittlichen Arbeiterlohn und dazu noch die Ersetzung der parla-
mentarischen Körperschaften durch „arbeitende Körperschaften, die voll-
ziehend und gesetzgebend zu gleicher Zeit“ sind.
Im Grunde genommen ist die ganze Argumentation Kautskys gegen
Pannekoek und insbesondere der großartige Einwand Kautskys, wir
kämen auch in Partei und Gewerkschaft nicht ohne Beamte aus, eine Wie-
derholung der alten „Argumente“ Bernsteins gegen den Marxismus
Staat und Revolution
überhaupt. In seinem Renegatenbucfa .Die Voraussetzungen des Sozia-
lismus“ bekämpft Bernstein die Ideen der .primitiven“ Demokratie, be-
kämpft er das, was er als .doktrinären Demokratismus“ bezeichnet:
gebundene Mandate, unbezahlte Beamte, machtlose Zentralvertretung
usw. Als Beweis für die Unhaltbarkeit dieses .primitiven“ Demokratis-
mus beruft sich Bernstein auf die Erfahrungen der englischen Trade-
Unions, wie sie das Ehepaar Webb interpretiert. Während der siebzig
Jahre ihrer Entwicklung hätten die Trade-Unions, die sich angeblich „in
voller Freiheit“ entwickelt haben (S. 137 der deutschen Ausgabe), sich
von der Unbrauchbarkeit des „primitiven“ Demokratismus überzeugt
und ihn durch den üblichen Demokratismus ersetzt: Parlamentarismus,
gepaart mit Bürokratismus.
ln Wirklichkeit haben sich die Trade-Unions nicht „in voller Freiheit“,
sondern in voller kapitalistischer Sklaverei entwickelt, wobei man natür-
lich ohne eine Reihe Zugeständnisse an das herrschende Übel, an Ge-
walt, Lüge, ohne Ausschluß der Armen von der „höheren“ Verwaltung
„nicht auskommen konnte“. Im Sozialismus wird unvermeidlich vieles
von der „primitiven“ Demokratie wieder aufleben, denn zum erstenmal
in der Geschichte der zivilisierten Gesellschaften wird sich die Masse der
Bevölkerung zur selbständigen Teilnahme nicht nur an Abstimmungen
und Wahlen, sondern auch an der laufenden Vermaltungsarbeit erheben.
Im Sozialismus werden alle der Reihe nach regieren und sich schnell
daran gewöhnen, daß keiner regiert.
Marx hat mit seinem genialen kritisch-analytischen Verstand in den
praktischen Maßnahmen der Kommune jenen Umschwung erkannt, den
die Opportunisten fürchten und den sie aus Feigheit nicht anerkennen
wollen, weil sie mit der Bourgeoisie nicht unwiderruflich brechen möch-
ten, und den die Anarchisten nicht sehen wollen, sei es aus Übereilung,
sei es, weil sie die Bedingungen der sozialen Massenumwandlungen über-
haupt nicht erkennen. „An die Zerstörung der alten Staatsmaschinerie
ist gar nicht zu denken, wie sollen wir denn da ohne Ministerien und
ohne Beamte auskommen“, argumentiert der durch und durch verspie-
ßerte Opportunist, der im Grunde genommen an die Revolution, an die
Schöpferkraft der Revolution nicht nur nicht glaubt, sondern vor ihr töd-
liche Angst empfindet (wie unsere Menschewiki und Sozialrevolutionäre).
„Es gilt nur, die alte Staatsmaschinerie zu zerstören, man braucht
504
nicht in die konkreten Lehren der früheren proletarischen Revolutionen
einzudringen und zu analysieren, wodurch und wie das Zerstörte ersetzt
werden soll“, argumentiert der Anarchist (natürlich der beste unter den
Anarchisten, und nicht einer, der mit den Herren Kropotkin und Co. hin-
ter der Bourgeoisie einhertrottet) ; und der Anarchist gelangt daher zu
einer Taktik der Verzweiflung statt zu einer schonungslos kühnen und
gleichzeitig die praktischen Bedingungen der Massenbewegung berück-
sichtigenden revolutionären Arbeit an konkreten Aufgaben.
Marx lehrt uns, beide Fehler zu vermeiden, er lehrt uns grenzenlose
Kühnheit bei der Zerstörung der gesamten alten Staatsmaschinerie, und
gleichzeitig lehrt er uns, die Frage konkret zu stellen: Die Kommune ver-
mochte es, in einigen Wochen den Bau einer neuen, proletarischen Staats-
maschine auf die und die Weise in Angriff zu nehmen und die erwähn-
ten Maßnahmen zu größerem Demokratismus und zur Ausrottung des
Bürokratismus durchzuführen. Wir wollen von den Kommunarden revo-
lutionäre Kühnheit lernen, wir wollen ihre praktischen Maßnahmen als
Skizzierung der praktischen, dringlichen und sofort durchführbaren Maß-
nahmen betrachten, und wir werden, wenn wir diesen Weg verfolgen, die
völlige Vernichtung des Bürokratismus erreichen.
Die Möglichkeit einer solchen Vernichtung ist dadurch gesichert, daß
der Sozialismus den Arbeitstag verkürzen, die Massen zu einem neuen
Leben emporheben und die Mehrheit der Bevölkerung in Verhältnisse
versetzen wird, die allen ohne Ausnahme gestatten werden, „Staats-
funktionen“ auszuüben. Das aber führt zum völligen Absterben jedweden
Staates überhaupt.
„Seine“ (des Massenstreiks) „Aufgabe", fährt Kautsky fort, „kann nicht die sein,
die Staatsgewalt zu zerstören, sondern nur die, eine Regierung zur Nachgiebigkeit
in einer bestimmten Frage zu bringen oder eine dem Proletariat feindselige Regie-
rung durch eine ihm entgegenkommende zu ersetzen . . . Aber nie und nimmer
kann dies“ (d. b. der Sieg des Proletariats über die feindselige Regierung) „zu
einer Zerstörung der Staatsgewalt, sondern stets nur zu einer Verschiebung der
Machtverhältnisse innerhalb der Staatsgewalt führen . . . Und das Ziel unse-
res politischen Kampfes bleibt dabei das gleiche, das es bisher gewesen:
Eroberung der Staatsgewalt durch Gewinnung der Mehrheit im Parlament
und Erhebung des Parlaments zum Herrn der Regierung.“ (S. 726, 727,
732.)
Staat und Revolution
505
Das ist schon waschechter, trivialster Opportunismus, das ist die Preis-
gabe der Revolution in der Tat bei einem Bekenntnis zu ihr in Worten.
Kautskys Gedanke geht über eine „dem Proletariat entgegenkommende
Regierung“ nicht hinaus - das ist ein Schritt zurück zum Philistertum
verglichen mit 1847, als das „Kommunistische Manifest“ die „Erhebung
des Proletariats zur herrschenden Klasse“ proklamierte.
Kautsky wird nichts übrigbleiben, als die von ihm geliebte „Einheit“
mit den Scheidemännern, den Plechanow und Vandervelde zu verwirk-
lichen, die alle bereit sind, für eine „dem Proletariat entgegenkommende“
Regierung zu kämpfen.
Wir aber werden mit diesen Verrätern am Sozialismus endgültig bre-
chen und werden für die Zerstörung der ganzen alten Staatsmaschinerie
kämpfen, auf daß das bewaffnete Proletariat selbst die Regierung sei.
Das sind zwei grundverschiedene Dinge.
Kautsky wird die angenehme Gesellschaft der Legien, David, Plecha-
now. Potressow. Zereteli und Tschemow teilen müssen, die alle durch-
aus bereit sind, für eine „Verschiebung der Machtverhältnisse innerhalb
der Staatsgewalt“, für die „Gewinnung der Mehrheit im Parlament und
die Erhebung des Parlaments zum Herrn der Regierung“ zu kämpfen -
ein hochedles Ziel, an dem für die Opportunisten alles akzeptabel ist,
bei dem alles im Rahmen der bürgerlichen parlamentarischen Republik
bleibt.
Wir aber werden mit den Opportunisten endgültig brechen; und das
ganze klassenbewußte Proletariat wird mit uns sein im Kampf nicht um
eine „Verschiebung der Machtverhältnisse“, sondern um den Sturz der
Bourgeoisie, um die Zerstörung des bürgerlichen Parlamentarismus, um
die demokratische Republik vom Typ der Kommune oder die Republik
der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten, um die revolutionäre
Diktatur des Proletariats.
Noch weiter rechts als Kautsky befinden sich im internationalen So-
zialismus solche Richtungen wie die der „Sozialistischen Monatshefte“ 116
in Deutschland (Legien. David, Kolb und viele andere, einschließlich der
Skandinavier Stauning und Branting), die Jaures- Anhänger und Vander-
velde in Frankreich und Belgien, Turati, Treves und andere Vertreter des
rechten Flügels der italienischen Partei, die Fabier und die „Unabhän-
506
W.I. Lettin
gigen“ („Unabhängige Arbeiterpartei“, die sidi in Wirklichkeit stets in
Abhängigkeit von den Liberalen befand) in England 117 und ähnliche. Alle
diese Herrschaften, die in der parlamentarischen Arbeit und in der Par-
teipublizistik eine ungeheure, sehr oft eine ausschlaggebende Rolle spie-
len, lehnen die Diktatur des Proletariats rundweg ab und vertreten einen
unverhüllten Opportunismus. Für diese Herrschaften „widerspricht“ die
„Diktatur“ des Proletariats der Demokratien Im Grunde genommen
unterscheiden sie sich durch nichts ernsthaft von den kleinbürgerlichen
Demokraten.
Ziehen wir diesen Umstand in Betracht, so sind wir zu der Schluß-
folgerung berechtigt, daß die II. Internationale in der überwältigenden
Mehrheit ihrer offiziellen Vertreter sich vollkommen dem Opportunis-
mus verschrieben hat. Die Erfahrungen der Kommune wurden nicht nur
vergessen, sondern entstellt. Den Arbeitermassen wurde nicht nur nicht
cingeprägt, daß die Zeit naht, wo sie sich erheben und die alte Staats-
maschine zerbrechen müssen, um sie durch eine neue zu ersetzen und
auf diese Weise ihre politische Herrschaft zur Grundlage der sozialisti-
schen Umgestaltung der Gesellschaft zu machen - das Gegenteil wurde
den Massen eingeprägt, und die „Eroberung der Macht“ wurde so dar-
gestellt, daß dem Opportunismus Tausende Hintertürchen offenblieben.
Es konnte gar nicht anders sein, die Entstellung und das Verschweigen
der Frage, wie sich die proletarische Revolution zum Staat verhält, muß-
ten eine ungeheure Rolle spielen zu einer Zeit, da die Staaten mit ihrem
infolge der imperialistischen Konkurrenz verstärkten militärischen Appa-
rat sich in Kriegsungeheuer verwandelten, die Millionen von Menschen
vernichten, um den Streit zu entscheiden, ob England oder Deutschland,
ob dieses oder jenes Finanzkapital die Welt beherrschen soll.*
* Im Manuskript folgt:
„VII. KAPITEL
Die Erfahrungen der russischen Revolutionen von 1905 und 1917
Das in dieser Kapitelüberschrift genannte Thema ist so unermeßlich groß, daß
man darüber Bände schreiben könnte und müßte. In der vorliegenden Schrift
werde ich mich natürlich auf die Hauptlehren beschränken müssen, soweit sie un-
mittelbar auf die Aufgaben des Proletariats in der Revolution der Staatsmacht
gegenüber Bezug haben.“ Hier bricht das Manuskript ab. Die Red.
Staat und Revolution
507
NACHWORT ZUR ERSTEN AUFLAGE
Die vorliegende Schrift wurde im August und September 1917 nieder-
geschrieben. Ich hatte bereits den Plan des nächsten, des siebenten Ka-
pitels, „Die Erfahrungen der russischen Revolutionen von 1905 und
1917“, fertig. Aber außer der Überschrift habe ich keine Zeile dieses
Kapitels schreiben können: Die politische Krise, der Vorabend der Ok-
toberrevolution von 1917, „verhinderte“ es. Über eine solche „Verhin-
derung“ kann man sich nur freuen. Allerdings wird der zweite Teil dieser
Schrift (der den „Erfahrungen der russischen Revolutionen von 1905 und
1917“ gewidmet sein soll) wohl auf lange Zeit zurückgestellt werden müs-
sen; es ist angenehmer und nützlicher, die „Erfahrungen der Revolution“
durchzumachen, als über sie zu schreiben.
Petrograd, den 30. November 1917
Der Verfasser
ANMERKUNGEN
511
1 Der Erste Gesamtrussische Kongreß der Sowjets der Arbeiter- und Sol-
datendeputierten tagte in Petrograd vom 3. bis 24. Juni (16. Juni bis 7. Juli)
1917. An dem Kongreß nahmen mehr als 1000 Delegierte teil. Die Bolsche-
wiki, die damals in den Sowjets in der Minderheit waren, wurden von
105 Delegierten vertreten. Die Mehrheit hatten die Sozialrevolutionäre
und Menschewiki. Auf der Tagesordnung des Kongresses standen die Fra-
gen: die Stellung zur Provisorischen Regierung, der Krieg, die Vorbereitung
zur Konstituierenden Versammlung u. a. Lenin sprach auf dem Kongreß
über die Stellung zur Provisorischen Regierung und über den Krieg. Die
Bolsdiewiki legten zu allen wesentlichen Fragen ihre eigenen Resolutionen
vor. Sie zeigten den imperialistischen Charakter des Krieges, die Verderb-
lichkeit des Paktierens mit der Bourgeoisie und forderten den Übergang
der gesamten Staatsmacht in die Hände der Sowjets. In seinen Beschlüssen
stellte sich der Kongreß auf die Position der Unterstützung der Provisori-
schen Regierung, billigte die von ihr vorbereitete Offensive der russischen
Truppen an der Front und sprach sich gegen den Übergang der Staatsmacht
an die Sowjets aus. 1
2 „ Rabotschaja Gaseta" (Arbeiterzeitung) - Zentralorgan der Menschewiki,
das von März bis November 1917 in Petrograd als Tageszeitung erschien. 5
3 Siehe Karl Marx/Friedrich Engels. Werke, Bd. 36, S. 578. 6
4 Lenin meint die Beschlüsse der Siebenten Gesamtrussischen Konferenz der
SDAPR(B) (Aprilkonferenz), die vom 24. bis 29. April (7. bis 12. Mai) 1917
in Petrograd stattfand. (Siehe „Die KPdSU in Resolutionen und Beschlüssen
der Parteitage, Parteikonferenzen und Plenartagungen des ZK", 7. Auflage,
Teil I, Moskau 1954, S. 332-353. russ.) 7
512
Anmerkungen
5 Ljadtom, W. P. - Oberst der zaristischen Armee; kommandierte die russischen
Truppen, die 1908 die bürgerliche Revolution in Persien unterdrückten. Wenn
Lenin von Ljachowscher Politik spricht, meint er die Unterdrückung der revo-
lutionären Bewegung und der nationalen Befreiungsbewegung durch die
zaristische Regierung. 8
6 Gemeint sind die Jsmestija Petrogadskomo Somjeta Rabtosdiich i Soldatskidt
Deputatom' (Nachrichten des Petrograder Sowjets der Arbeiter- und Soldaten-
deputierten) - Tageszeitung, die ab 28. Februar (13. März) 1917 erschien.
Nach der Bildung des Zentralexekutivkomitees der Sowjets der Arbeiter- und
Soldatendeputierten auf dem I. Gesamtrussischen Sowjetkongreß wurde die
Zeitung zum Organ des ZEK und erschien ab 1. (14.) August 1917 (von
Nr. 132 an) unter dem Titel „Iswestija Zentralno wo Ispolnitelnowo Komiteta
i Petrogradskowo Sowjeta Rabotsdiich i Soldatskich Deputatow" (Nachrichten
des Zentralexekutivkomitees und des Petrograder Sowjets der Arbeiter- und
Soldatendeputierten). Die Zeitung befand sich während dieser ganzen Zeit in
den Händen der Menschewiki und Sozialrevolutionäre und führte einen er-
bitterten Kampf gegen die bolschewistische Partei. Seit dem 27. Oktober
(9. November) 1917, nach dem II. Gesamtrussischen Sowjetkongreß, sind die
.Iswestija“ das offizielle Organ der Sowjetmacht. Im März 1918 wurde die
Herausgabe der Zeitung anläßlich der Übersiedlung des Gesamtrussischen
ZEK und des Rats der Volkskommissare von Petrograd nach Moskau ver-
legt. 9
7 Der Erste Gesamtrussische Kongreß der Bauemdeputierten fand vom 4. bis
28. Mai (17. Mai bis 10. Juni) 1917 in Petrograd statt. Auf dem Kongreß
waren 1115 Delegierte der Gouvernements und verschiedener Truppenteile
anwesend. Die Bolschewiki nahmen an den Arbeiten des Kongresses aktiv teil,
sie entlarvten die imperialistische Politik der bürgerlichen Provisorischen
Regierung und das Paktierertum der Menschewiki und Sozialrevolutionäre.
Lenin sprach auf dem Kongreß zur Agrarfrage. Er forderte die unverzügliche
Konfiskation der Gutsbesitzerländereien und ihre Übergabe an die Bauem-
komitees sowie die Nationalisierung des gesamten Bodens im Lande. Die Vor-
herrschaft der Sozialrevolutionäre bestimmte den Charakter der Kongreß-
beschlüsse. Der Kongreß billigte die Politik der bürgerlichen Provisorischen
Regierung und den Eintritt der .Sozialisten“ in die Provisorische Regierung. Er
unterstützte in seinen Beschlüssen auch die Fortsetzung des Krieges .bis zum
siegreichen Ende“ und die Offensive an der Front Der Kongreß sprach sich
gegen eine sofortige Übergabe der Gutsbesitzerländereien an die Bauern aus
und schob die Lösung der Bodenfrage bis zur Konstituierenden Versammlung
auf. 9
Anmerkungen
513
8 „ Notoaja Shisn" (Neues Leben) - Tageszeitung, die vom 18. April (1. Mai)
1917 bis Juli 1918 in Petrograd erschien. Die Zeitung wurde auf Initiative
einer Gruppe internationalistischer Menschewiki und Schriftsteller gegründet.
Der Oktoberrevolution und der Errichtung der Sowjetmacht stand die Zei-
tung feindlich gegenüber. Ab l.Juni 1918 erschien sie in zwei Ausgaben:
einer Petrograder und einer Moskauer. Beide Ausgaben wurden im Juli 1918
verboten. 10
9 Lenin meint die Tatsache, daß dem Führer der Unabhängigen Arbeiterpartei
Englands, Ramsay MacDonald, von der englischen Regierung ein Paß für eine
Reise nach Rußland ausgestellt worden war, wohin ihn die mensdiewistischen
Führer eingeladen hatten. Die Reise MacDonalds kam nicht zustande. 11
10 Der Aufruf des Petrograder Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten
„ An die Völker der ganzen Welt “ wurde in einer Sitzung des Sowjets am 14.
(27.) März 1917 angenommen und am folgenden Tage in den zentralen Zei-
tungen veröffentlicht. Die soziabrevolutionär-menschewistisdien Führer muß-
ten unter dem Druck der revolutionären Massen, die die Beendigung des
Krieges forderten, den Aufruf beschließen.
Der Aufruf appellierte an die Werktätigen der kriegführenden Länder,
aktiv für den Frieden einzutreten. Er entlarvte jedoch nicht den räuberischen
Charakter des Krieges, bezeichnete keine praktischen Maßnahmen im Kampf
um den Frieden und rechtfertigte im Grunde genommen die Fortsetzung des
imperialistischen Krieges durch die bürgerliche Provisorische Regierung. 12
11 Im Juni 1917 wurde Albanien von Italien okkupiert. In Griechenland besetzten
französische und englische Truppen eine Reihe von Städten. In Persien
wurde während des imperialistischen Weltkriegs 1914-1918 der nördliche und
zentrale Teil von russischen und der südliche Teil von englischen Truppen
besetzt. 13
a Gemeint ist die Erklärung des Büros der Fraktion der Bolsthewiki und des
Büros der vereinigten internationalistischen Sozialdemokraten auf dem
I, Gesamtrussischen Sowjetkongreß mit der Forderung, die Frage der von
der Provisorischen Regierung vorbereiteten Offensive an der Front vom
Kongreß vorrangig zu behandeln. In der Erklärung wurde darauf hinge-
wiesen, daß diese Offensive von den alliierten Imperialisten diktiert worden
ist, daß die konterrevolutionären Kreise Rußlands beabsichtigen, auf diese
Weise die Macht in den Händen militärisch-diplomatischef und kapitalistischer
Gruppen zu konzentrieren und einen Schlag gegen den revolutionären Kampf
für den Frieden und gegen die von der russischen Demokratie eroberten Posi-
tionen zu führen. Die Erklärung warnte die Arbeiterklasse, die Armee und
33 Lenin, Werke. Bd. 25
514
Anmerkungen
die Bauernschaft vor der Gefahr, die das Land bedrohte, und forderte den
Kongreß auf, dem konterrevolutionären Drude sofort Widerstand entgegen-
zusetzen. 13
13 „ Delo Naroda“ (Die Sache des Volkes) - Tageszeitung, Organ der Partei der
Sozialrevolutionäre; erschien unter verschiedenen Namen von März 1917 bis
Juli 1918 in Petrograd. Die Zeitung stand auf den Positionen der Vaterlands-
verteidigung und des Paktierens mit der bürgerlichen Provisorischen Regierung.
Sie wurde im Oktober 1918 in Samara (vier Nummern) und im März 1919
in Moskau (zehn Nummern) erneut herausgegeben. Dann wurde sie wegen
konterrevolutionärer Tätigkeit verboten. 13
14 Das Basler Manifest über den Krieg wurde 1912 auf dem außerordentlichen
Kongreß der II. Internationale in Basel angenommen. (Siehe W. I. Lenin,
Werke, Bd. 21, S. 200-210 und 308.) 23
15 Kiautschou - Gebiet in der Provinz Sdiantung in Nordchina. Dieses Gebiet
und auch die Inseln im Stülen Ozean, die Karolinen, die Marianen und die
Marshallinseln, die bis 1914 in Deutschlands Besitz waren, riß, Japan im
imperialistischen Weltkrieg (1914-1918) an sich. 24
16 Gemeint ist das Verbot des ukrainischen Armeekongresses durch den Kriegs-
minister der Provisorischen Regierung. KerenskL Trotz des Verbots tagte der
Kongreß im Juni 1917 in Kiew.
Lenin unterzog die konterrevolutionäre Politik der Provisorischen Regierung
und der Parteien der Menschewiki und Sozialrevolutionäre in bezug auf die
Ukraine einer scharfen Kritik in den Artikeln »Die Ukraine“ und „Die
Ukraine und die Niederlage der Regierungsparteien Rußlands". (Siehe den
vorliegenden Band. S. 81/82 und 89-92.) 25
17 Die Revolution von 1905-1907 in Rußland rief eine revolutionäre Bewegung
unter den Völkern des Ostens hervor. 1908 ging in der Türkei eine bürger-
liche Revolution vonstatten. 1906 begann die bürgerliche Revolution in Per-
sien, die 1909 zum Sturz des persischen Schahs führte. 1910 entfaltete sich
eine revolutionäre Bewegung in China gegen die chinesischen Feudalherren
und die ausländischen Imperialisten, die zur Revolution in China und zur
Bildung der bürgerlichen Republik im Dezember 1911 führte. 28
18 „ Sozial-Demokrat " - Tageszeitung, Organ des Moskauer Gebietsbüros, des
Moskauer Komitees, später auch des Moskauer Bezirkskomitees der Partei der
Bolschewiki; erschien von März 1917 bis März 1918. Im Zusammenhang
mit der Verlegung des ZK der Partei nach Moskau verschmolz die Zeitung
mit der „Prawda“. 30
Anmerkungen
515
19 „ Prawda " (Die Wahrheit) - legale bolschewistische Tageszeitung, die im
April 1912 auf Initiative der Petersburger Arbeiter gegründet wurde und in
Petersburg erschien.
Die „Prawda“ war eine Massenzeitung der Arbeiter; das Geld für ihre
Finanzierung wurde von den Arbeitern selbst gesammelt. Um die Zeitung
bildete sich ein großer Kreis von Arbeiterkorrespondenten und Arbeiter-
publizisten. Im Laufe eines einzigen Jahres wurden in der „Prawda“ mehr
als elftausend Arbeiterkorrespondenzen veröffentlicht. Die Tagesauflage der
„Prawda“ betrug im Durchschnitt 40000 Exemplare und erreichte in manchen
Monaten 60000 Exemplare.
W. I. Lenin leitete die „Prawda“ vom Ausland aus. Er schrieb fast täglich
für die Zeitung, gab der Redaktion Anweisungen und gewann für die Zeitung
die besten publizistischen Kräfte der Partei.
An der Redaktion der Zeitung waren N. N. Baturin, K. S. Jeremejew, M. I.
Kalinin, W. M. Molotow, M. S. Olminski, N. G. Poletajew, K. N. Samoilowa,
J. W. Stalin. J. M. Swerdlow, A. I. Uljanowa-Jelisarowa u. a. aktiv beteiligt.
Auch die bolschewistischen Abgeordneten der IV. Reichsduma A. J. Badajew,
G. I. Petrowski. M. K Muranow. F. N. Samoilow und N. R. Schagow arbei-
teten an der „Prawda“ tatkräftig mit.
Die „Prawda“ war unablässigen polizeilichen Verfolgungen ausgesetzt.
Im ersten Jahr ihres Bestehens wurde sie 41mal beschlagnahmt, 36 Gerichts-
verfahren wurden gegen die Redakteure durchgeführt, die insgesamt 47 ä /2 Mo-
nate Gefängnishaft verbüßen mußten. Innerhalb von zwei Jahren und drei
Monaten war die „Prawda“ von der zaristischen Regierung achtmal ver-
boten. wurde aber jedesmal unter einem anderen Namen neu herausgegeben:
„Rabotschaja Prawda“ (Arbeiterprawda). „Sewemaja Prawda“ (Prawda des
. Nordens), „Prawda Truda" (Prawda der Arbeit). „Sa Prawdu“ (Für die
Prawda), „Proletarskaja Prawda“ (Proletarische Prawda), „Put Prawdy“ (Weg
der Prawda), „Rabotschi" (Der Arbeiter), „Trudowaja Prawda“ (Prawda der
Werktätigen). Am 8. (21.) Juli 1914, kurz vor Beginn des ersten Weltkriegs,
wurde die Zeitung wiederum verboten.
Die Herausgabe der „Prawda“ konnte erst nach der Februarrevolution
wiederaufgenommen werden. Vom 5. (18.) März 1917 an erschien die
„Prawda“ als das Zentralorgan der SDAPR. Am 5. (18.) April begann Lenin,
aus dem Ausland zurückgekehrt, in der Redaktion zu arbeiten und übernahm
die Leitung der „Prawda". Am 5. (18.) Juli 1917 wurden die Redaktionsräume
der „Prawda“ von Offiziersschülern und Kosaken demoliert. Von Juli bis
Oktober 1917 wechselte die „Prawda“. den Verfolgungen seitens der Proviso-
rischen Regierung ausgesetzt, mehrmals ihren Namen und erschien als „Listok
516
Anmerkungen
.Prawdy'“ (Blatt der ..Prawda“). „Proletari“ (Der Proletarier). „Rabotsdii“
(Der Arbeiter), „Rabotschi Put“ (Weg des Arbeiters). Seit dem 27. Oktober
(9. November) erscheint die Zeitung unter ihrem alten Namen „Prawda“. 30
20 Die Konferenz der Betriebskotmtees tagte in Petrograd vom 30. Mai bis 3. Juni
(12. bis 16. Juni) 1917. Es nahmen 568 Delegierte der Betriebskomitees und
des Büros der Gewerkschaften Petrograds an ihr teil. Für die Konferenz schrieb
Lenin die „Resolution über ökonomische Kampfmaßnahmen gegen die Zer-
rüttung“ (siehe Werke, Bd. 24, S. 516-518), die als vom Organisationsbüro
zur Einberufung der Konferenz vorgeschlagene Resolution im Namen des
Zentralkomitees der Partei der Bolschewiki am 25. Mai (7. Juni) 1917 in der
Moskauer bolschewistischen Zeitung „Sozial-Demokrat“ und danach am
2. (15). Juni in der „Prawda“ Nr. 71 veröffentlicht wurde. Auf der Tages-
ordnung der Konferenz standen die Fragen: Kontrolle und Regulierung der
Produktion, die Aufgaben der Betriebskomitees und ihre Rolle in der Gewerk-
schaftsbewegung. Auf der Konferenz sprach Lenin. Er kritisierte scharf das
antirevolutionäre Auftreten des Vertreters der Zeitung „Nowaja Shisn“,
Awilow, und die von ihm vorgeschlagene Resolution zur Frage der Kontrolle
und Regulierung der Produktion. Die Konferenz nahm mit überwältigender
Mehrheit die von Lenin verfaßte „Resolution über ökonomische Kampfmaß-
nahmen gegen die Zerrüttung“ an. 31
21 „ Retsdi " (Die Rede) - Tageszeitung, Zentralorgan der Kadettenpartei: er-
schien in Petersburg ab Februar 1906. Am 26. Oktober (8. November) 1917
wurde sie vom Revolutionären Militärkomitee beim Petrograder Sowjet ver-
boten; unter anderen Namen erschien die Zeitung bis August 1918. 32
22 „ Jedinstmo “ (Die Einheit) - Tageszeitung, die von März bis November 1917
in Petrograd erschien; im Dezember 1917 und Januar 1918 wurde sie unter
anderem Namen herausgegeben. Redakteur der Zeitung war G. W. Plechanow.
Sie vereinigte die extrem rechte Gruppe der menschewistischen Vaterlands-
verteidiger und unterstützte vorbehaltlos die bürgerliche Provisorische Re-
gierung. Die Zeitung führte einen wütenden Kampf gegen die Partei der Bol-
schewiki. 32
23 „Vorwärts“ - Zentraloigan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands:
wurde seit dem 1. Oktober 1876 in Leipzig herausgegeben, dann durch das
Sozialistengesetz verboten; erschien 1890-1933 (aus dem 1884 gegründeten
„Berliner Volksblatt“ neu hervorgegangen) in Berlin. Zu seinen Redakteuren
gehörte u. a. Wilhelm Liebknecht. Friedrich Engels führte in der Zeitung einen
Kampf gegen alle Erscheinungsformen des Opportunismus. Anfang des
20. Jahrhunderts gelangte die Redaktion immer mehr unter den Einfluß revisio-
Anmerkungen
517
nistischer Kräfte, die jedoch 1905 aus der Redaktion entfernt wurden („Vor-
wärts “-Konflikt). Mit dem Entstehen des Zentrismus in der deutschen Arbeiter-
bewegung nahm auch der Einfluß der zentristisdien Kräfte auf den „Vorwärts“
zu. Während des imperialistischen Krieges 1914-1918 vertrat der „Vorwärts“
zunächst einen sozialpazifistischen Standpunkt. Im Oktober 1916 wurde unter
Brudi der Statuten die Redaktion durch Sozialchauvinisten ersetzt und der
„Vorwärts“ zum Sprachrohr des Sozialchauvinismus ; nach der Großen Sozia-
listischen Oktoberrevolution wurde er zu einem Zentrum der Antisowjet-
propaganda. 34
24 Gemeint ist die Konferenz von Mitgliedern der IV. Reichsduma, Gutsbesitzern
und Kapitalisten, die am 3. (16.) Juni 1917 in Petrograd stattfand. Nach der
Februarrevolution löste die Provisorische Regierung die Reichsduma nicht
offiziell auf. Die Mitglieder der Duma, Gutsbesitzer und Kapitalisten, ver-
sammelten sich weiter zu ihren Konferenzen, die ein Herd der Konterrevolu-
tion waren. Eine Bestimmung über die Auflösung der Duma erließ die Pro-
visorische Regierung erst am 6. (19.) Oktober 1917. 36
25 „ Wolja Naroda" (Der Volkswille) - Tageszeitung, Organ des rechten Flügels
der Partei der Sozialrevolutionäre, wurde 1917 in Petrograd herausgegeben
und im November 1917 verboten. Später erschien sie auch unter anderen
Namen; endgültig wurde sie im Februar 1918 verboten. 42
26 „Notooje Wrernja" (Neue Zeit) - Tageszeitung; erschien von 1868 bis 1917 in
Petersburg. Zu Beginn gemäßigt liberal, wurde sie, nachdem im Jahre 1876
A. S. Suworin Verleger der Zeitung geworden war, zum Organ reaktionärer
Kreise des Adels und der Beamtenbürokratie. Ab 1905 war sie das Organ der
Schwarzhunderter. Nach der bürgerlich-demokratischen Februarrevolution
1917 unterstützte die Zeitung die konterrevolutionäre Politik der bürgerlichen
Provisorischen Regierung und betrieb eine wüste Hetze gegen die Bolschewiki.
Sie wurde vom Revolutionären Militärkomitee beim Petrograder Sowjet am
26. Oktober (8. November) 1917 verboten. 47
27 Die erste Koalitionsregierung wurde tun 5. (18.) Mai 1917 gebildet, ihre Zu-
sammensetzung gab man tun 6. (19.) Mai bekannt. Der Koalitionsregierung
gehörten neben den Vertretern der Bourgeoisie die Sozialrevolutionäre
Kerenski und Tschemow sowie der den Sozialrevolutionären nahestehende
Perewersew an, weiter die Menschewiki Skobelew und Zereteli und der
„Volkssozialist“ Peschechonow. 48
28 Gemeint ist die Rede des Ministers für Arbeit in der Provisorischen Regierung,
des Menschewiks Skobelew, in der Sitzung des Petrograder Sowjets der
518
Anmerkungen
Arbeiter- und Soldatendeputierten am 13. (26.) Mai 1917, in der er erklärte,
die Steuersätze für die besitzenden Klassen müßten „bis auf 100 Prozent des
Profits“ erhöht werden. 54
29 Lenin meint den Beschluß des 1. Gesamtrussischen Sowjetkongresses über das
Verbot der Demonstration, die vom Zentralkomitee der Partei der Bolschewik!
. für den 10. (23.) Juni 1917 angesetzt worden war. Die Demonstration sollte
angesichts des Sowjetkongresses dem Willen der Petrograder Arbeiter und
Soldaten Ausdruck geben, die die Übergabe der gesamten Staatsmacht an die
Sowjets forderten. Die Menschewiki und Sozialrevolutionäre wandten sich
gegen die geplante Demonstration. Am 9. (22.) Juni führten sie auf der Sit-
zung des Sowjetkongresses einen Beschluß über das Verbot der Demonstration
herbei. Das Zentralkomitee der Partei der Bolschewiki fügte sich diesem Be-
schluß des Sowjetkongresses und sagte die Demonstration ab. Sie wurde auf
den 18. Juni (1. Juli) verlegt, einen Tag, der vom Sowjetkongreß selbst für
eine Demonstration bestimmt worden war. Die Menschewiki und Sozialrevo-
lutionäre wollten diese Demonstration unter antibolschewistischen Losungen
durchführen. Am 18. Juni (1. Juli) demonstrierten etwa 500 000 Arbeiter und
Soldaten Petrograds. Die überwältigende Mehrheit der Demonstranten mar-
schierte unter den revolutionären Losungen der Partei der Bolschewiki. Nur
kleine Gruppen trugen Losungen der paktiererischen Parteien mit sich, in
denen der Provisorischen Regierung das Vertrauen ausgesprochen wurde. Die
Demonstration zeigte den wachsenden revolutionären Elan der Massen und
ein gewaltiges Anwachsen des Einflusses und der Autorität der Partei der Bol-
schewiki. Zugleich zeigte sie das völlige Fiasko der kleinbürgerlichen paktiere-
rischen Parteien und der Provisorischen Regierung in der Hauptstadt. (Über
die Junidemonstration siehe den vorliegenden Band, S. 101-103.) 60
30 Am 7. (20.) Juni 1917 hatte die Provisorische Regierung eine Verfügung über
die Exmittierung von Anarchisten aus der Villa des ehemaligen zaristischen
Ministers Dumowo erlassen. Diese Verfügung war in Wirklichkeit gegen die
Rotgardistenabteilungen und gegen die gewerkschaftlichen Organisationen
gerichtet, die den größten Teil der Villa innehatten. Die Arbeiter Petrograds
protestierten, eine Reihe von Betrieben streikte. Die Provisorische Regierung
war gezwungen nachzugeben. Später jedoch, in der Nacht zum 19. Juni
(2. Juli), entsandte die Provisorische Regierung eine bewaffnete Abteilung von
Kosaken und Soldaten, die die Villa demolierten. Der Überfall löste bei den
Arbeitern Petrograds Empörung aus. 60
31 Catilina, Lucius Sergius - römischer Politiker und Heerführer; organisierte
im Jahre 63 v. u. Z. eine Verschwörung mit dem Ziel, einen Staatsstreich
Anmerkungen
519
durchzuführen, die römische Republik zu beseitigen und eine Militärdiktatur
zu errichten. 63
32 Die Grundgedanken dieses Entwurfs wurden aufgenommen in die Erklärung
des Zentralkomitees der SDAPR(B) und des Büros der Fraktion der Bolsche-
wiki auf dem L Gesamtrussischen Sowjetkongreß anläßlich des vom Kongreß
beschlossenen Verbots der von der Partei der Bolschewik! für den 10. (23.)
Juni angesetzten friedlichen Demonstration.
In Band XX der zweiten und dritten Ausgabe der Werke W. I. Lenins
wurde dieses Dokument unter der redaktionellen Überschrift „Entwurf zu
einem Artikel über die Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauemdeputier-
ten“ veröffentlicht. Die Änderung der Überschrift in der 4. Ausgabe der
Werke erfolgte entsprechend dem Inhalt des Dokuments. 67
33 Lenin meint die Rede des Ministers der Provisorischen Regierung, des Men-
schewiks Zereteli, die dieser am 11. (24.) Juni 1917 in der gemeinsamen Sit-
zung des Präsidiums des I. Gesamtrussischen Sowjetkongresses, des Exekutiv-
komitees des Petrograder Sowjets, des Exekutivkomitees des Sowjets der
Bauemdeputierten und aller Fraktionsbüros des Sowjetkongresses hielt. Die
Sitzung wurde aus Anlaß der von den Bolsdiewiki für den 10. (23.) Juni an-
gesetzten Demonstration einberufen. Aus Protest gegen die Rede Zeretelis
verließen die Bolsdiewiki die Sitzung. 69
34 Cavaignac, Louis-Eugene - französischer General, nach der Februarrevolution
1848 Kriegsminister der Provisorischen Regierung Frankreichs. In den Juni-
tagen 1848 leitete er die Niederwerfung des Aufstands der Pariser Arbeiter. 73
35 Gemeint ist die Erklärung des Zentralkomitees der SDAPR(B) und des Büros
der Fraktion der Bolsdiewiki auf dem I. Gesamtrussischen Sowjetkongreß an-
läßlich des vom Kongreß beschlossenen Verbots der von der Partei derBolsche-
wiki für den 10. (23.) Juni 1917 angesetzten friedlichen Demonstration. In der
Erklärung entlarvten die Bolsdiewiki die provokatorischen Handlungen der
menschewistisdien und Sozialrevolutionären Führer des Sowjetkongresses, die
die friedliche Demonstration verboten hatten, sie entlarvten auch die konter-
revolutionäre Politik der Provisorischen Regierung. Die Bolsdiewiki erklärten,
daß die Revolution in Gefahr sei, und riefen die Arbeiterklasse auf, standhaft
und wachsam zu sein. Die Erklärung wurde am 11. (24.) Juni in der gemein-
samen Sitzung des Präsidiums des Sowjetkongresses und des Exekutivkomitees
des Petrograder Sowjets, des Exekutivkomitees des Sowjets der Bauerndepu-
tierten und aller Fraktionsbüros des Sowjetkongresses verlesen. Die Bolsche-
wik! wollten diese Erklärung in der Sitzung des Sowjetkongresses am 12. (25.)
Juni verlesen, aber der Vorsitzende der Versammlung entzog dem Vertreter
520
Anmerkungen
der Bolschewiki das Wort. Die Erklärung wurde dem Präsidium des Sowjet-
kongresses übergeben, ln derselben Sitzung des Kongresses wurde, obwohl die
Bolschewiki die Demonstration abgesagt hatten, eine Resolution angenommen,
die die Haltung der Partei der Bolschewiki verurteilte. 78
36 „Malenkaja Gaseta“ (Die kleine Zeitung) - Boulevardzeitung der Sdiwarz-
hunderterrichtung, die von September 1914 bis Juli 1917 in Petrograd er-
schien. 88
37 „Russkaja Wolja“ (Russischer Wille) - bürgerliche Tageszeitung, die vom
zaristischen Innenminister A. D. Protopopow gegründet und von den Groß-
banken finanziert wurde; sie erschien ab Dezember 1916 in Petrograd. Nach
der Februarrevolution führte sie eine Verleumdungskampagne gegen die Bol-
schewiki. Lenin nannte sie „eine der niederträchtigsten bürgerlichen Zeitungen“
(vorliegender Band, S. 306). Am 25. Oktober (7. November) 1917 wurde sie
vom Revolutionären Militärkomitee verboten. 88
38 Der stellvertretende Innenminister der zaristischen Regierung, Dshunkowski,
erfuhr im Jahre 1914, daß der Abgeordnete der IV. Reichsduma, Malinowski,
ein Lockspitzel war. Davon unterrichtete Dshunkowski damals „streng ver-
traulich" den Vorsitzenden der IV. Reichsduma, Rodsjanko. Sie beschlossen,
Malinowski aus der Duma zu entfernen, aber so, daß „kein Skandal, weder
für die Duma noch für die Minister hervorgerufen wird“. Malinowski legte
seine Abgeordnetenvollmachten nieder und reiste mit Hilfe des Polizeideparte-
ments ins Ausland. Er wurde erst 1917 auf Grund von Archivmaterialien des
Polizeidepartements entlarvt. 1918 wurde Malinowski von der Sowjetregie-
rung vor Gericht gestellt und laut Urteilsspruch des Revolutionstribunals er-
schossen. 93
39 „Den" (Der Tag) - Tageszeitung bürgerlich-liberaler Richtung, die ab 1912
in Petersburg erschien. An der Zeitung arbeiteten menschewistische Liquida-
toren mit, in deren Hände die Zeitung nach der Februarrevolution 1917 voll-
ständig überging. Am 26. Oktober (8. November) 1917 verboten. 94
40 Am 16. (29.) Juni 1917 veröffentlichten die Zeitungen „Den“, „Nowaja Shisn“
und „Birshewyje Wedomosti“ den Bericht der außerordentlichen Unter-
suchungskommission, die die Provisorische Regierung zur Untersuchung der
Verbrechen der Zarenmacht eingesetzt hatte. Dieser Bericht enthielt Mate-
rialien zu dem Fall des Lockspitzels Malinowski. die erstmalig veröffentlicht
Wurden. 94
41 „Birshomha“ - „Birshenyje Wedomosti" (Börsennachrichten) - bürgerliche
Tageszeitung, die ab 1880 in Petersburg erschien. Der Kurzname „Birshowka“
Anmerkungen 521
wurde zum Gattungsnamen und kennzeidinete die Prinzipienlosigkeit und Feil-
heit der bürgerlichen Presse. Ende Oktober 1917 wurde die Zeitung vom
Revolutionären Militärkomitee beim Petrograder Sowjet verboten. 94
42 Gemeint ist die Spitzeltätigkeit Asefs. eines Mitglieds des Zentralkomitees der
Partei der Sozialrevolutionäre, der mehrere Jahre lang Agent des Polizei-
departements war. 1908 wurde er entlarvt und floh ins Ausland. 94
43 Gemeint ist die von der Provisorischen Regierung mit Zustimmung der Men-
schewiki und Sozialrevolutionäre am 18. Juni (1. Juli) 1917 begonnene Offen-
sive der russischen Truppen an der Front. 104
44 Die gesamtrussische Konferenz der Gewerkschaften tagte vom 21. bis 28. Juni
(4. bis 11. Juli) 1917 in Petrograd. An der Konferenz nahmen 211 Personen
teil, davon 73 Bolschewiki, die übrigen Teilnehmer waren Menschewiki, So-
zialrevolutionäre. Bundisten und Parteilose. Auf der Tagesordnung standen
folgende Fragen: die Aufgaben der Gewerkschaftsbewegung, der Gewerk-
schaftsaufbau, der wirtschaftliche Kampf u. a. Zu allen wichtigen Fragen
brachten die Bolschewiki eigene Resolutionen oder Abänderungsanträge ein.
Mit einer geringfügigen Mehrheit von 10-12 Stimmen nahm die Konferenz
die von den menschewistischen „Vaterlandsverteidigern“ eingebrachten Reso-
lutionen an. Die Konferenz wählte einen provisorischen Zentralrat der Ge-
werkschaften. 115
43 Gemeint ist die rechte Sozialrevolutionärin J. K. Breschko-Breschkowskaja. Aus
Protest dagegen, daß Kerenski vom III. Parteitag der Partei der Sozialrevolu-
tionäre (er fand Ende Mai bis Anfang Juni 1917 in Moskau statt) nicht ins
ZK der Partei gewählt worden war, lehnte sie es ab, weiter Mitglied des Zen-
tralkomitees der Partei der Sozialrevolutionäre zu sein. 121
46 „ Semlja i Wolja“ (Land und Freiheit) - Zeitung der Sozialrevolutionäre, die
von März bis Oktober 1917 in Moskau erschien. 121
47 Die kadettischen Minister Schingarjow. Manuilow und Schachowskoi traten
am 2. (15.) Juli 1917 aus der Provisorischen Regierung aus. Der Artikel
Lenins „Worauf mögen die Kadetten bei ihrem Austritt aus der Regierung ge-
rechnet haben?’ wurde am 15. (28.) Juli 1917 ohne Unterschrift zum ersten-
mal in der Zeitung „Proletarskoje Delo“ veröffentlicht.
„ Proletarskoje Delo ’ (Die proletarische Sache) - Tageszeitung, Organ der
bolschewistischen Fraktion des Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten
von Kronstadt; erschien 1917 an Stelle der in den Julitagen von der Provi-
sorischen Regierung verbotenen Kronstädter bolschewistischen Zeitung „Golos
Prawdy" (Die Stimme der Prawda). 147
48 Lenin meint die Demonstration am 3. und 4. (16. und 17.) Juli 1917 in
Petrograd. Am 3. (16.) Juli kam es im Wiborger Stadtteil zu spontanen De-
monstrationen gegen die Provisorisdie Regierung. Zuerst demonstrierte das
1. Maschinengewehrregiment. Ihm schlossen sich andere Truppenteile und Ar-
beiter aus den Werken und Fabriken an. Die Demonstration drohte zu einer
bewaffneten Aktion gegen die Provisorische Regierung zu werden.
Die Partei der Bolschewiki war zu diesem Zeitpunkt gegen eine bewaffnete
Aktion, weil sie davon ausging, daß die revolutionäre Krise noch nicht heran-
gereift war und Armee und Provinz noch nicht bereit waren, den Aufstand in
der Hauptstadt zu unterstützen. In einer gemeinsamen Sitzung des ZK, des
Petersburger Komitees und der Militärorganisation beim ZK der SDAPR(B)
am 3. (16.) Juli wurde beschlossen, sich nicht an einer Aktion zu beteiligen.
Einen ebensolchen Beschluß nahm auch die zu dieser Zeit tagende zweite
Petrograder Stadtkonferenz der Bolschewiki an. Die Konferenzdelegierten be-
gaben sich in die einzelnen Stadtbezirke, um die Massen von einer Aktion
zurückzuhalten. Aber die Aktion begann trotzdem, und sie aufzuhalten war
bereits unmöglich.
Der Stimmung der Massen Rechnung tragend, beschloß das Zentralkomitee
gemeinsam mit dem Petersburger Komitee und der Militärorganisation am
späten Abend des 3. (16.) Juli, an der Demonstration am 4. (17.) Juli teilzu-
nehmen, um ihr einen friedlichen und organisierten Charakter zu verleihen.
Lenin war zu dieser Zeit aus gesundheitlichen Gründen nicht in Petrograd.
Nachdem er über die Ereignisse informiert worden war, fuhr er am Morgen
des 4. (17.) Juli nach Petrograd zurück.
An der Demonstration am 4. (17.) Juli nahmen mehr als 500000 Menschen
teil. Sie fand unter den Losungen der Bolschewiki .Alle Macht den Sowjets!“
und anderen statt Die Demonstranten benannten 90 Vertreter, die dem
Zentralexekutivkomitee der Sowjets ihre Forderung nach Übergabe der ge-
samten Macht in die Hände der Sowjets unterbreiteten. Die Sozialrevolutio-
nären und menschewistischen Führer lehnten es jedoch ab, die Macht zu über-
nehmen.
Die Provisorische Regierung beschlpß mit Wissen und Zustimmung des
menschewistisch-sozialrevolutionären ZEK, die Demonstration mit Waffen-
gewalt zu unterdrücken. Gegen die friedliche Demonstration der Arbeiter und
Soldaten wurden Regimenter von Offiziersschülern und konterrevolutionären
Kosaken eingesetzt. Sie eröfifneten das Feuer auf die Demonstranten. Von der
Front waren reaktionär gesinnte Truppen herbeigerufen worden.
Auf der Beratung der Mitglieder des ZK und des PK, die in der Nacht vom
4. zum 5. (17. zum 18.) Juli unter Vorsitz W. I. Lenins stattfand, wurde der
Anmerkungen
523
organisierte Abbruch der Demonstration beschlossen. Dies war ein richtiger
Schritt der Partei, die es verstand, sich rechtzeitig zurückzuziehen und die
Hauptkräfte der Revolution vor der Zerschlagung zu bewahren.
Die bürgerliche Provisorische Regierung setzte nach der Niederschlagung
der Demonstration die Repressalien fort. Mit besonderem Haß stürzte sie sich
auf die bolschewistische Partei. Die bolschewistischen Zeitungen „Prawda“.
„Soldatskaja Prawda“ (Soldatenprawda) u. a. wurden verboten. Die Arbeiter
wurden entwaffnet, es begannen Massenverhaftungen. Haussuchungen und
Pogrome. Die revolutionären Truppenteile der Petrograder Garnison, die an
der Demonstration teilgenommen hatten, wurden reorganisiert und an die
Front geschickt. Die Menschewiki und Sozialrevolutionäre erwiesen sich fak-
tisch als Komplicen und Helfershelfer der konterrevolutionären Henker.
Nach den Julitagen ging die Ma<ht im Lande vollständig an die konterrevo'
lutionäre Provisorische Regierung über. Die Sowjets waren nur noch ihr ohn-
mächtiges Anhängsel. Die Doppelherrschaft war zu Ende. Die friedliche
Periode der Revolution war vorbei. Die Bolschewiki standen vor der Aufgabe,
den bewaffneten Aufstand zum Sturz der Provisorischen Regierung vorzu-
bereiten. 151
49 „Shiwoje- Slotoo " (Lebendiges Wort) - Tageszeitung, Boulevardblatt vom
Schwarzhundertertypus, das von 1916 an in Petrograd erschien. Im Jahre 1917
betrieb es eine Pogromhetze gegen die Bolschewiki Es erschien bis zur Ok-
toberrevolution. 152
50 „Bund zur Befreiung der Ukraine" - büigerlich-nationalistische Organisation,
die 1914, zu Beginn des imperialistischen Weltkriegs, von einer Gruppe ukrai-
nischer bürgerlicher Nationalisten geschaffen wurde. Der Bund rechnete mit
der Niederlage Rußlands im Krieg und stellte sieh als Aufgabe die Lostrennung
der Ukraine von Rußland und die Bildung einer bürgerlich-gutsherrlichen
ukrainischen Monarchie unter deutschem Protektorat. 153
51 Die Dreyfus-Affäre war ein im Jahre 1894 von den reaktionären monar-
chistischen Kreisen der französischen Militärclique inszenierter provokato-
rischer Prozeß gegen den jüdischen Generalstabsoffizier Dreyfus, gegen den
falsche Anklage wegen Spionage und Landesverrat erhoben wurde. Dreyfus
wurde durch das Kriegsgericht zu lebenslänglicher Deportation verurteilt. Die
allgemeine Bewegung für eine Überprüfung des Falles Dreyfus. die sich in
Frankreich entfaltete, war von einem erbitterten Kampf zwischen Republika-
nern und Monarchisten begleitet und führte schließlich 1906 zur Rehabilitie-
rung von Dreyfus.
Lenin nannte die Dreyfus-Affäre „eine der unzähligen ehrlosen Manipula-
tionen der reaktionären Militärclique“. 161
524
Anmerkungen
52 Der „Sozial-Demokrat". das Zentralorgan der SDAPR, wurde als illegale
Zeitung von Februar 1908 bis Januar 1917 herausgegeben. Es erschienen
58 Nummern : die erste in Rußland, die übrigen im Ausland, zunächst in Paris
und später in Genf. Ab Dezember 1911 wurde der „Sozial-Demokrat“ von
W. I. Lenin redigiert. Im „Sozial-Demokrat“ wurden über achtzig Artikel und
Notizen W. I. Lenins veröffentlicht.
Nach Nummer 32. erschienen am 15. (28.) Dezember 1913, war die Her-
ausgabe des „ Sozial-Demokrat" vorübergehend unterbrochen. Sofort nach sei-
ner Ankunft in der Schweiz im September 1914 entfaltete W. I. Lenin eine
umfangreiche Tätigkeit, um das Zentralorgan der Partei erneut herauszügeben.
Am 1. November 1914 erschien die fällige- Nummer 33 des „Sozial-Demo-
krat" mit dem von Lenin verfaßten Manifest des ZK der SDAPR „Der Krieg
und die russische Sozialdemokratie". Trotz der Schwierigkeiten der Kriegszeit
erschien der „Sozial-Demokrat“ regelmäßig. Lenin leitete die gesamte Arbeit
bei der Herausgabe der Zeitung; er legte den Inhalt der einzelnen -Nummern
fest, redigierte die Materialien und befaßte sich mit den Fragen der Gestaltung
und des Drucks der Zeitung. Die Verbreitung des „Sozial-Demokrat“ in Ruß-
land und der Abdruck der wichtigsten Artikel in den lokalen bolschewistischen
Zeitungen trugen zur politischen Aufklärung und zur Erziehung des russischen
Proletariats zum Internationalismus, zur Vorbereitung der Massen auf die
Revolution bei. Der „Sozial-Demokrat“ spielte eine große Rolle beim Zu-
sammenschluß der internationalistischen Elemente der internationalen Sozial-
demokratie. Über alle durch den Kriegszustand bedingten Hindernisse hinweg
fand er Zugang in viele Länder.
1916 gab die Redaktion des „Sozial-Demokrat“ zwei Nummern des„Sbomik
Sozial-Demokrata" (Sammelband des „Sozial-Demokrat“) heraus, in denen
u. a. Lenins Schriften „Die sozialistische Revolution und das Selbstbestim-
mungsrecht der Nationen (Thesen)“, „Die Ergebnisse der Diskussion über die
Selbstbestimmung" und „Über die Losung der .Entwaffnung' “ veröffentlicht
wurden. 164
53 Die Festsitzung wurde von den schwedischen linken Sozialisten am 13. April
1917 zu Ehren Lenins organisiert, der sich auf der Reise von der Schweiz nach
Rußland einen Tag in Stockholm aufhielt. 164 -
54 Lenins Artikel „Drei Krisen“ wurde 1917 in Nr. 7 der Zeitschrift „Rabotniza“
„Rabotniza“ (Die Arbeiterin) - Zeitschrift. Organ des Zentralkomitees der
Partei der Bolschewiki, das von Februar bis Juni 1914 legal in Petersburg
erschien. Danach wurde das Erscheinen der Zeitschrift eingestellt. Sie erschien
erneut von Mai 1917 bis Januar 1918. 166
525
55 Nach der Niederschlagung der Julidemonstration erließ die Provisorische
Regierung am 7. (20.) Juli 1917 einen Haftbefehl gegen W. I. Lenin. Am
Abend des 7. (20.) Juli fand in der Wohnung des alten Bolschewiks, des Ar-
beiters S. J. Allilujew, wo sieh Lenin damals verborgen hielt, eine Beratung
von Mitgliedern des ZK und einer Reihe von Parteiarbeitern statt. Anwesend
waren W. I. Lenin. W. P. Nogin, G. K. Ordshonikidse, J. W. Stalin, J. D.
Stassowa u. a. Es wurde beschlossen, daß sich Lenin dem Gericht der konter-
revolutionären Provisorischen Regierung nicht zu stellen habe. 172
56 Die Thesen . Die politische Lage" bestimmten die neue taktische Linie der bol-
schewistischen Partei im Zusammenhang mit der veränderten politischen
Situation, die nach der Niederschlagung der Demonstration der Arbeiter und
Soldaten am 4. (17.) Juli und dem Übergang der gesamten Macht in die
Hände der konterrevolutionären Provisorischen Regierung entstanden war. Die
Thesen wurden auf einer Beratung des Zentralkomitees der SDAPROB) mit
Vertretern des Petersburger Komitees, der Militärorganisation beim ZK der
SDAPR(B), des Moskauer Gebietsbüros, des Moskauer Komitees und des Mos-
kauer Bezirkskomitees erörtert, die am 13. und 14. (26. und 27.) Juli 1917
stattfand.
Sie wurden in Form eines Artikels unter der Überschrift »Die politische
Stimmung“ am 2. August (20. Juli) 1917 im »Proletarskoje Delo“ (Die prole-
tarische Sache), dem Organ der bolschewistischen Fraktion des Kronstädter
Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten, veröffentlicht. 174
57 Das Bulletin der » Prawda ' erschien in deutscher Sprache in Stockholm von
Juni bis November 1917 unter dem Titel »Russische Korrespondenz .Prawda' “.
Es wurde von der Auslandsvertretung des Zentralkomitees der SDAPROB) her-
ausgegeben. Das Bulletin erschien auch in französischer Sprache. 178
58 Die Beilis-Affäre - ein provokatorischer Prozeß, der 1913 in Kiew von der
zaristischen Regierung gegen den Juden Beilis inszeniert wurde. Man be-
schuldigte Beilis wider besseres Wissen des Ritualmordes. (In Wirklichkeit war
der Mord von S chwarzhundertem organisiert worden.) Der Prozeß rief in der
Öffentlichkeit starke Erregung hervor. In einer Reihe von Städten führten die
Arbeiter Protestdemonstrationen durch. Beilis wurde vom Schwurgericht frei-
gesprochen. 179
59 Siehe Friedrich Engels, „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und
des Staats“, in Karl Marx/Friedrich Engels, Werke. Bd. 21, S. 166. 185
60 Der Artikel » Über Verfassungsillusionen" wurde zuerst 1917 in der Zeitung
34 Lenin. Werke. Bd. 25
526
Anmerkungen
„Rabotschi i Soldat“ veröffentlicht und dann als Broschüre unter dem Titel
„Zur gegenwärtigen Lage“ herausgegeben. Um die Zeitung vor dem Verbot
zu bewahren und geheimzuhalten, daß die Partei der Bolschewiki den bewaff-
neten Aufstand vorbereitete, wurden die Worte „bis zum bewaffneten Auf-
stand“ bei der Veröffentlichung des Artikels von der Redaktion durch die
Worte „bis zu seinen entschiedensten Formen“ ersetzt. Dem vorhegenden Text
liegt das Manuskript zugrunde. 193
61 Lenin meint das Frankfurter Parlament, die im Mai 1848 nach der Märzrevo-
lution in Deutschland einberufene Nationalversammlung. 197
62 Lenin meint die Schrift „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ von
Karl Marx. (Siehe Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 8, S. 111-207.)
198
63 Siehe Friedrich Engels, „Der deutsche Bauernkrieg“. (Siehe Karl Marx/Friedrich
Engels. Werke, Bd. 7, S. 327-413.) 201
64 Gang nach Canossa bedeutet, jedes beliebige Zugeständnis machen und jeg-
liche Erniedrigung auf sich nehmen.
Im Jahre 1077 begab sich der deutsche König Heinrich IV. nach Canossa
(einer Burg in Oberitalien) zum Papst Gregor VII. Er wollte beim Papst, gegen
den er gekämpft hatte und der den Kirchenbann über ihn verhängt und ihn
der königlichen Macht für verlustig erklärt hatte, Absolution erflehen. Hein-
rich IV. stand drei Tage im Gewand eines büßenden Sünders am Burgtor und
flehte um eine Zusammenkunft mit dem Papst, bis dieser ihn empfing. 207
65 Gemeint ist die von der Provisorischen Regierung vorbereitete Staatsberatung.
Sie wurde am 12; (25.) August 1917 in Moskau einberufen. Die Mehrheit der
Beratungsteilnehmer waren Vertreter der Gutsbesitzer, der Bourgeoisie, der
Generalität, des Offizierskorps und der Kosakenschaft. Die von den Sowjets
entsandte Delegation setzte sich aus Menschewiki und Sozialrevolutionären zu-
sammen. Die Beratung hatte das Ziel, die konterrevolutionären Kräfte, die
Bourgeoisie und die Gutsbesitzer, zur Niederschlagung der Revolution zu
mobilisieren. In der Beratung entwickelten Komilow. Alexejew, Kaledin u. a.
ein Programm zur Unterdrückung der Revolution. Kerenski drohte in seiner
Rede, er werde die revolutionäre Bewegung niederwerfen und den Versuchen
der Bauern, von den Gutsbesitzerländereien Besitz zu ergreifen, ein Ende
machen. Das Zentralkomitee der Partei der Bolschewiki rief das Proletariat
zum Protest gegen die Moskauer Staatsberatung auf. In Moskau organisierten
die Bolschewiki am Eröffnungstage der Beratung einen eintägigen General-
streik, an dem sich über 400 000 Menschen beteiligten. Zu Protestkundgebun-
gen und Streiks kam es auch in anderen Städten. 207
Anmerkungen
527
06 „Die Glocke “ - Halbmonatsschrift ; wurde in München und später in Berlin
von 1915 bis 1925 von dem Sozialdiauvinisten Parvus (Helphand) heraus-
gegeben. 218
67 Die Provisorische Koalitionsregierung, bestehend aus Kerenski, Nekrassow,
Awksentjew und anderen wurde am 24. Juli (6. August) 1917 gebildet. Ihr
gehörten Kadetten, Menschewiki, Sozialrevolutionäre, „Volkssozialisten“ und
den Kadetten nahestehende Parteilose an. Die neue Regierung befand sich in
den Händen der Kadetten. 221
68 Gemeint ist die Deklaration der Provisorischen Regierung vom 8. (21.) Juli
1917. Sie enthielt eine Reihe demagogischer Versprechungen, mit denen die
Provisorische Regierung, die Sozialrevolutionäre und Menschewiki die Massen
nach den Julitagen zu beruhigen suchten. Die Provisorische Regierung forderte
zur Fortsetzung des imperialistischen Krieges auf, versprach jedoch, zum fest-
gesetzten Termin, dem 17. (30.) September, Wahlen zur Konstituierenden
Versammlung abzuhalten und Gesetzesvorlagen über den Achtstundentag,
über die Sozialversicherung u. a. auszuarbeiten. 221
69 Die . Konfliktkommission ' wurde auf Beschluß des versöhnlerischen Exekutiv-
komitees des Petrograder Sowjets vom 8. (21.) März 1917 gebildet, um auf
die Provisorische Regierung „einzuwirken“ und ihre Tätigkeit zu kontrollieren.
Ihr gehörten W. N. Filippowski, M. L Skobelew, J. M. Steklow, N. N. Sucha-
now, N. S. Tschcheldse (später auch W. M. Tschemow und I. G. Zereteli) an.
Die „Kontaktkommission" half der Provisorischen Regierung, die Autorität des
Petrograder Sowjets zur Verschleierung ihrer konterrevolutionären Politik aus-
zunutzen. Mit ihrer Hilfe glaubten die Menschewiki und die Sozialrevolutio-
näre die Massen vom aktiven revolutionären Kampf für den Übergang der
Macht an die Sowjets abhalten zu können. Die „Kontaktkommission“ wurde
Mitte April 1917 abgeschafft, als ihre Funktionen dem Büro des Exekutiv-
komitees übergeben wurden. 235
70 Die Frage der Einberufung einer Konferenz nach Stockholm entstand im April
1917. Der dänische Sozialdemokrat Borgbjerg kam nach Petrograd und lud im
Namen des Vereinigten Komitees der Arbeiterparteien Dänemarks. Norwegens
und Schwedens die sozialistischen Parteien Rußlands ein. sich in Stockholm an
einer Konferenz über die Frage des Friedensschlusses zu beteiligen. Das sozial-
revolutionär-menschewistische Exekutivkomitee und später auch der Petro-
grader Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten faßten den Beschluß, sich
an der Stockholmer Konferenz zu beteiligen und die Initiative zu ihrer Ein-
berufung zu übernehmen. Die Siebente Gesamtrussische Konferenz der Bol-
schewiki (Aprilkonferenz) sprach sich entschieden gegen eine Beteiligung an der
34*
528
Anmerkungen
Stockholmer Konferenz aus, weil feststand, daß sich dort Sozialchauvinisten
versammeln würden ; sie zeigte den imperialistischen Charakter der Konferenz
auf. Am 6. (19.) August forderte Kamenew in der Sitzung des Zentralexekutiv-
komitees bei der Debatte zur Frage der Stockholmer Konferenz, sich an der
Konferenz zu beteiligen. Die bolschewistische Fraktion des Zentralexekutiv-
komitees distanzierte sich von diesem Auftreten Kamenews, das Zentral-
komitee der Partei verurteilte seine opportunistische Linie und beschloß,
im Zentralorgan die Ansichten der Partei in dieser Frage darzulegen. Am
16. (29.) August wurde in der Zeitung „Proletari“ W. I. Lenins Brief „Zum
Auftreten Kamenews im Zentralexekutivkomitee in der Frage der Stock-
holmer Konferenz“ veröffentlicht. Die Stockholmer Konferenz fand nicht
statt. 245
71 Lenin meint die Resolution „Ober die Vereinigung der Partei“, die vom VI. Par-
teitag der SDAPR(B) angenommen wurde. (Siehe „Die KPdSU in Resolutionen
und Beschlüssen der Parteitage. Parteikonferenzen und Plenartagungen des
ZK“. 7. Auflage. Teil I, Moskau 1954. S. 388, tuss.)
Der VI. Parteitag der SDAPRfB) tagte halb legal vom 26. Juli bis 3. August
(8.-16. August) 1917 in Petrograd. Auf dem Parteitag waren 157 Delegierte
mit beschließender und 110 mit beratender Stimme anwesend, die 240000 Par-
teimitglieder vertraten. W. I. Lenin leitete den Parteitag aus der Illegalität.
Auf der Tagesordnung standen folgende Fragen: 1. Bericht des Organisa-
tionsbüros; 2. Bericht des ZK der SDAPROB); 3. Rechenschaftsberichte der
lokalen Organisationen: 4. die gegenwärtige Lage: a) der Krieg und die inter-
nationale Lage; b) die politische und wirtschaftliche Lage: 5. Revision des
Programms: 6. Organisationsfragen: 7. die Wahlen zur Konstituierenden Ver-
sammlung; 8. die Internationale; 9. die Vereinigung der Partei; 10. die Ge-
werkschaftsbewegung; 11. Wahl; 12. Verschiedenes.
Außerdem wurde auf dem Parteitag die Frage behandelt, ob sich Lenin dem
Gericht stellen sollte. Im Ergebnis der Diskussion nahm der Parteitag einstim-
mig eine Resolution an. in der er sich gegen das Erscheinen Lenins vor Gericht
aussprach. Er protestierte gegen die von Staatsanwaltschaft und Polizeispitzeln
betriebene Fletze und sandte Lenin ein Grußschreiben.
Die Hauptfragen des Parteitags waren der politische Rechenschaftsbericht
des ZK und der Bericht über die politische Lage. Lenins Weisung folgend nahm
der Parteitag vorübergehend die Losung „Alle Macht den Sowjets I“ zurück und
orientierte auf den Kampf für die Beseitigung der Diktatur der konterrevolu-
tionären Bourgeoisie und für die Eroberung der Macht durch das Proletariat
im Bündnis mit der armen Bauernschaft auf dem Wege des bewaffneten Auf-
stands. In seinen Beschlüssen unterstrich der Parteitag die Leninsche These
Anmerkungen
529
vom Bündnis zwischen dem Proletariat und der armen Bauernschaft als wich-
tigste Voraussetzung für den Sieg der sozialistischen Revolution.
Der Parteitag wies die antileninistische Auffassung zurück, daß der Sieg der
sozialistischen Revolution in Rußland ohne den Sieg der proletarischen Revo-
lution in Westeuropa, nicht möglich sei.
Der Parteitag beschloß die ökonomische Plattform der Partei und bestätigte
ein neues Parteistatut.
Das vom Parteitag herausgegebene Manifest rief die Arbeiter, Soldaten
un'd Bauern Rußlands auf, ihre Kräfte zu sammeln und sich unter der Führung
der bolschewistischen Partei auf den Entscheidungskampf mit der Bourgeoisie
vorzubereiten. Der Parteitag wählte ein Zentralkomitee, dem W. I. Lenin,
J. A. Bersin, A. S.Bubnow, F. E. Dzierzynski, A. M. Kollontai, W. P. Miljutin,
M. K. Muranow, W. P. Nogin, S. G. Schaumian, F. A, Sergejew (Artjom),
J. W. Stalin, J. M. Swerdlow, M. S. Urizki u. a. angehörten. 252
72 „ Proletari " (Der Proletarier) - Zentralorgan der Partei der Bolschewiki, Tages-
zeitung: erschien vom 13. (26.) bis 24. August (6: September) 1917 an Stelle
der von der Provisorischen Regierung verbotenen „Prawda". Es erschienen
10 Nummern. 252
73 W. I. Lenin zitiert aus dem Gedicht von N. A. Nekrassow „Oh, wohl dem
Dichter sanftgemut“. (Siehe Gedichte von Nikolai Alexejewitsch Nekrassow,
Leipzig 1902, S. 24.) 263
74 „ Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands" - im April 1917 ge-
gründete Arbeiterpartei mit zentristischer Führung, deren Kern die „Sozial-
demokratische Arbeitsgemeinschaft“ bildete.
Im Oktober 1920 kam es auf dem Parteitag der USPD in Halle zur Spal-
tung. Ein beträchtlicher Teil der Partei vereinigte sich im Dezember 1920 mit
der Kommunistischen Partei Deutschlands. Die rechten Elemente bildeten eine
eigene Partei und behielten die alte Bezeichnung Unabhängige Sozialdemo-
kratische Partei bei. 1922 schlossen sie sich, wieder der Sozialdemokratischen
Partei Deutschlands an. 273
75 „Ismestija Wserossiskomo Somjeta Krestjamkich Deputatom" (Nachrichten des
Gesamtrussischen Sowjets der Bauerndeputierten) - Tageszeitung, offizielles
Organ des Sowjets der Bauemdeputierten; erschien von Mai bis Dezember
1917 in Petrograd. Die Zeitung vertrat die Ansichten des rechten Flügels der
Sozialrevolutionäre. 281
76 Lenin meint die Schrift von Friedrich Engels „Die Bauernfrage in Frankreich
530
Anmerkungen
und Deutschland“. (Siehe Karl Marx/Friedrich Engels, Werke. Bd. 22, S. 499
bis 502.) 2SS
77 „ Rabotsdii “ (Der Arbeiter) - Zentralorgan der bolschewistischen Partei,
Tageszeitung, die vom 25. August (7. September) bis zum 2. (15.) September
1917 an Stelle der von der Provisorischen Regierung verbotenen Zeitung
„Prawda“ herausgegeben wurde. Es erschienen 12 Nummern. 296
78 Der „V ereinigungs"kongreß der Menschewiki fand vom 19. bis 26. August
(1. bis 8. September) 1917 in Petrograd statt. Er war einberufen worden, um
die einzelnen menschewistischen Gruppen zu einer einheitlichen Partei zu ver-
einigen. An dem Kongreß n ahm en die menschewistischen „Vaterlandsvertei-
diger" (die Anhänger Plechanows und Potressows), die internationalistischen
Menschewiki (die Anhänger Martows) und die Vertreter der Zeitung „Nowaja
Shisn“ teil. Mit Stimmenmehrheit nahm der Kongreß Resolutionen an, in denen
er sich für die Fortsetzung des Krieges „bis zum siegreichen Ende“ aussprach,
den Eintritt von Sozialisten in die Provisorische Regierung billigte und ihr sein
Vertrauen aussprach. Im Verlauf des Kongresses zeigte sich die vollständige
Zerfahrenheit seiner Teilnehmer, und die Vereinigung kam nicht zustande. 298
79 Lenin meint den Staatsstreich vom 3. (16.) Juni 1907. Der Staatsstreich vom
dritten Juni leitete die Periode der Stolypinschen Reaktion ein, die unter der
Bezeichnung „Regime des dritten Juni“ bekannt ist. 303
80 Bei den Wahlen zu den Bezirksdumas in Petrograd, die vom 27. Mai bis zum
5. Juni (9. bis 18. Juni) 1917 stattfanden, erhielten die Bolschewiki etwa
20 Prozent aller Stimmen. Bei den Wahlen zur Petrograder Stadtduma am
20. August (2. September) 1917 erhöhte sich die Anzahl der auf die Bolsche-
wiki entfallenden Stimmen auf 33 Prozent. 305
81 „ Spartak " (Spartakus) - Zeitschrift des Moskauer Gebietsbüros, des Moskauer
Stadtkomitees und (ab Nr. 2) des Moskauer Bezirkskomitees der SDAPR(B).
Erschien vom 20. Mai (2. Juni) bis zum 29. Oktober (11. November) 1917.
309
82 Lenin meint einen am 25. August (7. September) 1917 von der Soldatensektion
des Petrograder Sowjets zur Frage der Neuwahlen für den Sowjet gefaßten
Beschluß. Die Sektion sprach sich dafür aus, den Soldaten das Recht einzu-
räumen, von jeder Kompanie und von jedem Kommando Deputierte in den
Sowjet zu wählen, während bei den Arbeitern ein Deputierter auf tausend
Wähler kam. Der Beschluß der Soldatensektion verletzte das Prinzip des glei-
chen Wahlrechts und gab den Soldaten die Möglichkeit, im Sowjet durch eine
größere Anzahl Deputierter vertreten zu sein als die Arbeiter. 312
83 Siehe Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 18, S. 528-535. 313
84 Siehe Karl Marx/Friedrich Engels. Werke, Bd. 22, S. 440. 313
85 Nach der Niederschlagung des Komilowputsches, als die Frage nadi einer
Neubildung der Provisorischen Regierung aufgeworfen wurde, faßten die
Menschewiki und Sozialrevolutionäre den Beschluß, sich nicht gemeinsam mit
den Kadetten an einer Regierung zu beteiligen. Die Regierungskrise wurde
gelöst durch die Bildung eines Direktoriums aus 5 Personen (Kerenski, Teresch-
tschenko, Werchowski, Werderewski, Nikitin). Obwohl dem Direktorium kein
offizieller Vertreter der Kadetten angehörte, wurde es dennoch auf Grund der
mit ihnen hinter den Kulissen getrofFenen Vereinbarungen gebildet. Die Men-
schewiki und Sozialrevolutionäre beschlossen in der Sitzung des Gesamtrus-
sischen ZEK am 2. (15.) September 1917, das Direktorium zu unterstützen,
und halfen damit den Gutsbesitzern und Kapitalisten, an der Macht zu bleiben.
319
86 Den „ Entwurf einer Resolution zur gegenwärtigen politischen Lage ‘ beabsich-
tigte Lenin in der Sitzung des Plenums des Zentralkomitees der bolschewisti-
schen Partei einzubringen, das durch Beschluß des ZK auf den 3. (16.) Sep-
tember 1917 anberaumt worden war. Am festgesetzten Tag fand jedoch eine
Sitzung des ZK in engerem Rahmen statt, in der dieser Entwurf nicht erörtert
wurde. In den erhalten gebliebenen und veröffentlichten Protokollen des ZK
der SDAPRCB) aus diesem Zeitraum sind keine Hinweise enthalten, daß dieser
Entwurf vom Plenum des Zentralkomitees erörtert worden ist. 320
87 Die „ Gesamtrussische Demokratische Beratung“ wurde von dem mensche-
wistisch-sozialrevolutionären Zentralexekutivkomitee der Sowjets einberufen,
um dem wachsenden revolutionären Aufschwung entgegenzuwirken. Sie fand
vom 14. bis 22. September (27. September bis 5. Oktober) 1917 in Petrograd
statt.
Die Führer der Menschewiki und Sozialrevolutionäre taten alles, um den
kleinbürgerlichen und bürgerlichen Parteien und Organisationen die überwie-
gende Mehrheit zu sichern.
Die Bolschewiki beteiligten sich an der Demokratischen Beratung, um sie
als Tribüne zur Entlarvung der Menschewiki und Sozialrevolutionäre auszu-
Die Demokratische Beratung beschloß die Schaffung eines Vorparlaments
(Provisorischer Rat der Republik). Damit sollte der Anschein erweckt werden,
daß in Rußland eine parlamentarische Ordnung eingeführt worden sei. Die
Bolschewiki beschlossen zunächst, sich an dem Vorparlament zu beteiligen.
Lenin kritisierte diese falsche Taktik aufs entschiedenste. Er forderte, daß die
Bolschewiki das Vorparlament verlassen, und betonte die Notwendigkeit 3er
Konzentration aller Kräfte auf die Vorbereitung des bewaffneten Aufstands.
Auf Beschluß des ZK verließen die Bolschewiki das Vorparlament am Tage
seiner Eröffnung. 335
88 „Smobodnaja Shisn ' (Freies Leben) - Zeitung menschewistischer Richtung;
erschien in Petrograd vom 2. (15.) bis zum 8. (21.) September 1917 an Stelle
der vorübergehend verbotenen „Nowaja Shisn“. 361
89 Gemeint ist der Übergang der Sowjets in die Hände der Bolschewiki: des
Petrograder Sowjets am 31. August (13. September) und des Moskauer So-
wjets am 5. (18.) September 1917- 376
90 „ Russkoje Storno' (Das russische Wort) - bürgerlich-liberale Tageszeitung: er-
schien in Moskau ab 1895. Sie wurde im November 1917 verboten. 389
91 Die Schrift „ Staat und Revolution" verfaßte Lenin im August-September 1917
in der Illegalität. Den Gedanken, daß es notwendig sei, die Frage des Staates
theoretisch auszuarbeiten, hatte Lenin in der zweiten Hälfte des Jahres 1916
geäußert. Damals schrieb er die Notiz »Jugend-Internationale“ (siehe Werke,
Bd. 23, S. 163-167), in der er die antimarxistische Position Bucharins in der
Frage des Staates kritisierte und versprach, einen ausführlichen Artikel über die
Frage Marxismus und Staat zu schreiben. In einem Brief an A. M. Kollontai
vom 17. Februar 1917 (neuen Stils) teilte Lenin mit, daß er das Material über
die Frage Marxismus und Staat fast fertig vorbereitet habe. Dieses Material
hatte Lenin in kleiner, enger Schrift in einem Heft mit blauem Umschlag nie-
dergeschrieben, das von ihm „Marxismus und Staat“ betitelt wurde. Es ist eine
Sammlung von Zitaten aus Werken von Karl Marx und Friedrich Engels nebst
Auszügen aus Büchern von Kautsky, Pannekoek und Bernstein mit kritischen
Bemerkungen, Schlußfolgerungen und Verallgemeinerungen W. I. Lenins.
Nach dem ursprünglichen Plan sollte die Schrift „Staat und Revolution" aus
sieben Kapiteln bestehen, doch hat Lenin das letzte, VII. Kapitel, „Die Er-
fahrungen der russischen Revolutionen von 1905 und 1917“, nicht geschrieben.
Erhalten ist nur ein ausführlich ausgearbeiteter Plan dieses Kapitels (siehe
W. I. Lenin, „Marxismus und Staat“, Berlin 1970, S. 124/125). Zur Heraus-
gabe des Buches schrieb Lenin in einer Notiz an den Verleger, falls er sich „mit
der Beendigung des VII. Kapitels zu sehr verspäten oder es übermäßig an-
schwellen sollte, müßte man die ersten sechs Kapitel gesondert, als ersten Teil
erscheinen lassen . . .“
Anmerkungen
533
Auf der ersten Seite des Manuskripts wird der Autor mit dem Pseudonym
„F. F. Iwanowski“ bezeichnet. Unter diesem Pseudonym wollte Lenin sein
Buch erscheinen lassen, da es andernfalls die Provisorische Regierung be-
schlagnahmt hätte. Das Buch wurde jedoch erst 1918 herausgegeben, und die
Notwendigkeit des Pseudonyms entfiel. Die zweite Auflage des Buches er-
schien 1919 mit dem von Lenin in das zweite Kapitel eingefügten neuen
Unterabschnitt „Marx" Fragestellung im Jahre 1852“. 393
92 Fabier - Mitglieder der „Gesellschaft der Fabier“, einer reformistischen Orga-
nisation, die 1884 in England gegründet wurde. Die Gesellschaft nannte sich
nach dem römischen Feldherm Fabius Cunctator („der Zauderer“), bekannt
durch seine abwartende Taktik und sein Ausweichen vor Entscheidungsschlach-
ten. Die Mitglieder der Gesellschaft der Fabier waren vorwiegend Vertreter
der bürgerlichen Intelligenz: Wissenschaftler, Schriftsteller, Politiker. Sie leug-
neten die Notwendigkeit des proletarischen Klassenkampfes und der sozia-
listischen Revolution und predigten den friedlichen Übergang vom Kapitalis-
mus zum Sozialismus mittels kleiner Reformen. Im imperialistischen Weltkrieg
1914-1918 waren die Fabier Sozialchauvinisten. Eine Charakteristik der
Fabier findet sich in Lenins Vorwort zur russischen Übersetzung des Buches
„Briefe und Auszüge aus Briefen von Joh. Phil. Bedcer, Jos. Dietzgen, Fried-
rich Engels. Karl Marx u. A. an F.A. Sorge und Andere" (Werke, Bd. 12,
S. 368/369), im „Agrarprogramm der Sozialdemokratie in der russischen
Revolution“ (Werke. Bd. 15, S. 170/171), in „Der englische Pazifismus
und die englische Abneigung gegen die Theorie“ (Werke, Bd. 21, S. 258/259)
u. a. 395
93 Siehe Friedrich Engels. „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und
des Staats“, in Karl Manc/Friedrich Engels. Werke, Bd. 21, S. 165.
Weiter unten, auf S. 400-406 dieses Bandes, zitiert W. I. Lenin dieselbe
Schrift von Friedrich Engels. (Ebenda, S. 165-168.) 398
94 Siehe Friedrich Engels, „Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft
CAnti-Dühring')“, in Karl Manc/Friedrich Engels, Werke, Bd. 20, S. 261/262.
Weiter unten, auf S. 411 dieses Bandes, zitiert W. I. Lenin dieselbe Schrift
von Friedrich Engels.^ (Ebenda, S. 171.) 408
95 Siehe Karl Marx, „Das Elend der Philosophie", in Karl Marx/Friedrich Engels,
Werke, Bd. 4. S. 63-182. 412
96 Siehe Karl Marx/Friedrich Engels, Werke. Bd. 4, S. 493. 412
534
Anmerkungen
97 Siehe Karl Marx, „Kritik des Gothaer Programms", in Karl Marx/Friedrich
Engels. Werke, Bd. 1 9, S. 1 1 -32. 521 /522.
Das Gothaer Programm - Programm der Sozialistischen Arbeiterpartei
Deutschlands, angenommen auf dem Parteitag in Gotha im Jahre 1875, auf
dem sich die Eisenacher (geführt von August Bebel und Wilhelm Liebknecht,
unter dem geistigen Einfluß von Marx und Engels stehend) und dieLassalleaner
vereinigten. Die Vereinigung beendete den jahrelangen Bruderkampf in der
deutschen Arbeiterbewegung. Das auf dem Kongreß in Gotha angenommene
Parteiprogramm entsprach jedoch nicht der Bedeutung der Vereinigung. Es
enthielt zwar wichtige politische und soziale Forderungen, war jedoch ins-
gesamt durchdrungen vom opportunistischen Gedankengut des Lassalleanis-
mus. Karl Marx in seiner „Kritik des Gothaer Programms“ und Friedrich
Engels im Brief an August Bebel vom 18.-28. März 1875 unterzogen den
Entwurf des Gothaer Programms einer vernichtenden Kritik und bezeichneten
ihn als entschiedenen Rüdeschritt gegenüber dem Eisenacher Programm von
1869. 412
98 Siehe Karl Marx, „Das Elend der Philosophie“, in Karl Marx/Friedrich Engels,
Werke, Bd. 4, S.. 182. 413
99 Siehe Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 4. S. 473 und 481. 414
100 Siehe Karl Marx, „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“, in Karl
Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 8, S. 196/197.
Weiter unten, auf S. 422 dieses Bandes, zitiert W. I. Lenin die Vorrede von
Friedrich Engels zur dritten Auflage dieser Schrift. (Ebenda. S. 561/562.) 418
101 „Die Neue Zeit" - theoretische Zeitschrift der Sozialdemokratischen Partei
Deutschlands, die von 1883 bis 1923 in Stuttgart erschien. In der „Neuen
Zeit“ wurden erstmalig einige Arbeiten von Marx und Engels veröffentlicht.
Engels half der Redaktion der Zeitschrift ständig und übte oft Kritik daran,
daß sie Abweichungen vom Marxismus in der Zeitschrift zuließ. An der
„Neuen Zeit“ arbeiteten hervorragende Führer der deutschen und internatio-
nalen Arbeiterbewegung mit. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts eine mar-
xistische Zeitschrift, ging „Die Neue Zeit“ mehr und mehr auf zentristische
Positionen über. Während des imperialistischen Weltkriegs 1914-1918 bezog
sie einen sozialpazifistischen Standpunkt und unterstützte faktisch die Sozial-
chauvinisten. 423
102 Siehe Karl Marx/Friedrich Engels, Werke. Bd. 28. S. 507/508. 424
Anmerkungen
535
103 Siehe.' Karl Marx/Friedrich Engels, Werke. Bd. 18. S. 96. 427
104 Siehe Karl Marx/Friedridi Engels. Werke. Bd. 33, S. 205. 428
105 Siehe Karl Marx, „Der Bürgerkrieg in Frankreich“, in Karl Marx/Friedrich
Engels. Werke. Bd. 17, S. 336-339.
Weiter unten, auf S. 434. 434/435, 440/441 und 443-445 dieses Bandes,
zitiert W. I. Lenin dieselbe Schrift von Karl Marx. (Ebenda, S. 341, 339-342.)
432
106 Siehe Friedrich Engels. „Zur Wohnungsfrage“, in Karl Marx/Friedridi Engels,
Werke, Bd. 18. S. 226/227.
Weiter unten, auf S. 447 und 448 dieses Bandes, zitiert W. I. Lenin dieselbe
Schrift von Friedrich Engels. (Ebenda. S. 282, 266.) 447
107 W. I. Lenin meint die Artikel von Karl Marx „Der politische Indifferentismus“
und von Friedrich Engels „Von der Autorität“, die im Dezember 1873 in dem
italienischen Sammelband „Almanacco Republicano per l’anno 1874“ ver-
öffentlicht wurden. Diese Artikel erschienen in einer von D. B. Rjasanow
(D. B. Goldendach) angefertigten deutschen Übersetzung in der „Neuen Zeit“,
32. Jahrgang, 1913/1914, Bd. 1, Nr. 2. (Siehe Karl Marx/Friedridi Engels,
Werke, Bd. 18. S. 299-304 und 305-308.)
Weiter unten, auf S. 449-451 dieses Bandes, zitiert W. I. Lenin dieselben
Schriften. (Ebenda.) 449
108 Siehe Karl Marx/Friedridi Engels. Werke, Bd. 19. S. 6/7. 453
109 Das Erfurter Programm der deutschen Sozialdemokratie wurde auf dem Erfur-
ter Parteitag im Oktober 1891 an Stelle des Gothaer Programms von 1875
angenommen. Das Erfurter Programm dokumentierte, daß sich der Marxismus
in der deutschen Arbeiterbewegung durchgesetzt hatte. Es enthielt jedoch
andererseits auch Mängel, die es später den Revisionisten erleichterten, in der
Epoche des Imperialismus das Erfurter Programm für die Verbreitung ihrer
opportunistischen Ideen zu mißbrauchen. Engels kritisierte den Entwurf des
Erfurter Programms in seiner Schrift „Zur Kritik des sozialdemokratischen
Programmentwurfs 1891“. (Siehe Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 22,
S. 225-240.)
Weiter unten, auf S. 463-467 dieses Bandes, zitiert W. I. Lenin dieselbe
Schrift von Friedrich Engels. (Ebenda. S. 232-237.) 455
110 Gemeint ist die Einleitung von Friedrich Engels zur Schrift von Marx „Der
Bürgerkrieg in Frankreich". (Siehe Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 17,
S. 613-625.)
Weiter unten, auf S. 463-467 dieses Bandes, zitiert W. I. Lenin dieselbe
Schrift von Friedrich Engels. (Ebenda, S. 616, 620. 623-625.) 462
111 Siehe Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 22, S. 417/418. 468
m Siehe Karl Marx. „Kritik des Gothaer Programms“, in Karl Marx/Friedrich
Engels, Werke, Bd. 19. S. 28.
Weiter unten, auf S. 473, 479-482 dieses Bandes, zitiert W. I. Lenin die-
selbe Schrift von Karl Marx. ‘(Ebenda, S. 28, 20/21.) 472
113 Der Haager Kongreß der I. Internationale fand vom 2. bis 7. September 1872
in Anwesenheit von Marx und Engels statt. ,An dem Kongreß nahmen 65 De-
legierte teil. Auf der Tagesordnung standen folgende Punkte: 1. die Befugnisse
des Generalrats: 2. die politische Tätigkeit des Proletariats u. a. Der Kongreß
verlief unter heftigen Auseinandersetzungen mit den Bakunisten. Es wurde ein
Beschluß über die Erweiterung der Befugnisse des Generalrats angenommen.
Zu dem Punkt „Die politische Tätigkeit des Proletariats“ wird im Beschluß des
Kongresses, gesagt, das Proletariat müsse sich, um den Sieg der sozialen Revo-
lution zu sichern, seine eigene politische Partei schaffen und die große Aufgabe
meistern, die politische Macht zu erobern. Auf diesem Kongreß wurden Baku-
nin und Guillaume wegen Desorganisation und Gründung einer neuen, anti-
proletarischen Partei aus der Internationale ausgeschlossen. 491
114 „ Sarja " (Die Morgenröte) - marxistische wissenschaftlich-politische Zeitschrift,
die von der Redaktion der Zeitung „Iskra“ in den Jahren 1901 und 1902 legal
in Stuttgart herausgegeben wurde. Es erschienen vier Nummern (drei Hefte).
In der „Sarja“ wurden folgende Arbeiten Lenins veröffentlicht: „Zuf ällig e
Notizen“, „Die Verfolger des Semstwos und die Hannibale des Liberalismus",
die ersten vier Kapitel des Werkes „Die Agrarfrage und die .Marxkritiker' “
(unter dem Titel „Die Herren .Kritiker' in der Agrarfrage“), „Innerpolitische
Rundschau" und „Das Agrarprogramm der russischen Sozialdemokratie“. 492
115 Gemeint ist der Fünfte Internationale Sozialistenkongreß der II. Internationale,
der vom 23. bis 27. September 1900 in Paris stattfand. Zu der Hauptfrage
„Eroberung der staatlichen Macht und Bündnisse mit bürgerlichen Parteien",
nahm der Kongreß mit Stimmenmehrheit eine von Karl Kautsky eingebrachte
Resolution an. In der Resolution hieß es, daß „der Eintritt eines einzelnen
Sozialisten in ein bürgerliches Ministerium nicht als der normale Beginn der
Eroberung der politischen Macht zu betrachten ist. sondern stets nur ein vor-
übergehender und ausnahmsweiser Notbehelf in einer Zwangslage sein kann".
Anmerkungen
537
Die Zeitschrift „Sarja" Nr. 1 vom April 1901 veröffentlichte G. W. Plecha-
nows Artikel „Einige Worte über den letzten Internationalen Sozialisten-
kongreß in Paris (Offener Brief an die Genossen, die mir ihre Vollmacht er-
teilt haben)“, in dem Kautskys Resolution heftig kritisiert wurde. 492
110 „Sozialistische Monatshefte" - Zeitschrift, erschien von 1897 bis 1933 in Ber-
lin. Wurde zum wichtigsten Organ des deutschen und internationalen Revi-
sionismus. In den Jahren des imperialistischen Weltkriegs 1914-1918 vertrat
sie einen sozialchauvinistisdien Standpunkt. 505
117 Die Unabhängige Arbeiterpartei Englands (Independent Labour Party) wurde
1893 gegründet. An der Spitze der Partei standen James Keir Hardie, R. Mac-
Donald und andere. Sie erhob Anspruch auf politische Unabhängigkeit von
den bürgerlichen Parteien, war jedoch in Wirklichkeit, wie Lenin sich aus-
drückte, „ .unabhängig“ nur vom Sozialismus, aber vom Liberalismus sehr ab-
hängig“. Während des imperialistischen Weltkriegs 1914-1918 trat die Un-
abhängige Arbeiterpartei zunächst mit einem Manifest gegen den Krieg hervor
(13. August 1914), später hingegen, in der Londoner Konferenz der Sozialisten
der Ententeländer im Februar 1915, stimmten die Unabhängigen der in dieser
Konferenz angenommenen sozialchauvinistischen Resolution zu. Seitdem stan-
den die sich mit pazifistischen Phrasen tarnenden Führer der Unabhängigen
auf den Positionen des Sozialchauvinismus. Nach der Gründung der Kommu-
nistischen Internationale im Jahre 1919 beschlossen die Führer der Unab-
hängigen Arbeiterpartei unter dem Drude der nach links geschwenkten Massen
der Parteimitglieder den Austritt aus der II. Internationale. 1921 traten die
Unabhängigen der sogenannten zweieinhalbten Internationale bei und schlos-
sen sich nach deren Zerfall von neuem der II. Internationale an. 506
DATEN AUS DEM LEBEN UND WIRKEN
W.I. LENINS
(Juni bis September 1917)
541
3. -24. Juni
(16. Jtmi-7.
4. (17.) Juni
6. (19.) Juni
7. (20.) Juni
8. (21.) Juni
9. (22.) Juni
1917
Lenin nimmt an den Arbeiten des I. Gesamtrussischen Kon-
gresses der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten teil.
Lenin spricht auf dem I. Gesamtrussischen Kongreß der So-
wjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten über die Stellung
zur Provisorischen Regierung.
In Nr. 73 der „Prawda“ werden Lenins Artikel »Die Zerrüt-
tung und der Kampf des Proletariats dagegen" und „Die tau-
sendunderste Lüge der Kapitalisten“ veröffentlicht.
In Nr. 74 der „Prawda“ werden Lenins Artikel „Die Erzreak-
tionäre vom 3. Juni sind für die sofortige Offensive“, »Ein
Bündnis, um die Revolution aufzuhalten“ und „Danksagung“
veröffentlicht.
Lenin nimmt an der erweiterten Sitzung des ZK der Partei teil
und unterbreitet den Vorschlag, am 10. (23.) Juni eine friedliche
Demonstration der Arbeiter und Soldaten in Petrograd unter
bolschewistischen Losungen zu organisieren.
In Nr. 75 der „Prawda“ werden Lenins Artikel „Gibt es einen
Weg zu einem gerechten Frieden?“, „Ober die Volksfeinde“ und
„Notiz“ veröffentlicht.
In Nr. 76 der „Prawda“ erscheinen Lenins Artikel „ .Das große
Abschwenken' “, »Von der Nützlichkeit einer sachlichen Pole-
mik“, „Eine Seuche der Vertrauensseligkeit" und „Eine Taube
auf dem Dach oder ein Sperling in der Hand“.
In Nr. 77 der „Prawda“ wird Lenins Artikel „Den Sozialismus
einführen oder aufdecken, wie die Staatskasse geplündert
wird?“ veröffentlicht.
Lenin. Werke. Bd. 25
542
Daten aus dem Leben und Wirken W. I. Lenins
In der Nackt \
9. zum 10. (vom
22.zum23.)Juni
11. (24.) Juni
13. (26.) Juni
14. (27.) Juni
15. (28.) Juni
16. (29.) Juni
16. -23. Juni
(29. Juni bis
6. Juli)
17. (30.) Juni
Lenin spricht auf dem I. Gesamtrussischen Kongreß der Sowjets
der Arbeiter- und Soldatendeputierten über den Krieg.
W. I. Lenin nimmt an der Sitzung der bolschewistischen Frak-
tion des I. Gesamtrussischen Sowjetkongresses und danach an
der Sitzung des ZK der SDAPR(B) teÜ. Auf Vorschlag W. I.
Lenins beschließt das ZK. die auf den 10. (23.) Juni festgelegte
Demonstration abzusagen.
Spät in der Nacht bereitet W. I. Lenin Materialien für die
„Prawda" sowie Direktiven des ZK in Verbindung mit dessen
Beschluß über die Absage der Demonstration vor.
In Nr. 79 der „Prawda“ erscheinen Lenins Artikel „In Verwir-
rung und Angst geraten", „Anspielungen“, „.Beunruhigende
Gerüchte' " und „Eine Preisfrage“.
Lenin schreibt den „Entwurf einer Erklärung des ZK der
SDAPR(B) und des Büros der Fraktion der Bolschewiki an den
Gesamtrussischen Sowjetkongreß anläßlich des Verbots der
Demonstration".
Lenin spricht in der Sitzung des Petersburger Komitees der
SDAPR(B) anläßlich der Absage der Demonstration.
In Nr. 80 der „Prawda“ werden Lenins Artikel „An einem
Wendepunkt" und „Brief an die Redaktion" veröffentlicht.
In Nr. 81 der „Prawda" erscheinen Lenins Artikel „Die Außen-
politik der russischen Revolution“ und „Eine widerspruchsvolle
Position“.
Der Artikel Lenins „Die Ukraine“ erscheint in Nr. 82 der
„Prawda".
In Nr. 83 der „Prawda" wird Lenins Artikel „Woher kamen
und .kommen', klassenmäßig gesehen, die Cavaignac?“ ver-
öffentlicht.
Lenin nimmt führend teil an den Arbeiten der Gesamtrussischen
Konferenz der Militärorganisationen der SDAPR(B) der Front
und des Hinterlands: er wird in das Präsidium gewählt.
Lenin schreibt einen Brief an das Auslandsbüro des ZK der
SDAPR(B) in Stockholm.
In Nr. 84 der „Prawda" erscheinen Lenins Artikel „Wie der
Kampf gegen die Konterrevolution geführt werden muß", „Die
18. Juni (1. Juli)
20. Juni (3. Juli)
Zwischen dem
20. und 23. Juni
(3. und 6. Juli)
21. Juni ( 4. Juli)
22. Juni (5. Juli)
24. Juni (7. Juli )
25. Juni (8. Juli)
Daten aus dem Leben und Wirken W. I. Lenins 543
Ukraine und die Niederlage der Regierungsparteien Rußlands“,
„Auf die Anklagebank mit Rodsjanko und Dshunkowski, sie
haben einen Spitzel gedeckt!" und „Eine merkwürdige Entstel-
lung von Zitaten“.
Lenin führt eine Beratung des ZK der SDAPR(B) im engeren
Rahmen zu den Ergebnissen der Demonstration vom 18. Juni
(1. Juli) durch.
In Nr. 85 der „Prawda“ erscheinen Lenins Artikel „Herrschende
und verantwortliche Parteien" und „Noch eine Kommission".
In Nr. 86 der „Prawda“ wird Lenins Artikel „Der achtzehnte
Juni“ veröffentlicht.
Lenin spricht auf der Gesamtrussischen Konferenz der Militär-
oiganisationen der SDAPR(B) der Front und des Hinterlands
über die gegenwärtige Lage.
Lenin wird vom I. Gesamtrussischen Sowjetkongreß zum Mit-
glied des Zentralexekutivkomitees gewählt.
Lenin spricht auf der Gesamtrussischen Konferenz der Militär-
oiganisationen der SDAPR(B) der Front und des Hinterlands
über die Agrarfrage.
In Nr. 87 der „Prawda" erscheinen Lenins Artikel „Die Revolu-
tion, die Offensive und unsere Partei", „Wodurch unterscheidet
ihr euch denn von Plechanow, ihr Herren Sozialrevolutionäre
und Menschewiki?“ und „Wie sich Rodsjanko rechtfertigt".
In Nr. 88 der „Prawda“ wird Lenins Artikel „Wohin haben die
Sozialrevolutionäre und die Menschewiki die Revolution ge-
bracht?“ veröffentlicht.
In Nr. 90 der „Prawda“ erscheinen Lenins Artikel „Kann man
die Arbeiterklasse mit dem Jakobinertum' schrecken?“ und
„Von der Notwendigkeit, einen Verband der Landarbeiter Ruß-
lands zu gründen“ (Erster Artikel).
In Nr. 91 der „Prawda" werden die Artikel Lenins „Von der
Notwendigkeit, einen Verband der Landarbeiter Rußlands zu
gründen“ (Zweiter Artikel) und „Eine verworrene Revolution“
veröffentlicht.
544
Daten aus dem Leben und Wirken W. I. Lenins
27. Juni In Nr. 92 der „Prawda“ werden die Artikel Lenins „Die Klas-
(10. Juli) senversdiiebung“ und „Wunder an revolutionärer Tatkraft“
veröffentlicht.
29. Juni In Nr. 94 der „Prawda“ werden Lenins Artikel „Phrasen und
(12. Juli) Tatsachen“ und „Wie die Herren Kapitalisten ihre Gewinne
verschleiern (Zur Frage der Kontrolle)“ veröffentlicht.
29. Juni-4. Juli Lenin verbringt krankheitshalber einige Tage im Dorf Neiwola
(12.-17. Juli) in der Nähe der Bahnstation Mustamjaki (Finnland).
30. Juni In Nr. 95 der „Prawda“ werden Lenins Artikel „Die Krise rückt
(13. Juli) näher - die Zerrüttung greift um sich" und „Wie soll man es
tun?“ veröffentlicht.
1.(14.) Juli In Nr. 96 der „Prawda“ erscheinen Lenins Artikel „Wie und
warum hat man die Bauern betrogen?" und „Wer trägt die
Verantwortung?“
3. (16.) Juli Lenin schreibt den Artikel „Worauf mögen die Kadetten bei
ihrem Austritt aus der Regierung gerechnet haben?"
Spätestens Lenin schreibt den Artikel „Alle Macht den Sowjets!“. Der Ar-
4. (17.) Juli tikel wird in Nr. 99 der „Prawda“ vom 18. (5.) Juli veröffent-
licht.
4. (17.) Juli Lenin spricht vom Balkon des Palais der Krzesinska zu den
Demonstranten.
ln der Nadit vom Lenin nimmt an der Sitzung des ZK und des PK der SDAPR(B)
4. zum 5. (vom teil, die den Aufruf zum Abbruch der Julidemonstration be-
17. zum 18.) Juli schließt.
5. (18.) Juli Lenin übersiedelt in ein illegales Quartier.
Er schreibt die Artikel: „Wo ist die Macht und wo die Konter-
revolution?", „Die niederträchtigen Lügen der Schwarzhunder-
terpresse und Alexinskis“, „Verleumdungen und Tatsachen“,
„Dem Wesen der Dinge nahe“ und „Eine neue Dreyfus-Af-
färe?". Diese Artikel werden im „Listok .Prawdy' “ Vom 19. (6.)
Juli veröffentlicht.
6. (19.) Jidi Lenin führt aus Anlaß der Juliereignisse eine Beratung des ZK
der SDAPRCB) in engerem Rahmen durch.
Lenin nimmt an einer Beratung des Vollzugsausschusses des
Petersburger Komitees der SDAPR(B) teil, die im Wächter-
häuschen der Fabrik Renault (heute der staatliche Leningrader
Betrieb „Roter Oktober") stattfindet.
6.17.(19.120.)
Mi
7.-9. (20.-22.)
Mi
7. (20.) Mi
8. (21.) Mi
Inder Nacht vom
9. zum 10. (vom
22. zum 23.) Mi
10. (23.) Mi
11. (24.) Mi
15. (28.) Mi
Mitte Mi
19. Mi
(1. August)
26. Mi
(8. August)
Daten aus dem Leben und Wirken W. I. Lenins 545
Lenin schreibt den „Aufruf des Vollzugsausschusses des Peters-
burger Komitees der SDAPRCB)“.
Lenin schreibt den Artikel „Eine Dreyfusiade“.
Lenin verbirgt sich in der Wohnung des Arbeiters S. J. Allilu-
jew.
Die Provisorische Regierung erläßt einen Haftbefehl gegen
Lenin.
Lenin schreibt die Artikel „Zur Widerlegung dunkler Gerüchte“
und „Drei Krisen".
Lenin schreibt einen Brief an das Büro des Zentralexekutiv-
komitees des Gesamtrussischen Sowjets der Arbeiter- und Sol-
datendeputierten. in dem er gegen die bei ihm durchgeführte
Haussuchung protestiert.
Lenin schreibt den Artikel „Sollen sich die Führer der Bolsche-
wiki dem Gericht stellen?".
W. I. Lenin fährt in eine Siedlung in der Nähe der Bahnstation
Rasliw. Einige Tage später verbirgt er sich in einer Hütte am
See Rasliw.
Lenin schreibt die Thesen „Die politische Lage". Sie werden als
Artikel in Nr. 6 des „Proletarskoje Delo“ vom 2. August (20.
Juli) veröffentlicht.
Lenins Brief an die Redaktion der „Nowaja Shisn“ wird in
Nr. 71 der „Nowaja Shisn" veröffentlicht.
In Nr. 2 des „Proletarskoje Delo" erscheinen Lenins Artikel
„Worauf mögen die Kadetten bei ihrem Austritt aus der Re-
gierung gerechnet haben?“ und „Brief an die Redaktion des
.Proletarskoje Delo' ".
Lenin schreibt den Artikel „Zu den Losungen“. Der Artikel wird
1917 als Broschüre vom Kronstädter Komitee der SDAPR(B)
herausgegeben.
In Nr. 5 des „Proletarskoje Delo" erscheint Lenins Artikel „Wo-
für wir dem Fürsten G. J. Lwow dankbar sind“.
Lenins Artikel „Drei Krisen“ erscheint in Nr. 7 der Zeitschrift
„Rabotniza“.
Lenin schreibt den Artikel „Über Verfassungsillusionen“.
546
Daten aus dem Leben und Wirken W. I. Lenins
26. und 27. Juli
(8. und9. August)
26. Juli bis
3. August (8. bis
16. August)
29. Juli
(11. August)
Ende Juli
3. (16.) August
4. und 5. (17.
und 18.) August
In der Nacht vom
8. zum 9. (vom
21. zum 22.)
August
9. {22.) August
10. August- 17.
September (23.
August-30.
September)
16. (29.) August
17. -25. August
(30. August bis
7. September)
18. /19. August
(31. August/
1. September)
19. August
(1. September)
In Nr. 3 und 4 des „Rabotschi i Soldat“ erscheint Lenins Artikel
„Eine Antwort“.
Lenin leitet aus der Illegalität den VI. Parteitag der SDAPR(B).
Der Parteitag wählt Lenin zum Ehrenvorsitzenden und schickt
ihm ein Begrüßungssdireiben.
Lenin wird vom VI. Parteitag der SDAPR(B) ins ZK gewählt.
In Nr. 6 des „Rabotschi i Soldat“ erscheint Lenins Artikel „Der
Beginn des Bonapartismus“.
Lenin schreibt den Artikel „Die Lehren der Revolution“. Der
Artikel erscheint in Nr. 8 und 9 des „Rabotschi“ vom 12. und
13. September (30. und 31. August).
Lenin wird vom VI. Parteitag als Kandidat für die Konstituie-
rende Versammlung aufgestellt.
In Nr. 11 und 12 des „Rabotschi i Soldat“ wird Lenins Artikel
„Über Verfassungsillusionen“ veröffentlicht.
Lenin verläßt Rasliw und begibt sieh zur Station Udelnaja.
Lenin fährt abends von Udelnaja illegal als Heizer auf einer
Lokomotive über die finnische Grenze.
Lenin verbirgt sich in Finnland im Dorf Jalkala in der Nähe
der Station Terijoki. dann wohnt er in der Stadt Lahti, 130 km
von Helsingfors, und später in Helsingfors.
Der Brief Lenins „Zum Auftreten Kamenews im Zentralexeku-
tivkomitee in der Frage der Stockholmer Konferenz“ wird in
Nr. 3 des „Proletari" veröffentlicht.
Lenin schreibt einen Brief an das Auslandsbüro des ZK der
SDAPR(B).
Lenin schreibt den Artikel „Gerüchte von einer Verschwörung“.
In Nr. 6 des „Proletari“ wird Lenins Artikel „Sie sehen den
Wald vor lauter Bäumen nicht" veröffentlicht.
Daten aus dem Leben und Wirken W. I. Lenins
547
24. August
(6. September)
26. August
<8. September)
29. August
(11. September)
30. August
(12. September)
August bis
September
1. (14.) Septem-
ber
1.-3. (14.-16.)
September
Spätestens 3.
(16.) September
6. (19.) Septem-
ber
10. -14. (23.-27.)
September
11. (24.) Septem -
14. (27.) Septem-
15. (28.) Septem-
In Nr. 10 des „Proletari“ wird Lenins Artikel „Politische Er-
pressung“ veröffentlicht.
In Nr. 2 des „Rabotsdii“ erscheinen Lenins Artikel „Papierne
Resolutionen“ und „Ober die Stockholmer Konferenz“.
In Nr. 6 des „Rabotsdii“ erscheint Lenins Artikel „Aus dem
Tagebuch eines Publizisten. Bauern und Arbeiter“.
In Nr. 8 des „Rabotsdii“ wird Lenins Artikel „Die Verleumder“
veröffentlicht.
Lenin schreibt einen Brief „An das Zentralkomitee der SDAPR“.
Lenin schreibt die Schrift „Staat und Revolution. Die Lehre des
Marxismus vom Staat und die Aufgaben des Proletariats in der
Revolution".
Lenins Artikel „Aus dem Tagebuch eines Publizisten. Die Wur-
zel des Obels. Frondienst und Sozialismus“ erscheint in Nr. 10
des „Rabotsdii“.
Lenin schreibt den Artikel „Ober Kompromisse“, der in Nr. 3
des „Rabotsdii Put" vom-19. (6.) September veröffentlicht wird.
Lenin schreibt die Briefe „Zur Frage des Parteiprogramms“,
„Zur Zimmerwalder Frage“ und „Verletzung der Demokratie
in den Massenorganisationen“.
Lenin schreibt den „Entwurf einer Resolution zur gegenwärtigen
politischen Lage“.
Lenin wird in einer Sitzung des ZK der SDAPR® als Delegier-
ter für die Demokratische Beratung benannt.
Lenin schreibt die Broschüre „Die drohende Katastrophe und
wie man sie bekämpfen soll".
Lenin wird vom Petrograder Sowjet der Arbeiter- und Soldaten-
deputierten als Delegierter für die Demokratische Beratung ge-
wählt.
In Nr. 10 des „Rabotsdii Put“ erscheint Lenins Artikel „Eine der
Kernfragen der Revolution".
In Nr. 11 des „Rabotsdii Put" erscheint Lenins Artikel „Wie
wird der Konstituierenden Versammlung der Erfolg gesichert?
(Über die Pressefreiheit)".
549
INHALTSVERZEICHNIS
Vorwort VII- VIII
Juni-September 1917
I. Gesamtrussischer Kongreß der Sowjets der Arbeiter- und Soldaten-
deputierten, 3.-24. Juni (16. Juni-7. Juli) 1917 .. 1-30
1. Rede über die Stellung zur Provisorischen Regierung, 4. (17.)
Juni . . 3
2. Rede über den Krieg. 9. (22.) Juni . . . . 16
Die Zerrüttung und der Kampf des Proletariats dagegen .. .. .. 31-33
Die tausendunderste Lüge der Kapitalisten 34-35
Die Erzreaktionäre vom 3. Juni sind für die sofortige Offensive . . . . 36-38
Ein Bündnis, um die Revolution aufzuhalten 39-41
Danksagung 42
Gibt es einen Weg zu einem gerechten Frieden? 43-44
Über die Volksfeinde 45-46
Notiz 47
„Das große Abschwenken“ 48-51
Von der Nützlichkeit einer sachlichen Polemik . . . . 52-53
Eine Seuche der Vertrauensseligkeit 54-55
Eine Taube auf dem Dach oder ein Sperling in der Hand 56
Den Sozialismus einführen oder aufdedcen. wie die Staatskasse ge-
plündert wird? . . .... 57-59
55 0 Inhaltsverzeichnis
In Verwirrung und Angst geraten 60-62
Anspielungen 63-64
«Beunruhigende Gerüchte“ 65
Eine Preisfrage 66
Entwurf einer Erklärung des ZK der SDAPR(B) und des Büros der
Fraktion der Bolsdiewiki an den Gesamtrussischen Sowjetkongreß
anläßlich des Verbots der Demonstration 67-68
Rede in der Sitzung des Petersburger Komitees der SDAPR(B) anläß-
lich der Absage der Demonstration, 11. (24.) Juni 1917 69-71
An einem Wendepunkt 72-73
Brief an die Redaktion 74
Die Außenpolitik der russischen Revolution . . . . 75-77
Eine widerspruchsvolle Position 78-80
Die Ukraine 81-82
Woher kamen und „kommen“ klassenmäßig gesehen, die Cavaignac? 83-86
Wie der Kampf gegen die Konterrevolution geführt werden muß . . 87-88
Die Ukraine und die Niederlage der Regierungsparteien Rußlands . . 89-92
Auf die Anklagebank mit Rodsjanko und Dshunkowski, sie haben einen
Spitzel gedeckt! 93
Eine merkwürdige Entstellung von Zitaten 94
Herrschende und verantwortliche Parteien 95-98
Noch eine Kommission 99-100
Der achtzehnte Juni 101-103
Die Revolution, die Offensive und unsere Partei 104-106
Wodurch unterscheidet ihr euch denn von Plechanow, ihr Herren So-
zialrevolutionäre und Menschewiki? 107
Wie sich Rodsjanko rechtfertigt 108
Wohin haben die Sozialrevolutionäre und die Menschewiki die Revolu-
tion gebracht? 109-111
man die Arbeiterklasse mit dem .Jakobinertum“ schrecken? . . 112-114
Kann
Inhalts Verzeichnis
551
Von der Notwendigkeit, einen Verband der Landarbeiter Rußlands zu
gründen 115-119
Erster Artikel 115
Zweiter Artikel 117
Eine verworrene Revolution 120-123
Die Klassenverschiebung 124-126
Wunder an revolutionärer Tatkraft . . 127-129
Phrasen und Tatsadien 130-132
Wie die Herren Kapitalisten ihre Gewinne verschleiern (Zur Frage der
Kontrolle) 133-134
Die Krise rückt näher - die Zerrüttung greift um sich 135-137
Wie soll man es tun? 138-140
Wie und warum hat man die Bauern betrogen? .. .. 141-144
Wer trägt die Verantwortung? 145-146
Worauf mögen die Kadetten bei ihrem Austritt aus der Regierung ge-
rechnet haben? 147-148
Alle Macht den Sowjets! 149-150
Wo ist die Macht und wo die Konterrevolution? 151-156
Die niederträchtigen Lügen der Schwarzhunderterpresse und Alexin-
skis 157
Verleumdungen und Tatsachen 158-159
Dem Wesen der Dinge nahe 160
Eine neue Dreyfus-Affäre? 161
Aufruf des Vollzugsausschusses des Petersburger Komitees der
SDAPR(B) 162
Eine Dreyfusiade 163-164
Zur Widerlegung dunkler Gerüchte 165
Drei Krisen 166-171
Sollen sich die Führer der Bolschewiki dem Gericht stellen? . . . . . . 172-173
Die politische Lage 174-176
552
Inhaltsverzeichnis
Brief an die Redaktion der „Nowaja Shisn“ . . 177-178
Brief an die Redaktion des „Proletarskoje Ddo“ 179-180
Zu den Losungen .. .. .. 181-189
Wofür wir dem Fürsten G. J. Lwow dankbar sind . . 190-192
Über Verfassungsillusionen 193-208
I 194
II 198
III 202
Eine Antwort 209-220
I .. 209
II ... 218
III 220
Der Beginn des Bonapartismus 221-225
Die Lehren der Revolution 227-244
I .. .. 229
II .. 232
III .. .. 232
IV 235
V 235
VI 237
VII .. 240
VIII .. .. 242
IX 243
Nachwort 244
Zum Auftreten Kamenews im Zentralexekutivkomitee in der Frage der
Stockholmer Konferenz 245-247
Gerüchte von einer Verschwörung . . 248-255
Sie sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht 256-262
Politische Erpressung ■ . ... • - 263-266
Papieme Resolutionen 267-270
Über die Stockholmer Konferenz •• 271-280
Inhaltsverzeichnis
553
Aus dem Tagebuch eines Publizisten. Bauern und Arbeiter 281-289
Die Verleumder . . . 290-291
An das Zentralkomitee der SDAPR , . . . 292-296
Aus dem Tagebuch eines Publizisten 297-308
1. Die Wurzel des Übels . . 297
2. Frondienst und Sozialismus 305
Zur Frage des Parteiprogramms 309-310
Zur Zimmerwalder Frage . . 311
Verletzung der Demokratie in den Massenorganisationen 312
Über Kompromisse . . . . 313-319
Entwurf einer Resolution zur gegenwärtigen politischen Lage . . . . 320-326
Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll . . . . 327-377
Der Hunger rückt heran 331
Die Regierung ist völlig untätig 333
Die Kontrollmaßnahmen sind allgemein bekannt und leicht durch-
führbar . . 336
Nationalisierung der Banken 338
Nationalisierung der Syndikate 344
Aufhebung des Geschäftsgeheimnisses . . 347
Die Zwangsvereinigung in Verbänden 352
-Regulierung des Verbrauchs 355
Die Regierung vereitelt die Arbeit der demokratischen Organisatio-
nen 359
Der finanzielle Zusammenbruch und die Maßnahmen dagegen . . 364
Kann man vorwärtsschreiten, wenn man Angst hat, zum Sozialismus
zu schreiten? . . . . 367
Der Kampf gegen die Zerrüttung und der Krieg 371
Die revolutionäre Demokratie und das revolutionäre Proletariat . . 375
Eine der Kernfragen der Revolution . . . .... 378-386
Wie wird der Konstituierenden Versammlung der Erfolg gesichert?
(Über die Pressefreiheit) 387-392
554 Inhaltsverzeichnis
Staat und Revolution. Die Lehre des Marxismus vom Staat und die
Aufgaben des Proletariats in der Revolution 393-507
Vorwort zur ersten Auflage 395
Vorwort zur zweiten Auflage 396
I. Kapitel. Klassengesellschaft und Staat 397
1. Der Staat - ein Produkt der Unversöhnlichkeit der Klassengegen-
sätze 397
2. Besondere Formationen bewaffneter Menschen, Gefängnisse u. a. 400
3. Der Staat - ein Werkzeug zur Ausbeutung der unterdrückten
Klasse 403
4. Das .Absterben“ des Staates und die gewaltsame Revolution . . 407
II. KapiteL Staat und Revolution. Die Erfahrungen der Jahre 1848 bis
1851 413
1. Der Vorabend der Revolution 413
2. Die Ergebnisse der Revolution 417
3. Marx’ Fragestellung im Jahre 1852 423
III. Kapitel. Staat und Revolution. Die Erfahrungen der Pariser Kom-
mune vom Jahre 1871. Die Analyse von Marx 426
1. Worin bestand der Heroismus des Versuchs der Kommunarden? 426
2. Wodurch ist die zerschlagene Staatsmaschinerie zu ersetzen? . . 430
3. Aufhebung des Parlamentarismus 434
4. Organisierung der Einheit der Nation 440
5. Vernichtung des Schmarotzers Staat 443
IV. Kapitel. Fortsetzung. Ergänzende Erläuterungen von Engels . . . . 446
1. .Zur Wohnungsfrage“ 446
2. Polemik gegen die Anarchisten .. 449
3. Ein Brief an Bebel 453
4. Kritik des Entwurfs des Erfurter Programms 455
5. Die Einleitung vom Jahre 1891 zu Marx’ „Der Bürgerkrieg in
Frankreich“ 462
6. Engels über die Überwindung der Demokratie 468
V. Kapitel. Die ökonomischen Grundlagen für das Absterben des
Staates 470
Inhaltsverzeichnis 555
1. Die Fragestellung bei Marx 470
2. Der Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus , 473
3. Die erste Phase der kommunistischen Gesellschaft 478
4. Die höhere Phase der kommunistischen Gesellschaft 482
VI. Kapitel. Die Vulgarisierung des Marxismus durch die Opportu-
nisten 489
4. Plechanows Polemik gegen die Anarchisten 490
2. Kautskys Polemik gegen die Opportunisten 491
3. Kautskys Polemik gegen Pannekoek 498
Nachwort zur ersten Auflage 507
Anmerkungen 509-537
Daten aus dem Leben und Wirken W. I. Lenins 539-547
ILLUSTRATIONEN
Erste Seite von W. I. Lenins Manuskript „Gerüchte von einer Ver-
schwörung“ - August 1917 249
Erste Seite von W. I. Lenins Brief an das Zentralkomitee der SDAPR -
30. August (12. September) 1917 293
Erste Seite von W. I. Lenins Manuskript „Die drohende Katastrophe
und wie man sie bekämpfen soll“ - 10.-14. (23.-27.) September
1917 329
Erste Seite von W. I. Lenins Manuskript „Staat und Revolution“ -
August-September 1917 394/395